11. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Gemeinde Nottwil (Beschwerde in öffentlich- rechtlichen Angelegenheiten) | |
9C_235/2015 vom 17. Dezember 2015 | |
Regeste | |
Art. 25a Abs. 5 KVG; Restfinanzierung der Pflegekosten.
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Eine kantonale Regelung, wonach die Gemeinden höchstens den für Vertragsleistungserbringer geltenden Restfinanzierungsbeitrag zu übernehmen haben, wenn und soweit diese geeignete Pflegeleistungen anbieten, hält sich innerhalb der den Kantonen in Art. 25a Abs. 5 KVG übertragenen Regelungskompetenz (E. 5.3).
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Sachverhalt | |
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B. Das Kantonsgericht des Kantons Luzern wies die Beschwerde von A. nach Durchführung eines doppelten Schriftenwechsels mit Entscheid vom 4. März 2015 ab.
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C. A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und unter Aufhebung des angefochtenen Urteils beantragen, die Gemeinde Nottwil sei zu verpflichten, "die Restfinanzierung für die von ihr in der Gemeinde Nottwil geleisteten Stunden gemäss den Empfehlungen des VLG zu entschädigen".
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Das kantonale Gericht verzichtet auf eine Vernehmlassung und beantragt unter Hinweis auf den angefochtenen Entscheid die Abweisung der Beschwerde. Die Gemeinde Nottwil reicht keine Stellungnahme ein.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Erwägung 1 | |
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2.1 Die Vorinstanz legte die Rechtsgrundlagen für die Restfinanzierungspflicht (Art. 25a Abs. 5 KVG und § 6 ff. des Gesetzes des Kantons Luzern vom 13. September 2010 über die Finanzierung der Pflegeleistungen der Krankenversicherung ![]() ![]() | |
Der Gemeinderat habe - im Rahmen seiner Kompetenz - ausdrücklich auch Pflegetarife für die Zeiten ausserhalb der von der Spitex geleisteten Einsatzzeiten festgelegt. Die Rüge, mit der unterschiedlichen Tariffestsetzung sei eine ausreichende Pflege in der Gemeinde nicht mehr gewährleistet, sei somit unbegründet. Schliesslich mache die Beschwerdeführerin zwar geltend, der Restfinanzierungsbeitrag müsse höher sein als der VLG-Tarif. Sie erbringe jedoch keinen Beweis für die ihr entstehenden höheren Kosten. Ohnehin wären höhere Tarife zwischen Leistungserbringern und VLG auszuhandeln und könnten nicht im Einzelverfahren durch Richterspruch festgelegt werden. Ein über dem für Vertragsleistungserbringer gültiger Beitrag könne nur entrichtet werden, wenn die Wohnsitzgemeinde der anspruchsberechtigten Person keine geeigneten Pflegeleistungen bei einem Vertragsleistungserbringer anbieten könne. Dies sei aktenmässig nicht ausgewiesen und werde auch von keiner Partei behauptet.
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2.2 Die Beschwerdeführerin rügt, wie bereits im vorinstanzlichen Verfahren, eine Verletzung ihres Anspruches auf Ersatz der Vollkosten (gemäss Art. 25a Abs. 5 Satz 2 KVG). Überdies verletze die vorinstanzlich geschützte Regelung der Beschwerdegegnerin auch die bundesrechtliche Vorgabe, wonach Kantone und Gemeinden eine umfassende Gewährung der Pflegeleistungen zu Hause sicherstellen müssen. Die Beschwerdegegnerin habe einzig mit der Spitex Buttisholz/Nottwil eine Vereinbarung abgeschlossen. Weil diese ![]() ![]() | |
Im Sinne eines Eventualantrages müssten zumindest die ausserhalb der Spitex-Öffnungszeiten erbrachten Leistungen höher entschädigt werden als zum VLG-Tarif. Die Vollkostenrechnung nach dem Finanzmanual des Spitex-Verbandes Schweiz als Grundlage der Empfehlungen des VLG basiere auf einer Durchschnittsberechnung zwischen "normalen" Öffnungszeiten und höher zu entschädigenden Randzeiten. Die Restkosten seien daher gestützt auf eine Vollkostenrechnung bezogen auf die Zeiten ausserhalb des Spitex-Betriebes zu erstatten. Soweit die Vorinstanz eine eingehende Prüfung der Vollkostenrechnung im Einzelfall von vornherein als zwecklos erachtet und darauf verzichtet habe, habe sie in mehrfacher Hinsicht Bundesrecht verletzt. Ohne vorgängige Ermittlung der spezifischen Kosten ausserhalb der Spitex-Betriebszeiten könnten die Empfehlungen des VLG nicht als ein in der kantonalen Legiferierungskompetenz liegender Pauschalentschädigungsansatz gesehen werden. Die für freiberufliche Pflegefachleute nicht kostendeckenden Tarife der Spitex Buttisholz/Nottwil führten dazu, dass freiberufliche Pflegefachpersonen während der Spitex-Zeiten keine Leistungen mehr anbieten und Anfragen von Klienten für diese Zeit abweisen würden, was die Wahlfreiheit faktisch aufhebe. Patienten in Nottwil, die ausserhalb der Spitex-Zeiten Pflege benötigten, müssten sowohl mit der Spitex als auch mit privaten Pflegefachpersonen zusammenarbeiten, was unnötigen administrativen Aufwand und unzumutbare Wechsel der Pflegenden bedinge. Für solche Patienten könne die Beschwerdegegnerin keine "geeigneten Pflegeleistungen" anbieten, weshalb nach § 8 Abs. 2 PFG die gesamten Leistungen nach den Empfehlungen des VLG zu entschädigen seien.
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Erwägung 3 | |
3.1 Seit Inkrafttreten der Neuordnung der Pflegefinanzierung am 1. Januar 2011 leistet einerseits die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) einen Beitrag an die Pflegeleistungen, welche aufgrund einer ärztlichen Anordnung und eines ausgewiesenen Pflegebedarfs ambulant oder im Pflegeheim erbracht werden (Art. 25a ![]() ![]() | |
3.2 Bislang fehlt eine genauere bundesrechtliche Regelung der Restfinanzierung ungedeckter Pflegekosten. Auch den Materialien lässt sich nichts Erhellendes entnehmen. Der Verweis auf die kantonale Zuständigkeit kam erst durch den Ständerat in das Gesetz über die Pflegefinanzierung (Votum Forster-Vannini, AB 2007 S 777; vgl. auch AB 2007 N 1785 f.). Das Bundesgericht hat in mehreren Urteilen präzisiert, den Kantonen stehe in der konkreten Ausgestaltung der Restfinanzierung ein weiter Ermessensspielraum zu. So könnten sie beispielsweise die Gemeinden damit beauftragen, den Leistungserbringern Auflagen zu erteilen oder Pauschaltarife festzulegen (BGE 138 I 410 E. 4.3 mit Hinweisen; Urteil 2C_728/2011 vom 23. Dezember 2011 E. 3.6). Die Kantone haben in Ausübung der ihnen übertragenen Kompetenzen die Restfinanzierung der ungedeckten Pflegekosten denn auch unterschiedlich umgesetzt. Nicht nur bezüglich der Zuständigkeit (welche meist beim Kanton liegt, teilweise - insbesondere im Kanton Luzern - aber auch an die Gemeinden delegiert wurde) und der Finanzierungslösungen (z.B. Defizitgarantie, Bestimmung eines Kostenmaximums, Globalbudget, leistungsbezogene Abgeltung pro Pflegestunde; vgl. Zusammenstellung des Spitex-Verbandes Schweiz vom Mai 2011, abrufbar unter www.spitex.ch), sondern insbesondere bei der Festlegung der Höchstgrenze der Beiträge der öffentlichen Hand an die Kosten für ambulante Pflege (sogenannte Normkosten; vgl. erläuternder Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates [SGK-SR] vom 1. September 2015 zur Parlamentarischen Initiative Nachbesserung der Pflegefinanzierung, Datenbank Curia Vista Nr. 14.417, Ziff. 2.4.3 S. 15; ROSENKRANZ/MEIERHANS, ![]() ![]() | |
Damit wird deutlich, dass die derzeitige Rechtslage in Bezug auf die kantonale Restkostenfinanzierung namentlich von den freiberuflichen Pflegefachpersonen als unbefriedigend und kompliziert, teilweise gar als unbillig empfunden wird. Es wird denn auch gefordert, Art. 25a Abs. 5 KVG sei in dem Sinn zu präzisieren, dass zum einen die Kantone zu verpflichten seien, sämtliche auf ihrem Gebiet anfallenden ausgewiesenen Restkosten für Pflegeleistungen vollumfänglich zu übernehmen, und zum andern der Bundesrat einheitliche Kriterien zur Festsetzung der Vollkosten wie auch zur Finanzierung ![]() ![]() | |
Es erstaunt wenig, dass im Zuge der Umsetzung der Pflegefinanzierung in den Kantonen auf eidgenössischer Ebene schon verschiedene, teilweise noch pendente Vorstösse zur Nachbesserung der bundesrechtlichen Regelung lanciert wurden (z.B. Standesinitiative "Ergänzung von Art. 25a KVG betreffend die Pflegefinanzierung", eingereicht vom Kanton Thurgau am 4. November 2013 [Dokumentation Curia Vista Nr. 14.317]; parlamentarische Initiative "Nachbesserung der Pflegefinanzierung", eingereicht von Ständerätin Egerszegi-Obrist am 21. März 2014 [Dokumentation Curia Vista Nr. 14. 417]). Im bereits zitierten erläuternden Bericht vom 1. September 2015 (E. 3.2 hiervor) kam auch die SGK-SR zum Schluss, "die Voraussetzungen für die Festlegung von angemessenen Normkosten [seien] zu verbessern", namentlich durch einheitliche Standards bei der Kostenrechnung, Durchsetzung eines transparenten Kostenausweises etc. Allerdings sah die Kommission diesbezüglichen Handlungsbedarf nicht beim Gesetzgeber auf Bundesebene, sondern bei den Leistungerbringern und den Kantonen (Bericht, Ziff. 2.4.3 S. 15).
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Das Bundesgericht hat ohnehin allein zu prüfen, ob das kantonale Gericht die Umsetzung der bundesrechtlichen Vorgaben durch die Beschwerdegegnerin zu Recht geschützt hat (E. 2 hiervor).
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Erwägung 4 | |
4.1 Im Kanton Luzern ist die Finanzierung der Pflegeleistungen gemäss Art. 25a Abs. 5 des KVG im PFG geregelt (vgl. E. 2.1 hiervor). § 3 PFG sieht vor, dass sich die Leistungserbringer an die vereinbarten oder festgelegten Beiträge und Tarife zu halten haben und für Pflegeleistungen keine weitergehenden Vergütungen berechnen dürfen. Gemäss § 7 PFG vereinbaren die Gemeinden mit einem oder mehreren Leistungserbringer(n) als Vertragsleistungserbringer die Höhe der von ihnen für ihre Einwohnerinnen und Einwohner zu übernehmenden Restfinanzierungsbeiträge (Abs. 1). Der Regierungsrat wird ermächtigt, die Grundsätze der Bestimmung des Restfinanzierungsbeitrages durch Verordnung festzulegen (Abs. 2). Bezieht eine anspruchsberechtigte Person Pflegeleistungen bei einem Leistungserbringer, mit welchem ihre Wohnsitzgemeinde keine Vereinbarung über den Restfinanzierungsbeitrag abgeschlossen hat, übernimmt die Gemeinde die ausgewiesenen Pflegekosten dieses ![]() ![]() | |
Erwägung 5 | |
5.1 Soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Wirtschaftsfreiheit geltend macht, kann ihr nicht gefolgt werden. Im Rahmen der OKP besteht nach den zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz kein unbeschränkter Anspruch der Leistungserbringer auf Entschädigung ihrer Vollkosten. Namentlich verschafft die Wirtschaftsfreiheit keinen Anspruch der (freiberuflichen) Leistungserbringer, zu Lasten der sozialen Krankenversicherung in beliebiger Höhe Leistungen zu erbringen (BGE 130 I 26 E. 4.5 S. 43). Gesetz- und Verordnungsgeber haben im Bereich der OKP im Gegenteil zahlreiche Preis- und Zulassungsbeschränkungen wie Tarife, Höchstpreise und Fallpauschalen statuiert, die nicht überschritten werden dürfen (BGE a.a.O.; vgl. auch BGE 141 V 206). Wie dargelegt (vorangehende E. 3.2 hiervor) fehlt bislang eine bundesrechtliche Normierung der Restfinanzierung. In BGE 141 V 446 E. 7.4 S. 454 hat das Bundesgericht erwogen, eine nicht kostendeckende Entschädigung freischaffender Pflegefachleute (dort im Bereich der Wochenbettpflege) widerspräche klar der Intention des Gesetzgebers, die ambulante gegenüber der stationären Pflege zu favorisieren. Dass eine Unterbezahlung freischaffender Pflegefachleute - nebst einer nicht durch das Gesetz gedeckten Überwälzung nicht gedeckter Pflegekosten auf die Versicherten unter dem Titel "Betreuung" (vgl. ![]() ![]() | |
Abgesehen davon, dass es nach derzeit geltendem Recht nicht nur in der kantonalen Regelungshoheit liegt zu bestimmen, nach welchem Modell die Restfinanzierung erfolgt (E. 3.3 hiervor), sondern auch wie hoch die sog. Normkosten angesetzt werden (vorangehende E. 3.2), fehlt es hier bereits an einer genügend substantiierten Rüge. Die Beschwerdeführerin begründet nicht, inwiefern ihre ausgewiesenen Kosten (gemäss § 8 Abs. 3 Satz 2 PFG) höher sind als die Vollkosten gemäss den Empfehlungen des VLG, welche ihr ausserhalb der "Spitex-Zeiten" - weiterhin - vergütet werden. Diesbezügliche Weiterungen erübrigen sich.
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5.2 Der Einwand, die Vorinstanz habe in Verletzung von Art. 25a KVG erwogen, durch den Vertragsabschluss mit einer einzigen, zeitlich lediglich eingeschränkt verfügbaren Leistungserbringerin sei eine umfassende Grundversorgung auf dem Gemeindegebiet der Beschwerdegegnerin sichergestellt, ist ebenfalls unbegründet. Unbestritten beinhaltet die streitige Regelung der Beschwerdegegnerin eine Entschädigung der Beschwerdeführerin während der Betriebszeiten der Spitex Buttisholz/Nottwil nach dem für diese gültigen Tarif, ausserhalb dieser Zeiten, wie bis anhin, nach den höheren Ansätzen gemäss den Empfehlungen des VLG. Die Festsetzung unterschiedlicher Tarife je nachdem, ob eine Vereinbarung zwischen einem Gemeinwesen und einem Vertragsleistungserbringer besteht oder nicht, hat zwar zur Folge, dass freiberuflichen Pflegefachpersonen, die keinen solchen Vertrag abgeschlossen haben, nur bei Einsatzzeiten die (kantonal definierten) Vollkosten vergütet werden, für welche kein Vertragsleistungserbringer verpflichtet wurde. Konkret werden der Beschwerdeführerin - gemäss § 8 Abs. 2 PFG - nur für Tätigkeiten in den Randzeiten (zwischen 17.30 Uhr abends und 07.00 Uhr morgens) die Vollkosten vergütet. Damit steht ausser Frage, dass die streitige Regelung in § 8 PFG grundsätzlich eine Versorgung im ambulanten Pflegebereich rund um die Uhr gewährleistet und sich einer Finanzierung ambulanter Pflegeleistungen ausserhalb der "Spitex-Zeiten" nicht verschliesst. Somit sind Pflegeleistungen zu allen Tages- und Nachtzeiten abgedeckt und Art. 25a KVG ist nicht verletzt. Wie praxistauglich eine kantonale (oder kommunale) Regelung ist, die für die Hauspflege eine unterschiedliche ![]() ![]() | |
6. Die Vorgaben der Restfinanzierung der öffentlichen Hand gemäss Art. 25a Abs. 5 letzter Satz KVG sind somit nicht verletzt. Es ist nicht Sache des Bundesgerichts, eine administrativ und personell aufwändige, gewisse Leistungserbringer benachteiligende kantonale oder kommunale Regelung abzuändern. Dies obliegt vielmehr dem Gesetzgeber. ![]() |