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Regeste
Aus den Erwägungen:
Erwägung 1
2. Im angefochtenen Einspracheentscheid verneinte die Kasse den A ...
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38. Auszug aus dem Urteil i.S. Staatssekretariat für Wirtschaft gegen R. und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
 
 
C 249/04 vom 29. August 2005
 
 
Regeste
 
Art. 14 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 AVIG; Art. 13 Abs. 1bis AVIV: Kumulation von Tatbeständen für eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit.
 
 
BGE 131 V 279 (280)Aus den Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
2. Im angefochtenen Einspracheentscheid verneinte die Kasse den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, weil die Versicherte in der zweijährigen Rahmenfrist für die Beitragszeit vom 17. Februar 2002 bis 16. Februar 2004 weder eine Beitragszeit von mindestens 12 Monaten ausweisen konnte, noch ein Grund zur Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit vorlag. Es stellte sich somit dieBGE 131 V 279 (280) BGE 131 V 279 (281)Fra ge, ob R., welche im Zeitraum vom 17. Februar bis zum 29. November 2002 und somit nicht länger als ein Jahr ihre Mutter betreut hatte und vom 29. November 2002 bis zum 28. Februar 2003 ebenfalls während weniger als zwölf Monaten krank gewesen war, die Kumulation der Befreiungstatbestände der Krankheit (Art. 14 Abs. 1 lit. b AVIG) und des Wegfalls der Betreuung der pflegebedürftigen Mutter (Art. 14 Abs. 2 AVIG) geltend machen kann.
2.2 Die Vorinstanz hat zunächst dargelegt, fehlende Beitragszeiten könnten nicht mit Zeiten der Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit ausgefüllt werden, indem zur erlangten Beitragszeit weitere Monate unter Anwendung von Art. 14 AVIG hinzugerechnet würden (ARV 2004 Nr. 26 S. 270 Erw. 3.2). Das Institut der Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit sei letztlich Ausfluss einerseits des Verfassungsauftrags, wonach die Arbeitslosenversicherung grundsätzlich für alle Arbeitnehmenden obligatorisch sein soll, und andererseits "der zur Verfügung stehenden Beitragsinkasso-Organisation (AHV)". Wenn diese mit dem von ihr gesteckten Grundrahmen der Beitragspflicht die Arbeitnehmenden in all ihren verschiedenen Lebenslagen beitragsmässig nicht erfassen könne, bleibe - gewissermassen als Notlösung - nur die Beitragsbefreiung übrig. Hinter der Befreiungsregelung von Art. 14 Abs. 1 AVIG stehe grundsätzlich der Gedanke, dass die versicherte Person bei kürzeren Verhinderungen innerhalb der zweijährigen Rahmenfrist für die Beitragszeit durchaus genügend Zeit habe, um eine ausreichende beitragspflichtige Beschäftigung auszuüben. Beim Befreiungstatbestand von Art. 14 Abs. 2 AVIG sei entscheidend, dass die betroffene Person wegen des Eintritts des Ereignisses in eine wirtschaftliche Zwangslage gerate und deshalb zur Aufnahme einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit gezwungen sei. Der Schutzgedanke von Art. 14 Abs. 2 AVIG bestehe gemäss dem erwähnten Kreisschreiben in der Abfederung eines nicht voraussehbaren, unerwarteten Ereignisses.BGE 131 V 279 (281)
BGE 131 V 279 (282)Daraus schloss das kantonale Gericht, in der Annahme, dass die Versicherte tatsächlich aufgrund ihrer (durch den am 29. November 2002 erfolgten Umzug der Mutter ins Pflegeheim) verschlechterten wirtschaftlichen Verhältnisse gezwungen war, eine unselbstständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen, und dass sie krankheitsbedingt vom 29. November 2002 bis Ende Februar 2003 nicht in einem Arbeitsverhältnis stehen und Beitragszeiten erwerben konnte, wäre es ihr nach Wegfall der besonderen Lebensumstände (Pflege der Mutter, Krankheit) auch bei sofortiger Aufnahme einer beitragspflichtigen Beschäftigung ab 1. März 2003 nicht mehr möglich gewesen, innerhalb der Rahmenfrist für die Beitragszeit vom 17. Februar 2002 bis 16. Februar 2004 die notwendige Beitragszeit von 12 Monaten zu erfüllen. Werde die Zulässigkeit der Kumulation der Befreiungstatbestände nach Abs. 1 und 2 des Art. 14 AVIG verneint, könne demnach der grundsätzliche Zweck der Befreiungsnorm von Art. 14 AVIG, welcher darin bestehe, den Arbeitnehmenden auch bei durch besondere Lebensumstände oder Ereignisse bedingten Lücken der Beitragszeit den Versicherungsschutz nicht zu versagen, nicht mehr angemessen berücksichtigt werden. Die im besagten Kreisschreiben des seco festgeschriebene Verwaltungspraxis der unzulässigen Kumulation der Abs. 1 und 2 von Art. 14 AVIG sei deshalb nicht gesetzeskonform.
2.3 Demgegenüber argumentiert das seco, der Gesetzgeber habe tatsächlich für bestimmte Personengruppen auch ohne vorgängige Beitragszeit einen Versicherungsschutz gewollt. Die Befreiungstatbestände seien als Ausnahmeklausel jedoch grundsätzlich restriktiv auszulegen und im Verhältnis zur Beitragszeit subsidiär. Eine Kumulation der Befreiungstatbestände von Art. 14 Abs. 1 mit denjenigen von Abs. 2 AVIG falle ausser Betracht, weil im Fall von Art. 14 Abs. 2 AVIG an ein bestimmtes Ereignis angeknüpft werde. Der Schutzgedanke dieser Bestimmung bezwecke die Abfederung eines unerwarteten, zeitlich nicht voraussehbaren Ereignisses. Den Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 14 Abs. 2 AVIG liege eine andere Kausalität als den Befreiungstatbeständen gemäss Art. 14 Abs. 1 AVIG zu Grunde, weshalb die Kumulation nicht der gesetzgeberischen Absicht entsprechen könne. Im Weiteren seien mit dem seit 1. Juli 2003 neu geltenden Absatz 1bis von Art. 13 AVIV die "ähnlichen Gründe" unter Art. 14 Abs. 2 AVIG konkretisiert worden, indem beim Grund des Wegfalls der Betreuung von Pflegebedürftigen drei Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Namentlich müsseBGE 131 V 279 (282) BGE 131 V 279 (283)die Betreuung mehr als ein Jahr gedauert haben, wobei diese Konkretisierung den gesetzgeberischen Willen, die Beitragsbefreiung als Ausnahmeklausel restriktiv zu handhaben, erneut bestätigt habe. Beim Befreiungsgrund des Wegfalls der Betreuung von Pflegebedürftigen seien der Wegfall und die finanzielle Notwendigkeit die massgebenden Kriterien. Dieser Tatbestand sei, trotz neu vorgeschriebener Mindestdauer von einem Jahr, gesetzessystematisch bewusst unter Art. 14 Abs. 2 AVIG belassen und nicht unter Abs. 1 dieser Norm eingeordnet worden.
2.4 Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen. Zunächst ist festzuhalten, dass eine Kumulation der Befreiungsgründe nicht mit der Begründung ausser Betracht fallen kann, lediglich im Fall von Art. 14 Abs. 2 AVIG werde an ein bestimmtes, notwendigerweise zeitlich nicht voraussehbares Ereignis angeknüpft. Obwohl dies zutrifft, ist für die Erfüllung der gestellten Anforderungen sowohl gemäss Abs. 1 als auch nach Abs. 2 des Art. 14 AVIG das Vorliegen der einzelnen Kausalkomponenten massgebend. Dabei muss beim Befreiungsgrund nach Abs. 1 ein Kausalzusammenhang zwischen der Nichterfüllung der Beitragszeit und der Krankheit, im Fall von Abs. 2 zwischen dem Wegfall der Betreuung einer pflegebedürftigen Person und der finanziellen Notwendigkeit, eine unselbstständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen, gegeben sein (BGE 125 V 124 Erw. 2a). Insofern ist nicht einzusehen, aus welchem Grund nach der vom Beschwerdeführer vertretenen Auffassung die Kumulation auszuschliessen wäre, weil den Befreiungstatbeständen beider Bestimmungen unterschiedliche Kausalitäten zu Grunde liegen würden. Es trifft zwar zu, dass bei den Befreiungstatbeständen nach Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 AVIG unterschiedliche Wertungsanforderungen an die Kausalitätsfrage zu stellen sind. So wird im Rahmen von Art. 14 Abs. 2 AVIG kein strikter Kausalitätsnachweis im naturwissenschaftlichen Sinne verlangt, da ein solcher kaum je erbracht werden könnte. Vernünftigerweise ist der erforderliche Kausalzusammenhang in diesem Fall bereits zu bejahen, wenn es glaubwürdig und nachvollziehbar erscheint, dass der Entschluss des Versicherten, eine unselbstständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen, in dem als Befreiungsgrund in Frage kommenden Ereignis mit begründet liegt (BGE 121 V 344 Erw. 5c/bb mit Hinweis). Dies ändert allerdings nichts daran, dass auch im Fall einer Kumulation der zwei in Frage stehenden Befreiungsgründe zunächst für jeden einzelnen Tatbestand die Erfüllung der Voraussetzung des spezifischenBGE 131 V 279 (283) BGE 131 V 279 (284)Kausalzusammenhangs muss bejaht werden können. Ist somit jemand einerseits ausser Stande, aus bestimmten Gründen (hier Krankheit) eine Erwerbstätigkeit auszuüben, die ihm die erforderlichen Beitragszeiten verschaffen würde, und anderseits aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, eine Arbeit aufzunehmen, wenn sich ein bestimmter Sachverhalt erfüllt (hier Dahinfallen der Pflege der Mutter, verbunden mit einer hohen finanziellen Belastung infolge Heimaufenthalts der Mutter), ist nicht nachvollziehbar, warum diese versicherte Person schlechter gestellt sein soll als eine Versicherte, die zwei Tatbestände gemäss Art. 14 Abs. 1 AVIG erfüllt, deren Kumulation mit Bezug auf die Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit laut Weisung des seco zulässig sein soll.
Ferner ist zu beachten, dass der ab 1. Juli 2003 geltende Abs. 1bis von Art. 13 AVIV neu die Voraussetzung einer Mindestdauer stellt, indem die Betreuung der pflegebedürftigen Person mehr als ein Jahr gedauert haben muss. Art. 13 Abs. 1bis AVIV erscheint systemfremd, soweit in lit. c eine Betreuung von mehr als einem Jahr verlangt wird, Art. 14 Abs. 2 AVIG ansonsten aber Tatbestände zum Gegenstand hat, die nicht die Erfüllung bestimmter Mindestfristen voraussetzen, sondern an ein bestimmtes Ereignis anknüpfen. Insbesondere wird keine Mindestdauer der Ehe verlangt, deren Scheidung dazu führt, dass der Ehegatte eine Erwerbstätigkeit aufnehmen muss. Gleiches gilt für die Ehedauer im Fall des Todes des Ehegatten. Die auf Art. 14 Abs. 2 AVIG gestützte Ausführungsbestimmung müsste somit nicht zwingend eine Mindestbetreuungsdauer vorsehen. Anderseits entspricht es dem Wesen des Art. 14 AVIG als Ausnahmebestimmung, dass der Verordnungsgeber die "ähnlichen Gründe" gemäss Art. 14 Abs. 2 AVIG eng umschrieben und das zeitliche Element aufgenommen hat, weshalb denn auch nicht gesagt werden könnte, Art. 13 Abs. 1bis AVIV sei gesetzwidrig. Durch die Voraussetzung einer Mindestdauer unterscheidet sich der Befreiungsgrund von Art. 14 Abs. 2 AVIG von demjenigen des Art. 14 Abs. 1 AVIG jedoch nicht, schreibt Letzterer doch ebenfalls und generell vor, die versicherte Person müsse aus den unter lit. a, b und c genannten Gründen während insgesamt mehr als zwölf Monaten nicht in einem Arbeitsverhältnis gestanden haben. Dies führt dazu, dass die im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 AVIG geltende rechtsprechungsmässige Überlegung, bei kürzerer als zwölf Monate dauernder Verhinderung bleibe dem Versicherten während der zweijährigen Rahmenfrist genügend Zeit, um eine ausreichende beitragspflichtige BGE 131 V 279 (284) BGE 131 V 279 (285)Beschäftigung auszuüben (BGE 121 V 343 Erw. 5b; ARV 2004 Nr. 26 S. 270 Erw. 3.2), im Fall des "ähnlichen Grundes" eines Wegfalls der Betreuung einer pflegebedürftigen Person nach Art. 14 Abs. 2 AVIG spätestens seit Einführung der in Art. 13 Abs. 1bis lit. c AVIV enthaltenen Voraussetzung einer mehr als ein Jahr gedauert habenden Betreuung ebenfalls Anwendung findet. Zudem ist gesetzessystematisch aus der Einordnung von Art. 13 Abs. 1bis AVIV unter Art. 14 Abs. 2 AVIG nicht zu schliessen, die restriktive Handhabung einer Ausnahmeklausel treffe diese gesetzliche Beitragsbefreiungsbestimmung auf besondere Weise. Vielmehr erklärt sich diese gesetzessystematische Einordnung dadurch, dass sich das genannte zeitliche Erfordernis in Art. 14 Abs. 1 AVIG sinngemäss auf jeden unter lit. a bis c aufgeführten Grund zu beziehen hat, im Rahmen von Abs. 2 jedoch nur den spezifischen, einem zeitlich nicht voraussehbaren Ereignis entsprechenden Grund der Betreuung einer pflegebedürftigen Person betreffen kann.