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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
1. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung des Anklagegru ...
Erwägung 1.3
Bearbeitung, zuletzt am 30.08.2023, durch: DFR-Server (automatisch)
 
11. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden, Erster Staatsanwalt und B. (Beschwerde in Strafsachen)
 
 
6B_101/2022 vom 30. Januar 2023
 
 
Regeste
 
Art. 312 StGB; Amtsmissbrauch; besondere Nachteilsabsicht.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 149 IV 128 (128)A. C. und A. sind Polizeibeamte der Stadtpolizei U. Sie führten am 6. Juli 2013, um 02:30 Uhr, im Nachtclub V. in U. eine Polizeistundenkontrolle durch. Dabei kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen ihnen und dem Geschäftsführer B., anlässlich derer A. einen Pfefferspray einsetzte.
Mit Anklageschrift vom 24. Januar 2018 wirft die Staatsanwaltschaft Graubünden A. unter dem Titel des Amtsmissbrauchs i.S.v. Art. 312 StGB u.a. vor:
    Ziffer 1.1, Abs. 2:
    "B. drehte sich um und machte einen Schritt ins Innere des Lokals. Daraufhin drehte er sich nochmals zu den Polizisten um. In diesem Moment sprühte A. aus einer Distanz von ca. 50 cm einmal Pfefferspray gegen B. und traf diesen im Bereich zwischen Brust und Stirn, v.a. in den Mund. Er tat dies, obwohl in diesem Moment kein unmittelbarer Angriff von B. gegen die beiden Polizisten stattfand oder drohte und auch sonst keine Veranlassung dazu bestand, was A. wusste."
    Ziffer 1.4:
    "A. und C. übten durch ihr Vorgehen unverhältnismässigen Zwang aus und sie wussten dabei, dass sie B. durch ihr Vorgehen Nachteile zufügten. Sie verursachten bei B. Prellungen mit Schleifspuren am ganzen Körper, eine Kontusion des Daumens, eine Schulterdistorsion, eine leichteBGE 149 IV 128 (128) BGE 149 IV 128 (129)Fesselungslähmung, Rückenschmerzen sowie eine leichtgradige Verätzung der Augen. Sie nahmen durch ihr Vorgehen die Verletzungen von B. zumindest in Kauf."
B.
B.a Mit Urteil vom 17. Mai 2018 sprach das Regionalgericht Plessur A. von den Vorwürfen des Amtsmissbrauchs und der einfachen Körperverletzung frei.
B.b Mit Berufungsurteil vom 9. Juni 2021 sprach das Kantonsgericht von Graubünden A. betreffend die Anklageziffer 1.1 schuldig des Amtsmissbrauchs gemäss Art. 312 StGB und auferlegte ihm hierfür eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu Fr. 150.- sowie eine Busse von Fr. 450.-. Den Vollzug der Geldstrafe schob es auf bei einer Probezeit von 2 Jahren.
C. Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A. dem Bundesgericht, es sei das Berufungsurteil in den ihn belastenden Teilen aufzuheben und er sei vom Vorwurf des Amtsmissbrauchs freizusprechen. Weiter sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
Mit Verfügung vom 2. Februar 2022 wies die Abteilungspräsidentin das Gesuch um Erteilung der aufschiebenden Wirkung ab.
Die Staatsanwaltschaft und das Kantonsgericht verzichteten auf Vernehmlassung.
 
1.1 Er führt aus, beim Amtsmissbrauch nach Art. 312 StGB handle es sich um ein Absichtsdelikt: Gefordert sei die Absicht, sich oder einem Dritten einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder einem anderen einen unrechtmässigen Nachteil zuzufügen. Die Anklageschrift vom 24. Januar 2018 umschreibe nun aber nicht, welche unrechtmässigen Vorteile oder unrechtmässigen Nachteile der Beschwerdeführer durch den Einsatz des Pfeffersprays im Innern des Lokals beabsichtigt haben soll. In der Anklageschrift in Ziffer 1.1, Abs. 2 sei eine solche Absicht schlicht kein Thema. Es werde nichts zum subjektiven Tatbestand ausgeführt. In Ziffer 1.4 heisse es sodann einzig, die Polizisten hätten gewusst, dass sie dem Beschwerdegegner 2 durch ihr Vorgehen Nachteile zufügten. Alsdann folge eine Auflistung von Verletzungen, welche angeblich effektivBGE 149 IV 128 (129) BGE 149 IV 128 (130)zugefügt worden seien, von einer entsprechenden Absicht sei aber wiederum keine Rede. Aus den angeklagten Verletzungen lasse sich nun aber nicht auf die von Art. 312 StGB vorausgesetzte Absicht schliessen. Zudem ergebe sich aus der Anklageschrift nicht, welche Handlungen zu welchen Verletzungen geführt haben sollen, und erst recht nicht, welche Absicht der Beschwerdeführer mit dem Pfefferspray-Einsatz angeblich verfolgt haben soll. Indem die Vorinstanz den Beschwerdeführer trotzdem wegen Amtsmissbrauchs schuldig gesprochen habe, habe sie dem Schuldspruch ein subjektives Tatbestandselement - eben die Absicht, einen unrechtmässigen Vor- oder Nachteil zuzufügen - zugrunde gelegt, das in tatsächlicher Hinsicht nicht angeklagt worden sei. Die Ausführungen der Vorinstanz, wonach der Beschwerdeführer beim Einsatz des Pfeffersprays damit habe rechnen müssen, dass dies Schmerzen verursache und den Beschwerdegegner 2 erschrecke und demütige, fänden in der Anklageschrift keine Stütze. So sei nicht angeklagt worden, der Beschwerdeführer habe mit dem Pfefferspray-Einsatz beabsichtigt, dem Beschwerdegegner 2 Schmerzen zuzufügen, um ihn dadurch zu erschrecken und zu demütigen. Von einer Nachteilsabsicht sei in der Anklageschrift nichts zu lesen. Damit sei dem Beschwerdeführer ein schwerwiegender Informationsmangel entstanden: Er und seine Verteidigung hätten schlichtweg nicht wissen können, worauf sich seine Nachteilsabsicht beziehen sollte. Eine adäquate Verteidigung sei damit verunmöglicht worden.
 
Erwägung 1.3
 
1.3.1 Gemäss Art. 312 StGB machen sich Mitglieder einer Behörde oder Beamte, die ihre Amtsgewalt missbrauchen, um sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder einem andern einen Nachteil zuzufügen, des Amtsmissbrauchs schuldig. Amtsmissbrauch ist der zweckentfremdete Einsatz staatlicher Macht. Art. 312 StGB schützt einerseits das Interesse des Staates an zuverlässigen Beamten, welche mit der ihnen anvertrauten Machtposition pflichtbewusst umgehen, und andererseits das Interesse der Bürger, nicht unkontrollierter und willkürlicher staatlicher Machtentfaltung ausgesetzt zu werden (BGE 127 IV 209 E. 1b). Nicht nur der einen amtlichen Zweck verfolgende übermässige Zwang im weiteren Sinne stellt sich objektiv als zweckentfremdeter Einsatz staatlicher Macht dar, sondern ebenso der ohne ein solches Ziel erfolgende sinn- und zwecklose Zwang durch Missbrauch der amtlichen Machtstellung (BGE 127 IV 209 E. 1b). Mit anderen Worten genügt es, wenn der Beamte zwar legitime Ziele verfolgt, aber zur Erreichung derselben in unverhältnismässiger Weise Gewalt anwendet (BGE 127 IV 209 E. 1a/aa; BGE 113 IV 29 E. 1; BGE 104 IV 22 E. 2; Urteile 6B_518/2021 vom 8. Juni 2022 E. 1.1; 6B_1222/2020 vom 27. April 2021 E. 1.1; 6B_433/2020 vom 24. August 2020 E. 1.2.1). Amtsmissbrauch liegt damit etwa vor, wenn der Einsatz des Machtmittels zwar rechtmässig war, hierbei das erlaubte Mass an Zwang jedoch überschritten wurde (Urteile 6B_521/2021 vom 20. August 2021 E. 1.1.2; 6B_1212/2018 vom 5. Juli 2019 E. 2.3; 6B_391/2013 vom 27. Juni 2013 E. 1.3).
Der subjektive Tatbestand verlangt vorsätzliches Verhalten, zumindest Eventualvorsatz, und eine besondere Absicht, die in zwei alternativen Formen in Erscheinung treten kann, nämlich die Absicht, sich oder einem Dritten einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen, oder die Absicht, einem andern einen Nachteil zuzufügen (Urteile 6B_518/2021 vom 8. Juni 2022 E. 1.1; 6B_825/2019 / 6B_845/2019 vom 6. Mai 2021 E. 7.2; 6B_433/2020 vom 24. August 2020 E. 1.2.1; je mit Hinweisen). Die Nachteilsabsicht ist verwirklicht, sobald der Täter durch Vorsatz oder Eventualvorsatz eine nicht unerhebliche Benachteiligung verursacht (Urteile 6B_987/2015 vomBGE 149 IV 128 (131) BGE 149 IV 128 (132)7. März 2016 E. 2.6 mit Hinweisen; 6S.554/1992 vom 19. März 1993 E. 2b); Eventualabsicht genügt (zuletzt: Urteile 1C_32/2022 vom 14. Juli 2022 E. 3.3; 1C_446/2021 vom 24. März 2022 E. 5.3; 1C_439/2021 vom 17. Februar 2022 E. 4.2; vgl. auch Urteil 6B_1169/2014 vom 6. Oktober 2015 E. 2.1 mit Hinweisen). Ein solcher Nachteil kann etwa in einer unnötigen Kränkung oder Demütigung bestehen (Urteil 6B_521/2021 vom 20. August 2021 E. 1.4) oder in einer anderweitigen psychischen Destabilisierung (Urteil 6B_987/2015 vom 7. März 2016 E. 2.6). Nach der Rechtsprechung ist eine Benachteiligung anderer bereits anzunehmen, sobald der Täter übermässige Mittel einsetzt, auch wenn er ein legitimes Ziel verfolgt. Demzufolge ist das Motiv, aus dem der Täter handelt, für die tatbestandsmässige Absicht nicht relevant, sondern (erst) bei der Beurteilung des Verschuldens heranzuziehen (zuletzt: Urteile 6B_518/2021 vom 8. Juni 2022 E. 1.1; 6B_1222/2020 vom 27. April 2021 E. 1.1; 6B_1085/2017 vom 28. Mai 2018 E. 3.4; 6B_1012/2017 vom 23. März 2018 E. 1.1; 6B_923/2015 / 6B_955/2015 vom 24. Mai 2016 E. 2.2). In einem weiteren Fall hat das Bundesgericht festgehalten, dass ein durch den erzielten Zwang beim Einzelnen verursachter Nachteil genügen kann, wenn dieser zum Selbstzweck zugefügt wird (Urteil 6B_825/2019 / 6B_845/2019 vom 6. Mai 2021 E. 7.2 mit Hinweisen).
1.3.2 Die Frage, ob der vom Täter beabsichtigte Nachteil auch in der Zwangshandlung selbst liegen kann, wird von der aktuellen Literatur - soweit sie sich dazu äussert - einhellig bejaht (vgl. STEFAN HEIMGARTNER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 4. Aufl. 2019, N. 23 zu Art. 312 StGB; STRATENWERTH/BOMMER, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II: Straftaten gegen Gemeininteressen, 7. Aufl. 2013, § 59 Rz. 12; DONATSCH/THOMMEN/WOHLERS, Strafrecht IV, Delikte gegen die Allgemeinheit, 5. Aufl. 2017, § 120 S. 554; MARK PIETH, Strafrecht, Besonderer Teil, 2. Aufl. 2018, S. 341; FREY/OMLIN, Amtsmissbrauch - die Ohnmacht der Mächtigen, AJP 2005 S. 85 ff.; implizit BERNARD CORBOZ, Les infractions en droit suisse, Bd. II, 3. Aufl. 2010, N. 10 zu Art. 312 StGB, MARIO POSTIZZI, in: Commentaire romand, Code pénal, Bd. II, 2017, N. 31 zu Art. 312 StGB sowie DUPUIS UND ANDERE, CP, Code pénal, 2. Aufl. 2017, N. 25 zu Art. 312 StGB, wonach der Täter andere schädige, sobald er unverhältnismässige Mittel einsetze, auch wenn er ein legitimes Ziel verfolge; wohl auch TRECHSEL/VEST, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, Trechsel/Pieth [Hrsg.], 4. Aufl. 2021, N. 7BGE 149 IV 128 (132) BGE 149 IV 128 (133)zu Art. 312 StGB). Ansonsten, so die Begründung, wären physische Missbräuche, die keine weiteren negativen Folgen zeitigen, nicht strafbar (vgl. HEIMGARTNER, a.a.O., N. 23 zu Art. 312 StGB; STRATENWERTH/BOMMER, a.a.O., § 59 Rz. 12; a.M. noch JÖRG REHBERG, Delikte gegen die Allgemeinheit, 2. Aufl. 1996, § 101 S. 398, der diese Konsequenz für vertretbar hielt). An dieser Auffassung ist festzuhalten, wobei es für die Nachteilsabsicht nicht darauf ankommen kann, welchen Zweck der Täter anstrebt:
1.3.3 Die Art des Nachteils ist im Gesetz nicht genauer definiert. Durch den Wortlaut von Art. 312 StGB gedeckt sind damit bereits die durch den erzielten Zwang beim Einzelnen verursachten Nachteile (vgl. auch FREY/OMLIN, a.a.O., S. 85). Wie erwähnt, reicht eine unnötige Kränkung oder psychische Destabilisierung aus (E. 1.3.1). Erst recht muss dies für eine körperliche Misshandlung gelten (vgl. auch GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II: Straftaten gegen Gemeininteressen, 3. Aufl. 1984, § 57 Rz. 12). Dass der geforderten Absicht an sich in den Fällen körperlicher Misshandlung unter Umständen keine selbständige Bedeutung mehr zukommt (vgl. auch DONATSCH/THOMMEN/WOHLERS, a.a.O., § 120 S. 554), ist unerheblich. In diesem Sinne hat das Bundesgericht bereits in BGE 99 IV 13 entschieden; dort hat es festgehalten, dass der Polizeibeamte, der eine zu vernehmende Person unberechtigterweise schlägt und damit seine Befugnisse missbraucht, sich des Amtsmissbrauchs strafbar macht, weil er weiss, dass er andere auf diese Weise schädigt (E. 1; vgl. auch BGE 104 IV 23 E. 2b). Ebenso hat das Bundesgericht im Urteil 6B_699/2011 die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung, wonach der Faustschlag des fraglichen Polizisten nur dazu bestimmt gewesen sein konnte, die (fixierte) festgenommene Person körperlich zu verletzen und sie damit zu schädigen, als Amtsmissbrauch qualifiziert (Urteil 6B_699/2011 vom 26. Januar 2012 E. 1.3.2 f.). Ungeachtet dessen, ob er ein legitimes Ziel verfolgt, nimmt derjenige, der wissentlich und willentlich übermässigen amtlichen Zwang anwendet, einen nicht mehr durch die Amtspflicht gedeckten Nachteil des Betroffenen zumindest in Kauf (vgl. E. 1.3.1 hiervor).
1.4 Die Vorinstanz hat die Problematik der Umschreibung des subjektiven Tatbestands in der Anklageschrift erkannt. So führt sie aus, die Anklageschrift äussere sich "nur knapp zum subjektiven Tatvorwurf", nähere Ausführungen fehlten. Allerdings sei davon auszugehen, dass für den Beschwerdeführer keine Zweifel darüberBGE 149 IV 128 (133) BGE 149 IV 128 (134)bestünden, welches Verhalten ihm angelastet werde. Die Anklage umschreibe die erforderlichen subjektiven Tatbestandselemente "noch" in rechtsgenügender Weise. Der Beschwerdeführer habe erkennen können, welche Vorwürfe auch in subjektiver Hinsicht gegen ihn erhoben worden seien. Nichtsdestotrotz wäre es nach Auffassung der Vorinstanz "wünschenswert" gewesen, dass "auch nähere Ausführungen zum subjektiven Tatbestand explizit Eingang in die Anklage gefunden hätten". Was die Subsumtion im konkreten Fall anbelangt, erwog die Vorinstanz, der Beschwerdeführer sei sich seiner Sondereigenschaft als Beamter bewusst gewesen. Er habe (erstmalig) im Lokalinnern den Beschwerdegegner 2 "bewusst" mit Pfefferspray besprüht und damit rechnen müssen, "dass dies Schmerzen verursachen könnte" sowie den Beschwerdegegner 2 "erschreckt und gedemütigt". Er habe dabei zumindest in Kauf genommen, "seine Amtsgewalt zu missbrauchen" und damit dem Beschwerdegegner 2 "einen Nachteil zuzufügen". Letzterer habe "bereits in der Zwangshandlung selbst" bestanden, womit auch der subjektive Tatbestand erfüllt sei.