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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 3
Erwägung 3.2
Erwägung 6
Erwägung 6.2
Erwägung 6.2.3
Erwägung 6.2.4
Erwägung 7
Bearbeitung, zuletzt am 26.10.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
27. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Helsana Unfall AG gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
8C_621/2021 vom 18. Mai 2022
 
 
Regeste
 
Art. 10 Abs. 3 UVG (in der seit 1. Januar 2017 geltenden Fassung); Art. 18 Abs. 2 lit. a UVV (in der seit 1. Januar 2017 geltenden Fassung); Hilfe und Pflege zu Hause; Art. 53 und Art. 56 Abs. 1 Satz 2 UVG; Spitex-Tarifvertrag (in der seit 1. Januar 2019 geltenden Fassung); Kostenübernahmepflicht für Leistungen nach Art. 18 UVV.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 148 V 311 (312)A. Die 1958 geborene A. erlitt am 21. Juli 2007 einen Autounfall, bei dem sie sich eine inkomplette Tetraplegie (C7) zuzog. Aufgrund der lähmungsbedingten Einschränkungen ist sie dauerhaft auf Betreuungs- und Pflegemassnahmen angewiesen. Diese werden durch ihren Lebenspartner sowie durch die Spitex B. erbracht. Als zuständiger Unfallversicherer entschädigte die Helsana Unfall AG (fortan: Helsana) die Hauspflege. Am 23. Januar 2019 teilte sie A. mit, ab 1. Januar 2019 dürfe sie keine Leistungen der Spitex B. mehr entschädigen, da diese dem Tarifvertrag nicht beigetreten sei. Mit Verfügung vom 6. Juni 2019 stellte die Helsana die Leistungen für den monatlichen Pflegeaufwand der Spitex B. von Fr. 1'876.50 auf Ende Dezember 2018 ein, da die Pflege durch eine gegenüber dem Unfallversicherer nicht abrechnungsberechtigte Spitex erbracht worden sei. Die dagegen erhobene Einsprache wies die Helsana ab (Einspracheentscheid vom 6. November 2019).
B. Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden hiess die dagegen erhobene Beschwerde der A. in dem Sinne gut, dass es den angefochtenen Einspracheentscheid vom 6. November 2019 aufhob und die Angelegenheit zur Abklärung des unfallbedingten, durch den Verein Spitex zu erbringenden Pflege- und Hilfebedarfs von A.BGE 148 V 311 (312) BGE 148 V 311 (313)zu Hause und gestützt darauf zu neuem Entscheid über die A. gemäss Art. 18 Abs. 1 und Abs. 2 UVV (SR 832.202) zustehenden Pflege- und Hilfekosten für die Zeit ab 1. Januar 2019 an die Helsana Unfall AG zurückwies. Im Übrigen trat es auf die Beschwerde nicht ein (Urteil vom 28. Juni 2021).
C. Die Helsana führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Urteils sei der Einspracheentscheid vom 6. November 2019 zu bestätigen.
A. lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Der Verein Spitex B. hat ebenso wie das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
 
Erwägung 3
 
 
Erwägung 3.2
 
3.2.2 Gemäss dem im 2. Kapitel unter dem Titel "Zusammenarbeit und Tarife" stehenden Art. 56 Abs. 1 UVG können die Versicherer "mit den Medizinalpersonen, den medizinischen Hilfspersonen, den Spitälern, den Kuranstalten sowie den Transport- und Rettungsunternehmen vertraglich die Zusammenarbeit regeln und die Tarife festlegen. Sie können die Behandlung der Versicherten ausschliesslich den am Vertrag Beteiligten anvertrauen. Wer im ambulanten Bereich die Bedingungen erfüllt, kann dem Vertrag beitreten". In der französischen und italienischen Textfassung lautet die Bestimmung: "Les assureurs peuvent passer des conventions avec les personnes exerçant une activité dans le domaine médical, le personnel paramédical, les hôpitaux, les établissements de cure et les entreprises de transport ou de sauvetage afin de régler leur collaboration et de fixer les tarifs. Ils peuvent confier le traitement des assurés aux seuls signataires de ces conventions. Quiconque remplit les conditions posées dans le secteur ambulatoire peut adhérer à ces conventions." resp. "Gli assicuratori possono stipulare convenzioni con le persone esercitanti una professione sanitaria, con il personale paramedico, con gli ospedali e con le case di cura nonché con le imprese di trasporto e di salvataggio, al fine di regolare la collaborazione e fissare le tariffe. Essi possono affidare la cura degli assicurati esclusivamente ai convenzionati. L'adesione alla convenzione è aperta a chiunque soddisfi le condizioni richieste nell'ambito ambulatorio".
Der am 1. Januar 2019 gestützt darauf in Kraft getretene, hier interessierende Spitex-Tarifvertrag wurde abgeschlossen zwischen dem Verband Spitex Schweiz, dem Verband Association Spitex privée Suisse (ASPS) und der Medizinaltarif-Kommission UVG (MTK), der Militärversicherung (MV) und der Invalidenversicherung (IV).BGE 148 V 311 (314)
BGE 148 V 311 (315)(...)
 
Erwägung 6
 
 
Erwägung 6.2
 
Der versicherten Person steht unter den zugelassenen Organisationen das Wahlrecht nach Art. 10 Abs. 2 UVG zu. Unter der Annahme,BGE 148 V 311 (315) BGE 148 V 311 (316)dass das Zustandekommen und die Anwendung von Zusammenarbeits- und Tarifverträgen mit Vertragsorganisationen (auch im ambulanten Bereich) die Regel bildet (vgl. nachstehende E. 6.2.3.1), richtet sich die Höhe der Entschädigungspflicht des Unfallversicherers nach der Tarifvereinbarung. Es gilt eine einheitliche Vergütung für alle Versicherten, indem die gleichen Taxen zu berechnen sind (Art. 56 Abs. 4 UVG). Dass die zugelassenen Leistungserbringer regelmässig auch Mitglieder von Vertragsorganisationen sind, spiegelt sich auch insofern in Art. 12 Abs. 4 Spitex-Tarifvertrag wider, als erbrachte Leistungen von Nichtvertragsorganisationen von den Versicherern grundsätzlich nicht vergütet werden. Das verwendete Wort "grundsätzlich" relativiert die Aussage aber und lässt Ausnahmen zu.
Herrscht dennoch ein vertragsloser Zustand, liegt es in der bundesrätlichen Kompetenz, die erforderlichen Vorschriften nach Anhörung der Parteien zu erlassen (Art. 56 Abs. 3 UVG). Damit soll das Funktionieren der Unfallversicherung gewährleistet werden, und sich ein tarifloser Zustand nicht zuungunsten der Versicherten auswirken. Gleichzeitig darf die Regelung des Bundesrates weder für den Leistungserbringer noch den Unfallversicherer von Vorteil sein (PÄRLI/KUNZ, a.a.O., N. 24 zu Art. 56 UVG).
 
Erwägung 6.2.3
 
6.2.3.1 Was die Gesetzesmaterialien angeht, wird zu Art. 56 UVG in der bundesrätlichen Botschaft vom 18. August 1976 zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung (BBl 1976 III 205 Ziff. 404.2) erläutert, dass die Versicherungsträger im Interesse einer geordneten und nicht allzu kostspieligen Durchführung die Behandlung der Verunfallten ausschliesslich Medizinalpersonen und Heilanstalten übertragen können, mit denen sie die Zusammenarbeit geregelt und die Tarife festgelegt haben. Dies wirke sich in der Praxis kaum einschränkend auf die Wahlfreiheit aus, da erfahrungsgemäss fast alle Medizinalpersonen und Heilanstalten den Verträgen mit den Versicherungsträgern beitreten würden.
6.2.3.2 Daraus erhellt, dass im Zentrum des gesetzgeberischen Willens die vertragliche Regelung der Zusammenarbeit und der Tarife zwischen Leistungserbringer und Unfallversicherer steht, mit dem Ziel einer effektiven Zusammenarbeit und einer möglichst kostengünstigen Behandlung. Indem der Gesetzgeber davon ausging, dass fast alle Leistungserbringer den Tarifverträgen beitreten würden,BGE 148 V 311 (316) BGE 148 V 311 (317)beabsichtigte er jedenfalls nicht, die Wahlfreiheit der Versicherten hinsichtlich Leistungserbringer wesentlich einzuschränken. Mit dieser sich aus den Materialien ergebenden Regelungsabsicht des Gesetzgebers wäre es nicht vereinbar, die Leistungs- bzw. Kostenvergütungspflicht des Unfallversicherers gänzlich zu verneinen, wenn der Leistungserbringer kein Tarifvertragspartner ist. Die Ansicht der Beschwerdeführerin stimmt demnach nicht mit dem Willen des Gesetzgebers überein.
 
Erwägung 6.2.4
 
6.2.4.1 Die gesetzessystematische Einordnung dieser Bestimmung macht überdies deutlich, dass weder Art. 56 UVG noch Tarifverträge normative Vorgaben über die Leistungspflicht der Versicherungsträger beinhalten, wie die Vorinstanz bereits zutreffend darlegte. Die normativen Voraussetzungen zur Leistungspflicht des Unfallversicherers für Hilfe und Pflege zu Hause regeln vielmehr Art. 10 UVG in Verbindung mit Art. 18 UVV. Der Umstand, dass die Spitex B. dem Spitex-Tarifvertrag nicht beigetreten ist, beeinträchtigt ihre Eigenschaft als Leistungserbringerin im Sinne von Art. 18 UVV daher nicht. Ebenso wenig werden dadurch die gesetzlich und auf Verordnungsstufe geregelten Pflichtleistungen des Unfallversicherers tangiert (vgl. GÄCHTER/HACK-LEONI, in: Basler Kommentar, Unfallversicherungsgesetz, 2019, N. 6 zu Art. 56 UVG mit Hinweis auf BGE 110 V 187 E. 4).
6.2.4.2 Die von der Beschwerdeführerin vertretene Ansicht einer fehlenden Vergütungspflicht mangels Tarifvereinbarung mit der Spitex B. zöge einen Eingriff in die normativen Regelungen über die Versicherungsansprüche gemäss Art. 18 UVV nach sich und hätte zur Folge, dass eine eigentliche Zusammenarbeits- und Tarifstreitigkeit mit dem Leistungserbringer auf Kosten der leistungsberechtigten Versicherten ausgetragen würde, was nach dem Gesagten nicht angeht.
BGE 148 V 311 (318)6.4 Der Wortlaut von Art. 56 Abs. 1 Satz 2 UVG drückt somit den Willen des Gesetzgebers insoweit nicht aus, als dieser es dem Unfallversicherer nicht erlauben wollte, die Kostenübernahme für die erbrachten Pflegeleistungen zu verweigern, sofern diese nicht von einer Vertragsorganisation erbracht wurden. Die Interpretation der Beschwerdeführerin von Art. 56 Abs. 1 Satz 2 UVG liesse sich mit der Entstehungsgeschichte, dem Sinn und Zweck der Norm, der systematischen Einordnung wie auch mit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit nicht vereinbaren. Mit Blick auf dieses eindeutige Ergebnis bestehen hinreichende Anhaltspunkte, um vom Wortlaut abzuweichen. Das mit der Formulierung von Art. 56 Abs. 1 Satz 2 UVG grundsätzlich eingeräumte Auswahlermessen des Unfallversicherers kann jedenfalls dann nicht zum Tragen kommen, wenn die versicherte Person ihrerseits insofern kein Wahlrecht nach Art. 10 Abs. 2 UVG besitzt, als eine Leistungserbringung durch eine andere zugelassene Organisation, die zusätzlich dem Spitex-Tarifvertrag beigetreten ist, nicht gewährleistet werden kann. Das Auswahlermessen des Unfallversicherers nach Art. 56 Abs. 1 Satz 2 UVG kann mit Blick auf das Dargelegte nur dann ausgeübt werden, wenn im konkreten Einzelfall überhaupt zugelassene Vertragsorganisationen zur Wahl stehen.
Aus dem Wortlaut von Art. 56 Abs. 1 Satz 2 UVG ergibt sich demnach nicht, dass, sofern keine zugelassene und dem Spitex-Tarifvertrag unterstehende Organisation die erforderliche Leistung erbringen kann, die Vergütungspflicht des Unfallversicherers für Pflegeleistungen nach Art. 18 Abs. 1 UVV dahinfällt. Insofern ist der Wortlaut von Art. 56 Abs. 1 Satz 2 UVG im Verhältnis zu seinem Zweck zu weit gefasst und in teleologischer Reduktion im Sinne des Erwogenen restriktiv zu interpretieren (vgl. BGE 143 II 268 E. 4.3.1; BGE 141 V 191 E. 3; BGE 140 I 305 E. 6.2; BGE 131 V 242 E. 5.2).
 
Erwägung 7
 
7.1 Was die Höhe der zustehenden Kostenvergütung betrifft, wies die Vorinstanz die Sache zur Festsetzung der geschuldeten LeistungBGE 148 V 311 (318) BGE 148 V 311 (319)an die Beschwerdeführerin zurück, die sich hierzu an den einschlägigen Tarifen bzw. (kantonal-)rechtlichen Vorgaben, die ab Januar 2019 galten, zu orientieren habe. Es gilt Folgendes zu präzisieren:
7.2 Für den ambulanten Pflegebereich drängt sich ein analoges Vorgehen auf, zumal kein vertragsloser Zustand herrscht. Entsprechend dieser Regelung hat daher die Spitex B. in Bezug auf Tarifhöhe und Berechnung eine Abrechnung nach dem bestehendenBGE 148 V 311 (319) BGE 148 V 311 (320)Spitex-Tarifvertrag hinzunehmen. Wie die Vorinstanz unter Hinweis auf BGE 147 V 16 E. 9.4 daher zutreffend erwog, wird sich die Beschwerdeführerin hinsichtlich der Kostenvergütung für die strittige Hauspflege im Rahmen von Art. 18 Abs. 1 UVV an den einschlägigen Tarifen und allfälligen kantonalrechtlichen Vorgaben zu halten haben, die ab 1. Januar 2019 galten. Eine willkürliche oder sonstwie bundesrechtswidrige Rechtsanwendung liegt insgesamt nicht vor. Damit hat es beim vorinstanzlichen Urteil sein Bewenden.BGE 148 V 311 (320)