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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
3. Streitig und zu prüfen ist, ob der Rückforderungsans ...
4. Nachdem auch das BSV geltend macht, die (Weiter-)Ausrichtung d ...
Erwägung 5
Erwägung 5.2
Erwägung 6
Bearbeitung, zuletzt am 07.09.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
18. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Ausgleichskasse des Kantons Thurgau gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
9C_32/2021 vom 5. April 2022
 
 
Regeste
 
Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG; Art. 23 Abs. 4 lit. a AHVG; Rückerstattung unrechtmässig bezogener Rentenleistungen; Auslösung der Verwirkungsfrist.
 
Im konkreten Fall Fristauslösung mit zumutbarer Kenntnisnahme der leistungserbringenden Behörde. Massgeblich ist der Zeitpunkt, in welchem die Wiederverheiratung des Bezügers einer Witwerrente Eingang in die Akten der Ausgleichskasse fand, nachdem bezüglich des von Gesetzes wegen erloschenen Rentenanspruchs keine ungeklärten Aspekte vorhanden waren. Eines "zweiten Anlasses" bedarf es unter diesen Umständen nicht (E. 6).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 148 V 217 (218)A.
A.a Der 1970 geborene A. bezog ab 1. November 2009 eine ordentliche Witwerrente (Verfügung vom 23. Dezember 2009). Am 13. Mai 2019 sprach ein Herr B. am Schalter der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau (nachfolgend: Ausgleichskasse) vor und teilte mit, er komme im Auftrag des A.; dieser habe am 11. Juni 2015 wieder geheiratet. Nach Abklärungen, welche die erneute Eheschliessung bestätigten, forderte die Ausgleichskasse Rentenleistungen von insgesamt Fr. 38'340.- (vom 1. Juli 2015 bis 31. Mai 2019) zurück (Verfügung vom 21. Mai 2019).
A.b Auf Einsprache des A. hin reduzierte die Ausgleichskasse ihre Rückforderung auf Fr. 14'670.-. Sie hielt fest, die AHV-ZweigstelleBGE 148 V 217 (218) BGE 148 V 217 (219)der Gemeinde C. (nachfolgend: AHV-Zweigstelle) habe bereits am 23. Dezember 2016 von der Wiederverheiratung erfahren; am 27. Dezember 2016 sei eine entsprechende Mutationsmeldung erfolgt. Da sich die Verwaltung dieses Wissen anrechnen lassen müsse, sei der am 21. Mai 2019 verfügte Rückforderungsanspruch verwirkt. Indessen habe A. seine Meldepflicht verletzt, indem er die Zivilstandsänderung verspätet gemeldet habe. Daher könnten immerhin die vom 1. Juli 2015 bis 31. Dezember 2016 bezogenen Leistungen zurückgefordert werden (Einspracheentscheid vom 18. Dezember 2019).
B. Die dagegen erhobene Beschwerde des A. hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 18. November 2020 teilweise gut. Es änderte den Einspracheentscheid vom 18. Dezember 2019 dahingehend ab, dass A. zur Rückzahlung zu viel ausgerichteter Witwerrenten von lediglich Fr. 9'815.- verpflichtet werde. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab.
C. Die Ausgleichskasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Rückforderung der Witwerrenten für die Periode vom 1. Juli 2015 bis 31. Mai 2019 auf Fr. 38'340.- festzulegen.
A. lässt beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen; eventualiter sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau verlangt ebenfalls Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) schliesst auf deren Gutheissung.
D. Die II. und die I. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts haben ein Verfahren nach Art. 23 BGG durchgeführt.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
 
Erwägung 2
 
 
Erwägung 5
 
5.1.1 Einerseits ist, wie erwähnt, unter der Wendung "nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat" derBGE 148 V 217 (221) BGE 148 V 217 (222)Zeitpunkt zu verstehen, in welchem die Verwaltung bei Beachtung der gebotenen und zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen, oder mit anderen Worten, in welchem sich der Versicherungsträger über Grundsatz, Ausmass und Adressat des Rückforderungsanspruchs hätte Rechenschaft geben müssen (BGE 146 V 217 E. 2.1; BGE 122 V 270 E. 5a; BGE 119 V 431 E. 3a).
 
Erwägung 5.2
 
5.2.1 Was das Verhältnis dieser beiden Grundsätze betrifft, so verschob sich die Gewichtung zusehends zum Prinzip des "zweiten Anlasses" hin, welches in der Folge zum Regelfall wurde (vgl. BGE 124 V 380 E. 1; BGE 122 V 270 E. 5b/aa; RtiD 2013 II S. 342, 9C_ 744/2012 E. 6.3; Urteil I 308/03 vom 22. September 2003). Dem liegt die bereits in BGE 110 V 304 erkannte Entwicklung zugrunde (vgl. E. 4.2 hiervor), dass es der verfügenden Amtsstelle mit Blick auf die zunehmende Masse der von ihr vorzunehmenden Verwaltungshandlungen immer weniger zumutbar ist, jeden einzelnen ihrer Schritte im Detail zu überprüfen und ihre Fehler zeitnah erkennen zu können (so auch: MICHAEL E. MEIER, Bemerkungen zum Urteil 9C_625/2019 vom 18. Mai 2020 = BGE 146 V 217, SZS 2021 S. 150). Im hier interessierenden Kontext ist eine Privilegierung der Verwaltung in diesem Sinne insbesondere dort anzunehmen, wo die unrichtige Leistungsausrichtung zwar aus den Akten ersehen werden kann oder könnte, eine Rückforderung aber daran scheitert, dass hinsichtlich deren Umfang oder anderer relevanterBGE 148 V 217 (222) BGE 148 V 217 (223)Aspekte nähere Abklärungen notwendig sind (statt vieler: Urteile 9C_200/2021 vom 1. Juli 2021 E. 6.3 und 9C_132/2018 vom 14. Mai 2018 E. 4). Demnach genügt es für den Beginn der relativen einjährigen Verwirkungsfrist nicht, dass bloss Umstände bekannt sind, die möglicherweise zu einem Rückforderungsanspruch führen können, oder dass der Anspruch nur dem Grundsatz nach, nicht aber in masslicher Hinsicht feststeht. Die Frist beginnt vielmehr erst dann, wenn der Versicherungsträger über sämtliche für die Ermittlung der Rückforderung wesentlichen Umstände Kenntnis hat bzw. unter Anwendung der zumutbaren Aufmerksamkeit haben müsste ("zweiter Anlass"), indem vor allem die Gesamtsumme der unrechtmässig ausbezahlten Leistungen bereits vor Erlass der Rückerstattungsverfügung feststellbar ist (vgl. dazu schon: BGE 112 V 180 E. 4a; ferner: Urteile 9C_544/2018 vom 5. Februar 2019 E. 8.2 und 8C_ 349/2015 vom 2. November 2015 E. 6).
5.2.2 Parallel dazu hat das Bundesgericht stets daran festgehalten, dass die einjährige relative Verwirkungsfrist im Zeitpunkt der zumutbaren Kenntnisnahme einsetzen kann (vgl. etwa: BGE 119 V 431 E. 3b; Urteile 9C_241/2018 vom 2. April 2019 E. 3 und 9C_ 534/2009 vom 4. Februar 2010 E. 3.4). Die Verwaltung soll zwar eine angemessene Zeit für nähere Abklärungen (betreffend Grundsatz, Ausmass oder Adressat) erhalten, wenn und soweit sie über hinreichende, aber noch unvollständige Hinweise auf einen möglichen Rückforderungsanspruch verfügt. Unterlässt sie dies, so ist der Beginn der relativen Verwirkungsfrist auf den Zeitpunkt festzusetzen, in welchem die rückfordernde Behörde ihre unvollständige Kenntnis mit dem erforderlichen und zumutbaren Einsatz derart zu ergänzen im Stande war, dass der Rückforderungsanspruch hätte geltend gemacht werden können (statt vieler: BGE 112 V 180 E. 2b; SVR 2001 IV Nr. 30 S. 93, I 609/98 E. 2e; Urteil 9C_ 511/2017 vom 6. September 2017 E. 2). Ergibt sich jedoch die Unrechtmässigkeit der Leistungserbringung direkt aus den Akten, so beginnt die einjährige Frist in jedem Fall sofort, ohne dass Zeit für eine weitere Abklärung zugestanden würde (Urteile 9C_454/2012 vom 18. März 2013 E. 4, nicht publ. in: BGE 139 V 106, aber in: SVR 2013 IV Nr. 24 S. 66; K 70/06 vom 30. Juli 2007 E. 5.1, nicht publ. in: BGE 133 V 579, aber in: SVR 2008 KV Nr. 4 S. 11; 9C_589/2020 vom 8. Juli 2021 E. 2.2 mit Hinweis). Im Urteil 9C_ 241/2018 vom 2. April 2019 hielt das Bundesgericht denn auch explizit fest, dass sich Änderungen im Zivilstand (WiederverheiratungBGE 148 V 217 (223) BGE 148 V 217 (224)eines Witwerrentenbezügers respektive Scheidung eines IV-Rentners mit Zusatzrente für die Ehefrau) offenkundig auf den Rentenanspruch auswirken und somit einen unmittelbar zur Rentenrückforderung Anlass gebenden Sachverhalt bilden.
 
Erwägung 6
 
Die AHV-Zweigstelle untersteht, wie die Vorinstanz zutreffend erwogen hat, der direkten Aufsicht und Weisungsbefugnis der kantonalen Ausgleichskasse (vgl. § 6 Abs. 3 des Einführungsgesetzes des Kantons Thurgau vom 12. Juni 2013 zu den Bundesgesetzen über die Alters- und Hinterlassenenversicherung und über die Invalidenversicherung [EG AHVG/IVG; RB 831.1]). Daher muss sich die Beschwerdeführerin das Wissen der AHV-Zweigstelle über die Wiederverheiratung des Beschwerdegegners unbestritten anrechnen lassen ("Was die Zweigstelle weiss, das weiss auch die Ausgleichskasse."; BGE 140 V 521 E. 6).
6.2 Die Beschwerdeführerin sprach dem Beschwerdegegner in der Verfügung vom 23. Dezember 2009, welche unangefochten in Rechtskraft erwuchs, eine Witwerrente zu. Mit der Wiederverheiratung des Beschwerdegegners am 11. Juni 2015 erlöschte der an sich berechtigte Rentenanspruch (vgl. Art. 23 Abs. 4 lit. a AHVG), womit die Leistungsausrichtung (nachträglich) objektiv unrechtmässig wurde. Dannzumal konnte der Beschwerdeführerin jedoch kein allfälliger erster Fehler vorgeworfen werden, indem sie die Rentenleistungen weiterhin ausrichtete, war doch eine Meldung über die Wiederverheiratung seitens des Beschwerdegegners noch gar nicht erfolgt. Sodann kommt dem Zivilstandsregister, welches aus Sicht der Verwaltung eine Informationsquelle hätte bilden können, keine mit dem Handelsregister vergleichbare Publizitätswirkung zu. Von einem entsprechenden Eintrag musste die Beschwerdeführerin somit nicht wissen (BGE 139 V 6 E. 5.1; SVR 2002 IV Nr. 2 S. 5, I 678/00 E. 3b). Indessen fand die Zivilstandsänderung des Beschwerdegegners, welche grundsätzlich einen unmittelbar zur RentenrückforderungBGE 148 V 217 (224) BGE 148 V 217 (225)Anlass gebenden Sachverhalt bilden kann (vgl. E. 5.2.2 hiervor), aufgrund der von den Parteien thematisierten Meldepflichtverletzung erst - aber immerhin - im Dezember 2016 Eingang in die Akten. Ab diesem Zeitpunkt waren betreffend den von Gesetzes wegen bereits im Juni 2015 weggefallenen Anspruch auf eine Witwerrente keine ungeklärten Aspekte (mehr) offen, welche die Rückforderung respektive den Beginn der einjährigen relativen Verwirkungsfrist um eine angemessene Zeit nach hinten hätten verschieben können (vgl. Urteil 9C_454/2012 vom 18. März 2013 E. 4, nicht publ. in: BGE 139 V 106, aber in: SVR 2013 IV Nr. 24 S. 66). Mit anderen Worten ergab sich der Rückforderungstatbestand schon Ende Dezember 2016 in jeder Hinsicht direkt aus den Akten, ohne dass weiterer Abklärungsbedarf bestanden hätte. Die somit in diesem Moment vorhandene zumutbare Kenntnisnahme muss sich die Beschwerdeführerin anrechnen lassen, was nach dem Gesagten unmittelbar zur Auslösung der relativen Verwirkungsfrist nach Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG führt (vgl. E. 5.2.2 hiervor). Eines "zweiten Anlasses" bedarf es unter diesen Umständen nicht.