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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Art. 21 Abs. 5 ATSG, in Kraft seit 1. Januar 2003 und auf die  ...
Erwägung 3
Erwägung 4
Erwägung 4.2
Erwägung 4.2.4
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1. Auszug aus dem Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen gegen M. und Versicherungsgericht des Kantons Aargau (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
 
 
I 910/05 vom 28. Juni 2006
 
 
Regeste
 
Art. 21 Abs. 5 ATSG; Art. 13 Abs. 1 MVG (in der vom 1. Januar 1994 bis 31. Dezember 2002 in Kraft gestandenen Fassung); Art. 43 MVG (in der bis 31. Dezember 1993 gültig gewesenen Fassung): Sistierung des IV-Rentenanspruchs bei Untersuchungshaft.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 133 V 1 (2)A. M., geboren am 6. November 1983, welche wegen den Folgen einer schon früh einsetzenden psychischen Fehlentwicklung mit Wirkung ab 1. Dezember 2001 in den Genuss einer ganzen Invalidenrente gelangt war, wurde am 4. Dezember 2004 in Untersuchungshaft gesetzt. Auf entsprechende Mitteilung ihres Beistandes vom 21. März 2005 verfügte die IV-Stelle des Kantons Aargau am 31. März 2005 die Sistierung der Invalidenrente ab 1. Januar 2005 und am 13. April 2005 die Rückforderung der von Januar bis März 2005 bereits bezogenen Rentenleistungen im Betrag von Fr. 4'299.-. Die gegen die Sistierung erhobene Einsprache wies die IV-Stelle mit Entscheid vom 29. April 2005 ab.
B. Die hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau unter Aufhebung des Einspracheentscheides vom 29. April 2005 und mit der Feststellung gut, dass der Versicherten auch während der Untersuchungshaft ein Anspruch auf Invalidenrente zustehe (Entscheid vom 21. Oktober 2005).
C. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides.
Während die IV-Stelle auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, lässt M., verbeiständet durch R. von der Amtsvormundschaft des Bezirks X., vertreten durch Advokat Dr.BGE 133 V 1 (2) BGE 133 V 1 (3)Roulet, den Antrag auf Abweisung stellen; für den Unterliegensfall wird um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung nachgesucht.
D. Am 28. Juni 2006 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht eine parteiöffentliche Beratung durchgeführt.
 
    "Befindet sich die versicherte Person im Straf- oder Massnahmevollzug, so kann während dieser Zeit die Auszahlung von Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter ganz oder teilweise eingestellt werden; ausgenommen sind die Geldleistungen für Angehörige im Sinne von Absatz 3."
Die Verfahrensbeteiligten sind sich uneins über die materiellrechtliche Bedeutung dieser Bestimmung. Es stellt sich die Frage, ob die Untersuchungshaft seit 4. Dezember 2004, welche gemäss Urteil des Strafgerichts Y. vom 27. April 2005 an die ausgesprochene Strafe von sieben Monaten und 16 Tagen Gefängnis angerechnet wurde, unter den gesetzlichen Sistierungsgrund des "Straf- oder Massnahmenvollzugs" fällt. Während IV-Stelle und beschwerdeführendes BSV dies bejahen, ziehen kantonales Gericht und Beschwerdegegnerin insbesondere aus dem Gesetzeswortlaut den Schluss (e contrario), Untersuchungshaft berühre - da keinen Straf- oder Massnahmevollzug darstellend - im Gegensatz zu diesem den laufenden IV-Rentenanspruch nicht.
 
Erwägung 3
 
3.1 Bis zum Inkrafttreten des ATSG verhielt es sich mit dem Rentenanspruch während strafrechtlich motivierten Inhaftierungen im Allgemeinen wie folgt: Während die ältere Rechtsprechung von einem Revisionsgrund analog alt Art. 41 IVG (aufgehoben auf den 31. Dezember 2002) ausging (BGE 110 V 286 E. 1b; BGE 107 V 219; ZAK 1981 S. 91), qualifizierte das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 113 V 273 die Inhaftierung als blossen Sistierungsgrund, was die Weiterausrichtung der Zusatzrenten erlaubt (BGE 114 V 143 [entsprechend dem zweiten, hier nicht zur Diskussion stehenden Teil der Satzverbindung von Art. 21 Abs. 5 ATSG], in der Folge bestätigt durch AHI 1998 S. 182; SVR 1995 IV Nr. 35BGE 133 V 1 (3) BGE 133 V 1 (4)S. 93; nicht veröffentlichtes Urteil vom 2. Februar 1988, I 373/86; vgl. auch BGE 129 V 216 E. 1.1). Der Strafverbüssung gleichgestellt hat die Rechtsprechung die Untersuchungshaft von gewisser Dauer ("d'une certaine durée"). Stellt sich die Untersuchungshaft im Nachhinein als ungerechtfertigt heraus, sind die sistierten Rentenbetreffnisse nicht nachzuzahlen; vielmehr stellen sie Teil des Schadens dar, welchen der zu Unrecht Verhaftete allenfalls auf dem Weg der Staatshaftung geltend machen kann (BGE 116 V 323). Ob der Rentenanspruch zu sistieren ist, beurteilt sich nach der Vollzugsart, und nicht etwa danach, wer für die Kosten des Unterhalts aufkommt (BGE 116 V 20).
    "Die Frage nach dem Schicksal von Geldleistungen stellt sich bei Freiheitsentzug immer wieder und verdient von daher eine Regelung in einem Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts. Der von uns vorgeschlagene Wortlaut hat seine Grundlage in Einklang mit der Rechtsprechung (BGE 113 V 273, BGE 114 V 143) in Art. 13 des neuen MVG vom 19. Juni 1992."
 
Erwägung 4
 
BGE 133 V 1 (5)
 
BGE 133 V 1 (6)Erwägung 4.2
 
 
Erwägung 4.2.4
 
4.2.4.1 Unter einem teleologischen Blickwinkel (Sinn und Zweck) - verbunden mit der Forderung nach rechtsgleicher BehandlungBGE 133 V 1 (6) BGE 133 V 1 (7)(Art. 8 Abs. 1 BV; zur Bedeutung der Rechtsgleichheit im Rahmen der Auslegung vgl. BGE 126 V 97 E. 4b mit Hinweisen; SVR 2006 IV Nr. 47 S. 172 E. 3.1 und 3.2 [Urteil vom 18. August 2005, I 68/02]) - rechtfertigt sich indessen, mit dem BSV, eine vom Wortlaut der Norm abweichende Betrachtungsweise. Als ratio legis von Art. 21 Abs. 5 ATSG ist die Gleichbehandlung der invaliden mit der validen inhaftierten Person, welche durch einen Freiheitsentzug ihr Einkommen verliert, anzusehen. Entscheidend ist, dass eine verurteilte Person wegen der Verbüssung einer Strafe an einer Erwerbstätigkeit verhindert ist. Nur wenn die Vollzugsart der verurteilten versicherten Person die Möglichkeit bietet, eine Erwerbstätigkeit auszuüben und somit selber für die Lebensbedürfnisse aufzukommen, verbietet es sich, den Rentenanspruch zu sistieren. Massgebend für eine Sistierung der Rentenleistungen eines Invaliden ist somit, ob eine nicht invalide Person in der gleichen Situation durch den Freiheitsentzug einen Erwerbsausfall erleiden würde. Bei Untersuchungshaft eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Lohnfortzahlung nach Art. 324a OR, da es sich in der Regel um eine selbstverschuldete Arbeitsverhinderung handelt. Erweist sich die Inhaftierung jedoch auf Grund eines Freispruchs oder einer Verfahrenseinstellung als ungerechtfertigt, so gilt die Arbeitsverhinderung im Sinne von Art. 324a OR als nicht verschuldet, ausser wenn falsche oder widersprüchliche Angaben des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin vor dem Untersuchungsrichter zu der Anklage oder Inhaftierung geführt haben. Beruht die Festnahme dagegen allein auf den Aussagen anderer Personen, kann die Verhinderung an der Arbeitsleistung nicht als selbstverschuldet erachtet werden (Urteil des Bundesgerichts vom 16. August 2001, 4C.74/2000; BRUNNER/BÜHLER/WAEBER/BRUCHEZ, Kommentar zum Arbeitsvertragsrecht, Basel 2005, S. 92; STREIFF/ VON KAENEL, Arbeitsvertrag, Praxiskommentar zu Art. 319-362 OR, 6. Aufl., Zürich 2006, N. 19 zu Art. 324a/b).
Hinzu kommt folgende Überlegung: In den meisten Fällen, in denen eine Untersuchungshaft von einer gewissen Dauer angeordnet wurde, erfolgt nachmals eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, wobei die Untersuchungshaft in aller Regel an die Freiheitsstrafe angerechnet wird (alt Art. 69 StGB [in Kraft bis 31. Dezember 2006] bzw. Art. 51 StGB [in Kraft ab 1. Januar 2007]). Die Untersuchungshaft ist damit im Ergebnis in den meisten Fällen zugleichBGE 133 V 1 (7) BGE 133 V 1 (8)ein Teil der Freiheitsstrafe, während welcher die Rente zu sistieren ist. Würde die Rente während der Untersuchungshaft nicht sistiert, würde sie im Ergebnis entgegen Art. 21 Abs. 5 ATSG auch während eines Teils der Freiheitsstrafe ausbezahlt.
4.2.4.2 Nach dem Gesagten ist der Rentenanspruch einer Person, die sich in Untersuchungshaft befindet, grundsätzlich zu sistieren, da auch eine gesundheitlich unbeeinträchtigte Person während dieser Zeit in der Regel einen Erwerbsausfall zu gewärtigen hat. Dies kann jedoch, wie das Eidgenössische Versicherungsgericht bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung erkannt hat (vgl. u.a. BGE 116 V 326 mit Hinweis), aus Praktikabilitätsgründen lediglich für Untersuchungshaft gelten, welche eine gewisse Zeit angedauert hat ("d'une certaine durée"). Diese "gewisse Dauer" der Untersuchungshaft, während der die Rente noch auszurichten ist, dürfte - in Anlehnung an die gemäss Art. 88a Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 IVV rentenrevisionsrechtlich massgebliche Zeitspanne der anspruchsbeeinflussenden Änderung der Verhältnisse - bis zu drei Monate betragen. Anders als im Falle eines erwerbstätigen Inhaftierten spielt sodann bei einem invaliden Untersuchungshäftling die Verschuldensfrage im Hinblick auf die Weiterausrichtung der Rente keine Rolle. Erweist sich die Inhaftierung im Nachhinein als zu Unrecht angeordnet, so bildet der Rentenverlust nach wie vor Teil des Schadens, den er bei der Behörde geltend machen kann, die ihn ungerechtfertigt inhaftiert hat (BGE 116 V 323; vgl. in diesem Sinne auch zu Art. 324a OR: STREIFF/VON KAENEL, a.a.O., N. 19 zu Art. 324a/b OR).
BGE 133 V 1 (9)4.4 Die Beschwerdegegnerin befand sich laut Urteil des Strafgerichts Y. vom 27. April 2005 seit 4. Dezember 2004 - und damit seit beinahe fünf Monaten - in Untersuchungshaft. Diese Zeitspanne entspricht ohne weiteres der nach dem Gesagten einen Rentensistierungsgrund darstellenden Untersuchungshaft von gewisser Dauer, weshalb die IV-Stelle den Rentenanspruch der Beschwerdegegnerin zu Recht ab 1. Januar 2005 eingestellt hat.BGE 133 V 1 (9)