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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
Erwägung 4
Erwägung 5
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
17. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Dienststelle für Industrie, Handel und Arbeit (DIHA) gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
8C_432/2021 vom 20. Januar 2022
 
 
Regeste
 
Art. 65 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit; Art. 8 Abs. 1 lit. c AVIG; Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung eines unechten Grenzgängers.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 148 V 209 (210)A. Der 1969 geborene italienische Staatsangehörige A. arbeitete als Bauarbeiter in der Schweiz seit seiner Einreise am 23. April 2019 bis zu seiner Anmeldung bei der Arbeitslosenversicherung am 19. November 2019. Zu diesem Zweck war er im Besitze einer Kurzaufenthaltsbewilligung L EU/EFTA für die ganze Schweiz, zuletzt befristet bis zum 13. April 2021. Sein letzter Einsatz für das Unternehmen "B. AG" endete am 14. November 2019 mit Zusicherung einer erneuten Anstellung im Frühjahr 2020. A. wurde von der Arbeitslosenversicherung per 6. April 2020 abgemeldet, nachdem er (in der Schweiz) wieder bei der gleichen Arbeitgeberin erwerbstätig geworden war. Mit Verfügung vom 13. Mai 2020 verneinte die Dienststelle für Industrie, Handel und Arbeit (DIHA) des Kantons Wallis einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung von A., da er als echter Grenzgänger nicht anspruchsberechtigt sei. Daran hielt die DIHA mit Einspracheentscheid vom 30. November 2020 fest.
B. Die dagegen geführte Beschwerde hiess das Kantonsgericht Wallis mit Urteil vom 25. Mai 2021 in dem Sinne gut, als es in Aufhebung des Einspracheentscheids vom 30. November 2020 feststellte, dass A. die Anspruchsvoraussetzung des Wohnsitzes in der Schweiz erfülle. Es wies die Sache zur Prüfung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen an die DIHA zurück.
C. Die DIHA führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, es sei das angefochtene Urteil aufzuheben und festzustellen, dass die Anspruchsvoraussetzung des Wohnens in der Schweiz nicht erfüllt sei. Weiter sei festzustellen, dass Arbeitslosenkasse und DIHA ihrer Beratungs- und Auskunftspflicht in gehöriger Weise nachgekommen seien.BGE 148 V 209 (210)
BGE 148 V 209 (211)A. schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Die DIHA lässt sich dazu am 22. Juli 2021 vernehmen und reicht nach Abschluss des Schriftenwechsels am 24. August 2021 weitere Unterlagen ein. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) hat auf eine Stellungnahme verzichtet.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
 
Erwägung 2
 
Vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage (Art. 95, Art. 106 Abs. 1 BGG) ist, welche Kriterien für die Bezeichnung des Ortes des gewöhnlichen Aufenthalts massgebend sind. Die konkreten Umstände, die demnach zur Begründung des Wohnorts heranzuziehen sind, betreffen eine Tatfrage; diesbezügliche Feststellungen der Vorinstanz binden das Bundesgericht demnach grundsätzlich (vgl. ARV 2016 S. 227, 8C_60/2016 E. 3.2.1).
(...)
 
Erwägung 4
 
4.1 Es liegt ein länderübergreifender Sachverhalt vor, der auf der Grundlage von Art. 8 FZA (SR 0.142.112.681) und Art. 1 Abs. 1 Anhang II FZA in Verbindung mit Art. 11 ff. der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vomBGE 148 V 209 (211) BGE 148 V 209 (212)29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (SR 0.831.109.268.1; nachfolgend: VO Nr. 883/2004) und den diese konkretisierenden Vorgaben der Verordnung (EG) Nr. 987/ 2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO Nr. 883/2004 (SR 0.831.109.268.11; nachfolgend: VO Nr. 987/ 2009) zu beurteilen ist. Die entsprechenden Bestimmungen finden in der Arbeitslosenversicherung durch den Verweis in Art. 121 Abs. 1 lit. a AVIG (SR 837.0) Anwendung.
Ein Arbeitsloser, der kein Grenzgänger ist und nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben (Art. 65 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004).
4.3 Unter Vorbehalt der gemeinschafts- bzw. abkommensrechtlichen Vorgaben ist es Sache des innerstaatlichen Rechts, die Anspruchsvoraussetzungen festzulegen (vgl. BGE 141 V 246 E. 2.2 mit Hinweisen). Nach schweizerischem Recht wird gemäss Art. 8 AVIG für den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung unter anderem nach dessen Abs. 1 lit. c vorausgesetzt, dass der Versicherte in der Schweiz wohnt. Dies ist Ausdruck des im Arbeitslosenversicherungsrecht geltenden Verbots des Leistungsexports und des grundlegenden Prinzips der persönlichen Verfügbarkeit (THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 2319 Rz. 180). Der innerstaatliche Begriff des Wohnens stimmt vom Wortlaut her mit dem gemeinschaftsrechtlichen nach Art. 1 Bst. j VO Nr. 883/2004 überein, der darunter den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person versteht (NUSSBAUMER, a.a.O., S. 2319 f. Rz. 182). Dieser befindet sich an demjenigen Ort, an dem eine Person den Mittelpunkt ihrer LebensführungBGE 148 V 209 (212) BGE 148 V 209 (213)hat. Seine nähere Bestimmung kann von subjektiven oder objektiven Umständen abhängen, das heisst vom Willen der betreffenden Person oder von den äusserlichen Lebensumständen, die notfalls auch gegen den erklärten Willen ins Feld geführt werden können. Das Gemeinschaftsrecht lässt die Frage, wie der Wohnort zu bestimmen ist, weitgehend offen und überantwortet die nähere Definition dem jeweiligen nationalen Recht (vgl. zum Ganzen: BGE 138 V 533 E. 4.2 mit Hinweisen; ARV 2016 S. 227, 8C_60/2016 E. 2.4.2).
Für die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzung des Wohnens nach Art. 8 Abs. 1 lit. c AVIG genügt somit ein tatsächlicher oder "gewöhnlicher" Aufenthalt in der Schweiz mit der Absicht, diesen Aufenthalt während einer gewissen Zeit aufrechtzuerhalten und hier in dieser Zeit auch den Schwerpunkt der Lebensbeziehungen zu haben (BGE 115 V 448 E. 1b i.f. S. 449; SVR 1996 ALV Nr. 77 S. 235, C 1/96 E. 3a; Urteil 8C_658/2012 vom 15. Februar 2013 E. 3 mit Hinweisen). Entscheidend dafür sind - in Anlehnung an die Rechtsprechung zum Wohnsitz nach Art. 23 ZGB (Urteil 5A_663/2009 vom 1. März 2010 E. 2.2.2) und in Relativierung des soeben zu Art. 1 Bst. j VO Nr. 883/2004 Gesagten - objektive Kriterien, während der innere Wille der betreffenden Person nicht ausschlaggebend ist (BGE 138 V 533 E. 4.2 mit Hinweisen; ARV 2016 S. 227, 8C_60/2016 E. 2; vgl. ferner BORIS RUBIN, Commentaire de la loi sur l'assurance-chômage, 2014, N. 11 zu Art. 8 AVIG). Keinesfalls genügt es für die Bejahung eines gewöhnlichen Aufenthalts, wenn sich der Bezug zur Schweiz auf die regelmässige Rückkehr zwecks Erfüllung der Kontrollvorschriften beschränkt (SVR 2006 ALV Nr. 24 S. 82, C 290/03 E. 6.3).
 
Erwägung 5
 
Ob die Vorinstanz hieraus ohne Bundesrecht zu verletzen schliessen durfte, dass der Beschwerdegegner grösstenteils in der Schweiz lebte und hier seinen Lebensmittelpunkt hatte, braucht indessen nicht abschliessend geklärt zu werden, wie sich aus den nachstehenden Erwägungen ergibt.
5.3 Wie bereits dargelegt (vorstehende E. 4.2), haben unechte Grenzgänger gemäss Art. 65 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004 bei Vollarbeitslosigkeit Anspruch auf Leistungen des letzten Tätigkeitsstaates, sofern sie nicht in ihren Wohnmitgliedstaat zurückkehren und sich in diesem Staat der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stellen (vgl. DERN, a.a.O., N. 19 f. zu Art. 65 VO Nr. 883/2004 S. 311; MAXIMILIAN FUCHS, in: Europäisches Sozialrecht, 7. Aufl. 2018, N. 8 und 15 zu Art. 65 VO Nr. 883/2004). Unechte Grenzgänger, die in der Schweiz beschäftigt waren und ihren Wohnort im Ausland haben, können somit gestützt auf das in Art. 65 VO Nr. 883/2004 festgehaltene Wahlrecht ihren Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung in der Schweiz geltend machen. Bei Ausübung dieses Wahlrechts wird gemäss Kreisschreiben des SECO über die Auswirkungen der Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und 987/2009 auf die Arbeitslosenversicherung (KS ALE 883), Ziff. A88 f. lediglich vorausgesetzt, dass sich die betreffende Person im Staat, in dem sie die Leistungen beansprucht, der öffentlichen Arbeitsvermittlung zur Verfügung stellt. Zuständig sind diejenigen Durchführungsstellen (RAV, Arbeitslosenkasse), in deren Tätigkeitsgebiet der vormalige AufenthaltsortBGE 148 V 209 (214) BGE 148 V 209 (215)der betreffenden Person lag. Um in der Schweiz als letzter Beschäftigungsstaat Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung erheben zu können, muss der unechte Grenzgänger seinen Wohnort demnach gerade nicht aufgeben und in die Schweiz übersiedeln (vgl. KS ALE 883 Ziff. A24 f., A29 und A90). Durch den Bezug von Arbeitslosenentschädigung in der Schweiz verliert er seinen Status als unechter Grenzgänger nicht (vgl. KS ALE 883 Ziff. D25 und 26), ansonsten fände Art. 65 VO Nr. 883/2004 durch das Zusammenfallen von Wohn- und Beschäftigungsort keine Anwendung und das eigentliche Wahlrecht würde ausgehebelt (DERN, a.a.O., N. 1 zu Art. 65 VO Nr. 883/2004 S. 306 und KS ALE 883 Ziff. A90).
Fehl geht somit die Auffassung der Beschwerdeführerin unter Hinweis auf Art. 65 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004 und das soeben zitierte Urteil 8C_186/2017, dass es unerheblich sei, ob es sich um einen echten Grenzgänger (Tages- und Wochenpendler) oder um einen unechten Grenzgänger (keine wöchentliche, aber gelegentliche Rückkehr in den Wohnstaat) handle, da sich bei beiden der Leistungsanspruch nach dem Recht des Wohnstaates richte. Dabei übersieht sie das soeben skizzierte Wahlrecht des unechten Grenzgängers. Hinsichtlich seines Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung nach Schweizer Recht ist es daher vorliegend unerheblich, ob der Beschwerdegegner in der Schweiz seinen Lebensmittelpunkt hatte und damit seinen gewöhnlichen Aufenthalt.BGE 148 V 209 (215)