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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 1
2. Nach Art. 58 Abs. 1 ATSG (in Verbindung mit Art. 1 UVG [SR 832 ...
Erwägung 3
Erwägung 4
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21. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. L. und K. gegen Visana Versicherungen AG, betreffend P. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
8C_769/2008 vom 18. März 2009
 
 
Regeste
 
Art. 100 Abs. 5 BGG; Art. 58 ATSG; Art. 28 UVG; Gerichtsstand für Beschwerden der Hinterlassenen.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 135 V 153 (154)A. Die 1966 geborene, in X. wohnhaft gewesene P. war bei der Visana Versicherungen AG (nachfolgend: Visana) obligatorisch gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen versichert. Am 10. Juli 2004 erlitt sie bei einem Messerstich in die Bauchgegend tödliche Verletzungen. Sie hinterliess ihren Ehemann sowie den Sohn K., die nach dem Tod der Ehefrau und Mutter den Wohnsitz in den Kanton Tessin verlegten. Mit Verfügung vom 22. März 2005 übernahm die Visana die Kosten für die Überführung der Leiche an den Bestattungsort und die Bestattungskosten. Einen Anspruch der Hinterbliebenen auf Versicherungsleistungen verneinte sie, da die Verstorbene sich die zum Tode führenden Verletzungen selbst zugefügt habe. Daran hielt die Visana mit Einspracheentscheid vom 4. Juli 2006 fest.
B. Das Versicherungsgericht des Kantons Tessin trat mit Entscheid vom 2. August 2007 auf die von den Hinterbliebenen gegen den Einspracheentscheid vom 4. Juli 2006 erhobene Beschwerde wegen örtlicher Unzuständigkeit nicht ein, da sich der letzte Wohnsitz der Verstorbenen nicht im Kanton Tessin, sondern im Kanton St. Gallen befunden habe. Gleichzeitig überwies es die Akten dem seiner Ansicht nach zuständigen Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen. Dieses trat mit Entscheid vom 30. Juli 2008 auf die Beschwerde mangels örtlicher Zuständigkeit ebenfalls nicht ein.
C. L. und K. lassen gegen die Entscheide der Versicherungsgerichte des Kantons Tessin vom 2. August 2007 und des Kantons St. Gallen vom 30. Juli 2008 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, es sei das für die Beurteilung der Sache örtlich zuständige kantonale Gericht zu bezeichnen.
Die Visana schliesst sich diesem Antrag mit dem Hinweis an, das Versicherungsgericht des Kantons Tessin sei für die materielle Beurteilung der Streitsache örtlich zuständig. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.BGE 135 V 153 (154)
BGE 135 V 153 (155)D. Die I. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat bezüglich der Rechtsfrage, ob Art. 58 Abs. 1 ATSG (SR 830.1) gegebenenfalls die Zuständigkeit des kantonalen Versicherungsgerichts am Wohnsitz der Hinterlassenen begründet, die Zustimmung der II. sozialrechtlichen Abteilung eingeholt (Art. 23 Abs. 2 BGG).
 
 
Erwägung 1
 
1.2 Nach dem im Abschnitt Rechtspflegeverfahren unter der Überschrift "Zuständigkeit" stehenden Art. 58 Abs. 3 ATSG überweist die Behörde, die sich als unzuständig erachtet, die Beschwerde ohne Verzug dem zuständigen Versicherungsgericht. Mit der Einreichung der Beschwerde bei der unzuständigen Behörde wird die Beschwerdefrist gewahrt (Art. 60 Abs. 2 ATSG i.V.m. Art. 39 Abs. 2 ATSG). Dabei kann das sich als unzuständig betrachtende kantonale Versicherungsgericht einen Nichteintretensentscheid erlassen oder sich darauf beschränken, die Sache an das als zuständig betrachtete Versicherungsgericht eines anderen Kantons weiterzuleiten. Unabhängig davon, ob das erste Gericht die Beschwerde formlos weiterleitet oder einen förmlichen Nichteintretensentscheid erlässt, welcher von der rechtsuchenden Person im Hinblick auf die vorgenommene Weiterleitung der Sache an das zweite Gericht unangefochten blieb, ist bei Verneinung der örtlichen Zuständigkeit in einem Nichteintretensentscheid des zweiten Gerichts im Rahmen des dagegen eingeleiteten Beschwerdeverfahrens die Zuständigkeit beider infrage kommenden Gerichte vom Bundesgericht ohne Bindung an den Nichteintretensentscheid des ersten kantonalen Gerichts zu prüfen.BGE 135 V 153 (155) BGE 135 V 153 (156)Da bei fehlender Zuständigkeit des zweiten Gerichts keine Instanz nach Art. 58 ATSG zur Verfügung stünde, kann bei einer solchen Verfahrenskonstellation die Rechtskraft des Nichteintretensentscheids des ersten kantonalen Gerichts nicht eintreten (ULRICH MEYER- BLASER, Die Rechtspflegebestimmungen des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG], HAVE 2002 S. 330; anders noch altrechtlich die Urteile des ehemaligen Eidg. Versicherungsgerichts U 356/01 vom 24. September 2002 und H 236/00 vom 29. Januar 2001, welche von der Nichtigkeit des ersten rechtskräftigen kantonalen Nichteintretensentscheids ausgingen). Massgebend für die Fristwahrung ist somit der am 14. August 2008 versandte Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 30. Juli 2008. Die Beschwerdeeinreichung erfolgte daher fristgerecht.
 
Erwägung 3
 
3.1 Das Versicherungsgericht des Kantons Tessin begründet seine örtliche Unzuständigkeit zur Behandlung der Beschwerde gegen den Einspracheentscheid vom 4. Juli 2006 im Wesentlichen damit, dass die Hinterlassenen nicht Dritte im Sinne von Art. 58 Abs. 1 ATSG seien. Zuständig sei daher das Gericht des letzten Wohnsitzkantons der versicherten Person und somit dasjenige am ehemaligenBGE 135 V 153 (156) BGE 135 V 153 (157)Wohnsitz der Verstorbenen. Dabei stützt es sich auf BGE 124 V 310, wo das damalige Eidg. Versicherungsgericht in E. 6c erwogen habe, dass im Bereiche der Unfallversicherung ein einheitlicher Gerichtsstand mit dem Anknüpfungspunkt am Wohnsitz der versicherten Person geschaffen werden sollte, und auf das Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 269/99 vom 3. Dezember 1999, auszugsweise in: RKUV 2000 S. 112, gemäss welchem die Hinterlassenen nicht als Betroffene im Sinne von aArt. 107 Abs. 2 UVG zu qualifizieren seien. Art. 58 Abs. 1 ATSG habe am bestehenden Rechtszustand nichts ändern wollen.
 
Erwägung 4
 
4.1 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente. Abzustellen ist dabei namentlich auf die Entstehungsgeschichte der Norm und ihren Zweck, auf die dem Text zu Grunde liegenden WertungenBGE 135 V 153 (157) BGE 135 V 153 (158)sowie auf die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Namentlich bei neueren Texten kommt den Materialien eine besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder ein gewandeltes Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger nahelegen. Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von Erlassen stets von einem Methodenpluralismus leiten lassen und nur dann allein auf das grammatische Element abgestellt, wenn sich daraus zweifelsfrei die sachlich richtige Lösung ergab (BGE 134 I 184 E. 5.1 S. 193; BGE 134 V 1 E. 7.2 S. 5; BGE 133 III 497 E. 4.1 S. 499).
4.4 Nach Art. 28 UVG haben der überlebende Ehegatte und die Kinder Anspruch auf Hinterlassenenrenten, wenn die versicherteBGE 135 V 153 (158) BGE 135 V 153 (159)Person an den Folgen des Unfalles stirbt. Sie besitzen kraft Gesetzes einen selbständigen Anspruch, der sich aber aus dem (unfallbedingten) Tod der versicherten Person ableitet. Davon ging auch das damalige Eidg. Versicherungsgericht in RKUV 2000 S. 112, U 269/99 aus. Mit Bezug auf die Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts hat es in diesem Urteil erwogen, da die Hinterlassenen somit nicht Versicherte im Sinne des Art. 1 UVG (neu: Art. 1a UVG) seien und auch nicht als "Betroffene" im Sinne von aArt. 107 Abs. 2 UVG gelten könnten, sei nicht an ihrem Wohnsitz anzuknüpfen. Die Beschwerde müsse daher beim kantonalen Gericht am Wohnsitz der (verstorbenen) versicherten Person erhoben werden.
4.6 So hat das Gericht in BGE 124 V 301 E. 6a/bb S. 312 erwogen, die Wortwahl in aArt. 107 Abs. 2 UVG sei klar auf die natürliche Person zugeschnitten, um deren Versicherungsleistungen es gehe oder deren Versicherteneigenschaft streitig sei. Dies bedeute, dass der Gesetzgeber einen einheitlichen Gerichtsstand mit dem Anknüpfungspunkt des Wohnsitzes der versicherten Person habe schaffen wollen. Damit werde auch dem Gedanken Rechnung getragen, dass sich sinnvollerweise diejenigen Gerichte mit einer Streitigkeit befassen sollten, die dem zu beurteilenden Sachverhalt räumlich am nächsten stünden. Der Wohnsitz der versicherten Person müsse daher auch dann massgebend sein, wenn diese nicht Beschwerde erhebe, sondern allein ein anderer Versicherer. Zum gleichen Ergebnis führte nach den Erwägungen des Gerichts auch die Entstehungsgeschichte der fraglichen Gerichtsstandsbestimmung. Zudem habe der Gesetzgeber einen einheitlichen Gerichtsstand schaffen undBGE 135 V 153 (159) BGE 135 V 153 (160)den bisherigen Wahlgerichtsstand (Wohnsitz des Klägers oder Sitz der Anstalt) fallen lassen wollen, um der Überlastung des Versicherungsgerichts am Sitz der SUVA und dem Nachteil der Versicherten, die örtlichen Verhältnisse nicht zu kennen und die Verhandlung in einer Sprache führen zu müssen, welche sie nicht verstehen, entgegenzuwirken (vgl. BGE 124 V 310 E. 6c S. 313). Nebst dem grammatikalischen und entstehungsgeschichtlichen Auslegungselement veranlasste sodann auch die Vermeidung von Mehrfachprozessen mit der Gefahr sich widersprechender Urteile das Gericht dazu, den Begriff "Betroffene" eng auszulegen und als örtlichen Anknüpfungstatbestand nach aArt. 107 Abs. 2 Satz 1 UVG allein den Wohnsitz der Person, um deren Versicherungsleistungen es geht oder deren Versicherteneigenschaft streitig ist, zu interpretieren (BGE 124 V 310 E. 6d/aa S. 314).
BGE 135 V 153 (161)4.9 Aus den Materialien zu Art. 58 ATSG ergibt sich, dass dessen Wortlaut im Wesentlichen aArt. 86 Abs. 3 KVG entliehen worden ist, weil es sinnvoll erschien, den in den meisten Sozialversicherungsbereichen geltenden Gerichtsstand am Wohnsitz des Beschwerdeführers als Grundsatz ins ATSG aufzunehmen (vgl. Bericht vom 26. März 1999 der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit, BBl 1999 4620 ad Art. 64 E-ATSG). In der Folge wurde die Bestimmung dann jedoch dahingehend angepasst, dass die zuständige kantonale Gerichtsinstanz nicht alternativ durch den Sitz der Versicherung, sondern ausschliesslich durch den Wohnsitz der versicherten Person bestimmt wird. Diese einschränkende Regelung wurde aus der Befürchtung heraus getroffen, die luzernischen Gerichte wegen des Sitzes der SUVA im Kanton nicht zunehmend mit Beschwerden zu belasten (AB 2000 S 184; AB 2000 N 650 f.). Dieselben Überlegungen lagen bereits aArt. 107 Abs. 2 UVG zugrunde (vgl. dazu BGE 124 V 310 E. 6c S. 313).
4.11 Zusammenfassend ergibt sich aufgrund des Wortlautes, der Entstehungsgeschichte sowie von Sinn und Zweck von Art. 58 Abs. 1 ATSG der Grundsatz, dass Verfahren vor derjenigen Instanz durchzuführen sind, zu welcher die Parteien den direktesten Bezug haben. Aufgrund des in allen Sprachregelungen insoweit übereinstimmenden Wortlautes wird dabei an den hauptsächlichen Sachverhalt angeknüpft, dass die versicherte Person selbst Beschwerde erhebt. Sie ist Partei im engeren Sinne und regelmässig auch primärerBGE 135 V 153 (161) BGE 135 V 153 (162)Verfügungsadressat. Partei im engeren Sinne sind auch die Hinterlassenen, die aus dem Unfallversicherungsgesetz direkt einen selbständigen Leistungsanspruch geltend machen. An die Beschwerdeführer war denn auch der Einspracheentscheid der Visana vom 4. Juli 2006 gerichtet. Sie gelten zwar selber nicht als versicherte Person, fallen jedoch ohne weiteres unter die Begriffe "autre partie" gemäss französischsprachigem Gesetzestext und "Dritte" im Sinne der deutschen und italienischen Sprachfassung. Durch die alternative Anknüpfung in Art. 58 Art. 1 ATSG können sie Beschwerde beim Versicherungsgericht des Wohnsitzkantons erheben. Sie stehen zudem im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung dem zu beurteilenden Sachverhalt räumlich am nächsten, zumal der zu fällende Entscheid auf die verstorbene (ehemals) versicherte Person keine Rechtswirkung mehr entfalten kann. Aufgrund des Wegfalls des Wohnsitzes der versicherten Person hat die Subsumtion des überlebenden Ehegatten und der Kinder der verstorbenen Person unter den Begriff Dritte ("autre partie") im Sinne der obigen Gesetzesbestimmung keine ungewollte Ausdehnung der Anknüpfungstatbestände zur Folge. Die Gefahr von Mehrfachprozessen allein, welche sich im vorliegenden Fall jedenfalls nicht stellt, rechtfertigt es nicht, die Hinterlassenen nicht unter den Begriff Dritte fallen zu lassen. Sollten in einem Fall aus dem gleichen Todesfall verschiedene Gerichte zuständig sein, worüber jedenfalls der Versicherer aufgrund der Beschwerdeerhebung gegen den von ihm erlassenen Einspracheentscheid informiert wäre, könnte zur Vermeidung von widersprüchlichen Gerichtsurteilen die Sistierung der in anderen Kantonen anhängig gemachten Prozesse verlangt werden.