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Regeste
Sachverhalt
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. (Kognition.) ...
2. Nach Art. 12 Abs. 1 IVG hat ein Versicherter Anspruch auf medi ...
3. Zur Begründung seines Antrages beruft sich das BSV zun&au ...
4. Das BSV verweist ferner auf Art. 23 Abs. 2 und 3 IVV. Der Abs. ...
5. a) Unter Berufung auf BGE 97 V 54, BGE 101 V 194 und BGE 102 V ...
6. In der von Dr. Sch. dem Eidg. Versicherungsgericht eingereicht ...
7. Gegen eine Kostenteilung macht das BSV schliesslich noch "erhe ...
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62. Urteil vom 2. Dezember 1986 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Gafner und Versicherungsgericht des Kantons Bern
 
 
Regeste
 
Art. 12 und 13 IVG.
 
- Vollumfängliche Leistungspflicht der Invalidenversicherung bejaht in einem Fall, in welchem
 
-- mit einem einzigen operativen Eingriff gleichzeitig ein Geburtsgebrechen und ein anderes, grundsätzlich in den Bereich der Krankenversicherung gehörendes Gebrechen angegangen wird (Geburtsgebrechen Ziff. 355 und Leistenhernie);
 
-- die Behebung weder des einen noch des andern Gebrechens im Vordergrund steht;
 
-- der Eingriff für beide Gebrechen medizinisch indiziert ist;
 
-- durch die gleichzeitige Behebung beider Gebrechen keine Mehrkosten entstehen (Erw. 6 und 7).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 112 V 347 (348)A.- Der am 19. September 1980 geborene Peter Gafner litt gemäss Bericht des Kinderarztes Dr. Sch. vom 9. Februar 1982 an linksseitigem Kryptorchismus (Geburtsgebrechen Ziff. 355 der Geburtsgebrechenliste) und rechtsseitig an einer Inguinalhernie. Beide Anomalien wurden am 2. März 1982 durch Prof. K., Spezialarzt für Kinderchirurgie, in einer einzigen Operation, welche aus einer Herniotomie und einer Orchidopexie bestand, behoben. Am 29. Juli 1982 verfügte die Ausgleichskasse des Kantons Bern, dass für die Operation keine Kostengutsprache erteilt werde, weil der Eingriff primär wegen der Inguinalhernie erfolgt sei, diese aber in der Geburtsgebrechenliste nicht mehr figuriere.
B.- Beschwerdeweise machte Kinderarzt Dr. Sch. für den Versicherten geltend, der Hernienaustritt sei die direkte Folge des Kryptorchismus gewesen. Das Versicherungsgericht des Kantons Bern hob die Kassenverfügung mit Entscheid vom 3. Juli 1984 auf und verhielt die Invalidenversicherung, die Kosten der Orchidopexie zu übernehmen. Die Begründung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wenn der Kryptorchismus und nicht der Leistenbruch die primäre Indikation für medizinische Vorkehren sei, habe die Invalidenversicherung für die Behandlung des Kryptorchismus aufzukommen. Indessen sei es ausschliesslich eine medizinische Frage, wann der Kryptorchismus die primäre Indikation sei. Werde dieses Gebrechen beim Säugling aber nur beiläufig im Zusammenhang mit einer Hernienoperation behoben, so sei die Invalidenversicherung praxisgemäss nicht leistungspflichtig. Da aber die Invalidenversicherung die Kosten der Orchidopexie früher oder später ohnehin übernehmen müsste und von Gesetzes wegen gehalten sei, einfach und zweckmässig vorzugehen, sei nicht einzusehen, weshalb sie nicht auch dann grundsätzlich leistungspflichtig sei, wenn gleichzeitig eine Hernie operiert werde, "und sei es auch nur in Kostenteilung mit weiteren in Frage stehenden Kostenträgern". Eine solche Kostenteilung wäre für die InvalidenversicherungBGE 112 V 347 (348) BGE 112 V 347 (349)im Ergebnis günstiger. Die Invalidenversicherung habe deshalb die Kosten der Orchidopexie "(allenfalls in Kostenteilung mit weiteren Trägern, worüber noch zu verfügen sein wird)" zu übernehmen. In diesem Sinne hiess der kantonale Richter die Beschwerde gut.
C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides. Es verweist auf die Rechtsprechung, wonach bei zusammenhängenden Massnahmen, die einerseits Behandlungs- und anderseits Eingliederungscharakter haben, die Art und das Ziel aller Massnahmen zusammen für die Zuordnung zu einem Versicherungsträger ausschlaggebend seien. Im vorliegenden Fall habe die Behebung der Leistenhernie im Vordergrund gestanden, weshalb die Invalidenversicherung nicht leistungspflichtig sei. Für den Versicherten beantragt Dr. Sch. die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
 
Nach Art. 13 Abs. 1 IVG haben minderjährige Versicherte Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen. Die in Frage kommenden Geburtsgebrechen hat der Bundesrat im Anhang zur Verordnung über Geburtsgebrechen (GgV) bezeichnet.
Der Kryptorchismus ist in Ziff. 355 dieser Liste aufgeführt. Die früher unter Ziff. 303 ebenfalls in der GeburtsgebrechenlisteBGE 112 V 347 (349) BGE 112 V 347 (350)enthaltene Leistenhernie ist dagegen mit der am 1. Januar 1977 in Kraft getretenen Verordnungsänderung vom 29. November 1976 aus der Liste eliminiert worden. Dieses Leiden kann aber auch nicht unter dem Titel von Art. 12 IVG von der Invalidenversicherung übernommen werden, weil es sich dabei nicht um einen Gesundheitsschaden handelt, der als solcher eine Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG zur Folge hat.
Weil im vorliegenden Fall beide Gebrechen am 2. März 1982 gleichzeitig mit einer einzigen Operation angegangen wurden, stellt sich die Frage, ob die entsprechenden Kosten in ihrer Gesamtheit von der Krankenversicherung oder aber in Anwendung von Art. 13 IVG von der Invalidenversicherung zu übernehmen sind oder ob die Operationskosten nach einem noch zu bestimmenden Schlüssel auf beide Versicherungsträger aufzuteilen sind.
Dem ist entgegenzuhalten, dass sich der ganze Art. 2 IVV sinngemäss - in den Abs. 1-4 sogar ausdrücklich - nur auf den Art. 12 IVG bezieht, der hier gar nicht zur Anwendung gelangt. Auf den die Geburtsgebrechen und damit den Kryptorchismus betreffenden Art. 13 IVG nimmt die IVV erst in ihrem Art. 3 Bezug, der seinerseits auf die GgV verweist. Der Bestimmung von Art. 2 Abs. 5 IVV kann daher nicht ohne weiteres die Bedeutung eines allgemeinen, auch in den Fällen des Art. 13 IVG anwendbaren Grundsatzes beigemessen werden.
4. Das BSV verweist ferner auf Art. 23 Abs. 2 und 3 IVV. Der Abs. 2 dieser Bestimmung regelt den Anspruch des Versicherten auf Ersatz der Heilungskosten bei Unfällen, die sich im Verlauf von Abklärungs- oder Eingliederungsmassnahmen in einem SpitalBGE 112 V 347 (350) BGE 112 V 347 (351)oder einer Eingliederungsstätte ereignen, und Abs. 3 ordnet den Ersatz von Heilungskosten, die bei Erkrankung eines Versicherten während einer stationären Abklärungs- oder Eingliederungsmassnahme entstehen.
Aus diesen Verordnungsbestimmungen ergibt sich indessen lediglich, dass die Invalidenversicherung bezüglich der Übernahme sogenannter akzessorischer Heilbehandlungen, die nicht als Folgen von Eingliederungsmassnahmen, sondern nur anlässlich der Durchführung von solchen sich als notwendig erweisen, relativ grosszügig ist. Keiner der zitierten Bestimmungen lässt sich jedoch etwas Wesentliches zur Lösung der hier sich stellenden Frage entnehmen, ob bei einer gleichzeitig erforderlichen Behandlung von zwei von Anfang an selbständig nebeneinander bestehenden Leiden, von denen das eine in den Anwendungsbereich des IVG und das andere in denjenigen eines andern Sozialversicherungsgesetzes fällt und wobei durch die gleichzeitige Behandlung keine Mehrkosten entstehen, die Behandlungskosten insgesamt nur von einem oder vom andern Versicherungsträger zu übernehmen sind oder ob beide Versicherungsträger anteilmässig dafür aufzukommen haben. Ebensowenig lassen sich die vom BSV ebenfalls erwähnten Art. 36 und 103 UVG sowie Art. 126 und 128 UVV, die das Verhältnis der obligatorischen Unfallversicherung zu andern Sozialversicherungszweigen ordnen, mit dem vorliegenden Tatbestand vergleichen.
b) In BGE 97 V 54 ging es unmittelbar um die Anwendung von Art. 13 IVG und des damaligen, altrechtlichen Art. 1 Abs. 2 GgV, der wie folgt lautete: "Für die Behandlung der in der Liste gemäss Art. 2 mit einem (*) bezeichneten Gebrechen werden medizinische Massnahmen nicht gewährt, wenn im Einzelfall das Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist." Unter dieser rechtlichen Voraussetzung wurde im zitierten Urteil die Invalidenversicherung verpflichtet, die gesamte Behandlung des an einem leistungsbegründenden Geburtsgebrechen gemäss Art. 1 Abs. 2 GgV und an einem sekundären Geburtsgebrechen "von geringfügiger Bedeutung" leidenden Minderjährigen zu übernehmen, obschon sie für das sekundäre Gebrechen wegen seiner Geringfügigkeit nicht leistungspflichtig gewesen wäre, wenn dieses Gebrechen allein hätte behandelt werden müssen. Für das Gericht war entscheidend, dass in diesem Fall die Behandlung des sekundären Leidens derart eng mit derjenigen des Grundleidens verbunden war, dass sie nicht losgelöst von diesem hätte vorgenommen werden können, ohne die Erfolgsaussichten der Behandlung des Geburtsgebrechens (gemäss Art. 1 Abs. 2 GgV) zu gefährden.
Dem BGE 101 V 194 lag der Sachverhalt zugrunde, dass der Operateur anlässlich einer von der Krankenkasse zu übernehmenden Operation eines labilen pathologischen Geschehens (Appendektomie) zufällig ein symptomloses, an sich (noch) nicht behandlungsbedürftiges Geburtsgebrechen im Sinne der GgV entdeckte und routinemässig und ohne eigentliche Mehrkosten mittels der für die Behebung beider Gebrechen notwendigen Laparotomie gleichzeitig entfernte. Das Eidg. Versicherungsgericht verneinte den engen Sachzusammenhang beider Gebrechen in dem Sinne, dass das Geburtsgebrechen an sich noch gar nicht behandlungsbedürftig und seine Beseitigung auch im Hinblick auf die Behandlung des Hauptleidens nicht notwendig gewesen sei. Im Hinblick auf den geringfügigen, für die gleichzeitige Behebung des Geburtsgebrechens erforderlichen Mehraufwand erklärte jedoch das Gericht die Krankenkasse als vollumfänglich leistungspflichtig.
In BGE 102 V 40 fasste das Eidg. Versicherungsgericht die Rechtsprechung zu Art. 12 IVG wie folgt zusammen: "Muss sich ein Versicherter mehreren medizinischen Vorkehren mit verschiedenem Zweck unterziehen, so beurteilt sich deren rechtlicher Charakter danach, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.BGE 112 V 347 (352)
BGE 112 V 347 (353)Grundsätzlich sind alsdann Art und Ziel aller Vorkehren zusammen dafür ausschlaggebend, ob sie im Sinne der Rechtsprechung unter Art. 12 IVG subsumiert werden können. Dies jedenfalls dann, wenn sich die einzelnen Vorkehren nicht voneinander trennen lassen, ohne dass dadurch die Erfolgsaussichten gefährdet würden, und die einen Vorkehren für sich allein nicht von solcher Bedeutung sind, dass die andern Vorkehren in den Hintergrund treten. Ist diese enge Konnexität zu bejahen, so ist die Invalidenversicherung nur dann leistungspflichtig, wenn die auf die Eingliederung gerichteten Vorkehren überwiegen." In diesem Fall hat das Eidg. Versicherungsgericht den unmittelbaren Sachzusammenhang zwischen dem labilen Grundleiden (Emboliegefährdung) und dem sekundären Gebrechen (Hemiparese), das - für sich allein betrachtet - IV-rechtlichen medizinischen Massnahmen zugänglich wäre, bejaht, die Leistungspflicht der Invalidenversicherung jedoch verneint, weil der bloss stabilisierende Charakter aller Vorkehren eindeutig überwiege.
c) Den angeführten drei Entscheiden ist somit gemeinsam, dass zwar keine Kostenteilung erfolgte, wobei aber die ungeteilte Zuordnung zur Invalidenversicherung bzw. zur Krankenversicherung auf den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles beruhte. Es bleibt daher zu prüfen, ob auch im vorliegenden Fall besondere Umstände für ungeteilte Leistungspflicht, sei es der Invalidenversicherung oder aber - sofern vorhanden - der Krankenversicherung, sprechen.
Es bestanden somit im vorliegenden Fall der Kryptorchismus und die Leistenhernie bzw. deren operative Behebung gleichwertig nebeneinander. Keines der beiden Gebrechen stand im Vordergrund. Ebensowenig bestand eine Konnexität in dem Sinne, dass die Nichtbehandlung des einen Gebrechens die Behandlung des andern Gebrechens negativ beeinflusst hätte. Bei der Behebung des Kryptorchismus ging es darum, der Gefahr der Sterilität und der malignen Degeneration vorzubeugen; die Hernienoperation bezweckte, die durch die Hernie verursachten Beschwerden und allfällige damit verbundene weitere Gesundheitsschädigungen zu beheben. Ein enger Zusammenhang bestand nur in der Hinsicht, dass beide Gebrechen gleichzeitig und im gleichen körperlichen Bereich chirurgisch angegangen werden mussten und es deshalb aus medizinischer Sicht sinnlos und nicht zu verantworten gewesen wäre, wenn nebeneinander zwei selbständige Operationen - die eine zu Lasten der Invalidenversicherung und die andere zu Lasten der Krankenversicherung - durchgeführt worden wären.
Indessen ist zu beachten, dass die Krankenversicherung im Gegensatz zur Invalidenversicherung einerseits nicht obligatorisch ist und dass anderseits - falls überhaupt eine Krankenversicherung abgeschlossen worden ist - deren Leistungen u.U. wesentlich geringer sein können als diejenigen der Invalidenversicherung. Wenn also in einem Fall wie dem vorliegenden eine Kostenteilung zwischen Invalidenversicherung und Krankenversicherung (bzw. dem für Krankheit nicht versicherten Patienten) vorgenommen würde, so würde der Patient aus IV-rechtlicher Sicht insofern eine Benachteiligung erleiden, als die Invalidenversicherung für eine Operation, für die sie unter dem Titel des Geburtsgebrechens voll aufzukommen hätte, nur eine Teilleistung erbringen müsste. Damit hätte der Patient für die durch keine oder eine ungenügende Krankenversicherung ungedeckten Restkosten selber aufzukommen. Es liegt nun aber nicht im Sinne des Sozialversicherungsrechts, in einem Fall wie dem vorliegenden, der bei rein formeller Betrachtungsweise zwei verschiedene Lösungen zulassen würde, jener den Vorzug zu geben, welche dem Patienten den Anspruch auf die ihm grundsätzlich in vollem Umfang zustehende IV-rechtliche Deckung (effektiv oder auch nur potentiell) versagt. Vielmehr kommt in einem solchen Fall die ungeteilte Kostenzuweisung anBGE 112 V 347 (354) BGE 112 V 347 (355)die Invalidenversicherung sowohl dem Wesen dieser Versicherung als auch jenem des Krankenversicherungsrechts näher.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.
II. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 3. Juli 1984 und die Kassenverfügung vom 29. Juli 1982 werden aufgehoben und die Invalidenversicherung verpflichtet, für die genannten Operationskosten aufzukommen.BGE 112 V 347 (355)