34. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
9C_586/2021 vom 2. August 2022 | |
Regeste | |
Art. 4 Abs. 2 EOV; Berechnung der Erwerbsausfallentschädigung anhand des ortsüblichen Anfangslohns im betreffenden Beruf.
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Sachverhalt | |
A.a Der 1983 geborene A. schloss ein Bachelorstudium in Wirtschaftswissenschaften an der Universität X. per 31. Juli 2016 ab. Neben dem Studium arbeitete er von Oktober 2015 bis Mai 2016 als Aushilfe im Verkauf, wobei der diesem Arbeitsverhältnis zugrunde liegende Rahmenarbeitsvertrag per 30. April 2017 aufgelöst wurde.
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A.b Vom 22. August 2016 bis 26. Mai 2017 absolvierte A. Zivildienst. Die Ausgleichskasse Handel Schweiz sprach ihm dafür eine Entschädigung von Fr. 62.- pro Tag zu (Verfügung vom 6. Februar 2017, Einspracheentscheid vom 2. Mai 2017). Auf Beschwerde hin hielt das Kantonsgericht Basel-Landschaft mit Urteil vom 14. September 2017 fest, dass für die Dauer der Grundausbildung die Grundentschädigung Fr. 62.- betrage. Für den Entschädigungsanspruch nach der Grundausbildung wies es die Angelegenheit zu weiteren Abklärungen und zum Erlass einer neuen Verfügung an die Ausgleichskasse zurück.
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A.c In der Folge erkannte die Ausgleichskasse, diese Entschädigung sei basierend auf dem Lohn eines Praktikanten von Fr. 2'600.- zu bestimmen (Verfügung vom 20. November 2017, Einspracheentscheid vom 18. Januar 2018). Auch gegen diesen Entscheid führte A. Beschwerde. Das kantonale Gericht erwog, der Versicherte habe Anspruch auf eine Erwerbsersatzentschädigung auf Grund des ortsüblichen Anfangslohns eines Bachelorabsolventen in Wirtschaftswissenschaften, dessen Höhe die Ausgleichskasse weiter abzuklären ![]() ![]() | |
A.d In Nachachtung des kantonalen Rückweisungsentscheids setzte die Ausgleichskasse die Erwerbsersatzentschädigung basierend auf dem ortsüblichen Anfangslohn eines Bachelorabsolventen in Wirtschaftswissenschaften von jährlich Fr. 72'000.- fest und sprach dem Versicherten für die Zeit vom 17. Dezember 2016 bis 26. Mai 2017 eine Entschädigung von Fr. 160.- pro Tag zu (Verfügung vom 25. März 2019, Einspracheentscheid vom 5. August 2019).
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B. Auf die dagegen vom BSV erhobene Beschwerde trat das Kantonsgericht Basel-Landschaft mit Urteil vom 30. Januar 2020 mangels funktioneller Zuständigkeit nicht ein und überwies die Akten zuständigkeitshalber an das Bundesgericht.
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Auf die (überwiesene) Beschwerde trat das Bundesgericht nicht ein. Es hob das angefochtene vorinstanzliche Urteil auf und überwies die Sache an das Kantonsgericht Basel-Landschaft zu neuer Entscheidfindung (Urteil 9C_233/2020 vom 23. November 2020).
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Das Kantonsgericht Basel-Landschaft wies in der Folge mit Urteil vom 29. Juli 2021 die Beschwerde des BSV ab, soweit es darauf eintrat.
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C. Das BSV führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Ausgleichskasse sei anzuweisen, die Entschädigung von A. für den nach der Grundausbildung geleisteten Zivildienst auf Fr. 69.90 pro Tag festzusetzen.
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A. schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Die Ausgleichskasse verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Erwägung 3 | |
Als Erwerbstätige gelten Personen, die in den letzten zwölf Monaten vor dem Einrücken während mindestens vier Wochen erwerbstätig waren (Art. 1 Abs. 1 EOV [SR 834.11]). Den Erwerbstätigen gleichgestellt sind: a. Arbeitslose; b. Personen, die glaubhaft machen, dass sie eine Erwerbstätigkeit von längerer Dauer aufgenommen hätten, wenn sie nicht eingerückt wären; sowie c. Personen, die unmittelbar vor dem Einrücken ihre Ausbildung abgeschlossen haben oder diese während des Dienstes beendet hätten (Art. 1 Abs. 2 EOV).
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Gemäss Art. 4 Abs. 2 EOV wird für Personen, die glaubhaft machen, dass sie während des Dienstes eine unselbstständige Erwerbstätigkeit von längerer Dauer aufgenommen hätten oder einen wesentlich höheren Lohn als vor dem Einrücken erzielt hätten, die Entschädigung auf Grund des Lohns berechnet, der ihnen entgangen ist (Satz 1). Haben sie unmittelbar vor dem Einrücken ihre Ausbildung abgeschlossen oder hätten sie diese während des Dienstes beendet, so wird die Entschädigung auf Grund des ortsüblichen Anfangslohns im betreffenden Beruf berechnet (Satz 2).
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3.2.2 In Bezug auf Art. 1 Abs. 2 EOV gilt Folgendes: Während sich für Arbeitslose im Sinn von Art. 10 AVIG (SR 837.0) die grundsätzliche Erwerbstätigkeit schon aus diesem Gesetz ergibt, müssen von Art. 1 Abs. 2 lit. b EOV erfasste Personen die hypothetische Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zwar nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachweisen (vgl. zum Regelbeweismass BGE 126 V 353 E. 5b), aber immerhin glaubhaft machen. Unter lit. c ![]() ![]() | |
Erwägung 4 | |
4.2 Das kantonale Gericht erwog zum Erwerbsersatzanspruch, der Beschwerdegegner habe unmittelbar vor dem Dienst sein Bachelor-Diplom erworben. Bei dieser Ausgangslage müsse er nicht glaubhaft machen, dass er einen höheren Verdienst als vor dem Einrücken erzielt hätte (vorinstanzliches Urteil vom 14. September 2017). Hier greife die gesetzliche Vermutung von Art. 4 Abs. 2 Satz 2 EOV unabhängig vom Bemühen und Erfolg des Beschwerdegegners, eine Arbeitsstelle zu finden. Dieser habe deshalb Anspruch auf eine Erwerbsausfallentschädigung auf der Grundlage eines ortsüblichen Anfangslohnes (vorinstanzliche Urteile vom 21. Juni 2018 und 29. Juli 2021). Der Beschwerdegegner schliesst sich dieser Ansicht an. Das BSV macht dagegen geltend, dass der Beschwerdegegner nach dem Dienst sich auf keine Stelle im Bereich des ermittelten hypothetischen Anfangslohnes beworben und die Absolvierung eines ![]() ![]() | |
Erwägung 5 | |
Erwägung 5.2 | |
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5.2.3 Art. 1 Abs. 2 lit. b und c sowie Art. 4 Abs. 2 EOV gehen, soweit hier von Interesse, auf eine am 1. Januar 1964 in Kraft getretene Verordnungsänderung zurück (vgl. AS 1964 337 im Vergleich zu AS 1959 2143). Vor dem 1. Januar 1964 waren den Erwerbstätigen Wehrpflichtige gleichgestellt, die nachweisen konnten, dass sie eine Erwerbstätigkeit von längerer Dauer aufgenommen hätten, wenn sie nicht eingerückt wären (Art. 1 Abs. 2 EOV in der ab 1. Januar 1960 geltenden Fassung). Ihre Entschädigung bemass sich nach dem Lohn, den sie ohne Einrücken verdient hätten (Art. 2 Abs. 2 EOV in der ab 1. Januar 1960 geltenden Fassung). Per 1. Januar 1964 wurden diese Bestimmungen geändert und ergänzt: Den Erwerbstätigen wurden Wehrpflichtige gleichgestellt, die glaubhaft machten, dass sie eine Erwerbstätigkeit von längerer Dauer aufgenommen hätten, wenn sie nicht eingerückt wären (Art. 1 Abs. 2 ![]() ![]() | |
Diese Verordnungsänderung beruht auf einem im Rahmen der zweiten EO-Revision vorgebrachten Anliegen, wonach geprüft werden solle, ob den Studierenden durch eine Änderung von Bemessungsvorschriften im Rahmen von Art. 1 Abs. 2 EOV (Stand: 1. Januar 1960) entgegengekommen werden könne (Botschaft vom 31. Mai 1963 an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die Erwerbsausfallentschädigung an Wehrpflichtige, BBl 1963 I 1217). Im Rahmen der parlamentarischen Beratung sprach Bundesrat Tschudi am 19. September 1963 von einem Entgegenkommen durch eine large Anwendung von Art. 1 Abs. 2 EOV. Der Bundesrat sei bereit, eine Entschädigung für Erwerbstätige und nicht bloss die Mindestentschädigung zu bewilligen, wenn wahrscheinlich sei, dass ohne den Wiederholungskurs die Erwerbstätigkeit von Studenten früher hätte aufgenommen werden können. An den Nachweis dieser Verzögerung solle kein strenger Massstab angelegt werden (BBl 1963 I 258). Vergleichbares lässt sich seinem Votum vom 9. Dezember 1963 entnehmen ("Durch eine weitherzige Anwendung dieser Bestimmung kann den Studenten auch während Wiederholungskursen entgegengekommen werden"; BBl 1963 I 627).
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Berücksichtigt werden kann in diesem Zusammenhang auch, dass die am 1. Januar 1964 in Kraft getretenen Verordnungsbestimmungen die bisherige Praxis kodifiziert haben, wie sie sich aus der vor dem 1. Januar 1964 gültigen EO-Wegleitung ergab (vgl. ZAK 1964 S. 147). Danach reichte ( angesichts der damaligen Beschäftigungs möglichkeiten) aus, dass Wehrpflichtige, die nach dem Abschluss einer Ausbildung einrückten, eine Erwerbstätigkeit geltend machten. Ein Beleg über die Möglichkeit einer Beschäftigung war nicht erforderlich. Die Entschädigung bemass sich, sofern der Wehrpflichtige nicht von sich aus eine anderslautende Bescheinigung über die Höhe des Gehaltes beibrachte, auf Grund des Anfangslohns im betreffenden Beruf bzw. Wirtschaftszweig an dem Ort, in welchem der Wehrpflichtige die betreffende Tätigkeit aufnehmen wollte (ZAK 1962 S. 303).
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Hinsichtlich des historischen Auslegungselements kann insbesondere mit Blick auf die Voten des Bundesrates Tschudi festgehalten werden, dass an den Nachweis einer Erwerbstätigkeit und damit auch an die Erzielung eines der abgeschlossenen beruflichen Ausbildung entsprechenden Einkommens keine strengen beweismässigen Anforderungen mehr gestellt werden sollten. Es ging um ein Entgegenkommen gegenüber von Studenten im bisherigen Vergütungssystem, das heisst einer Entschädigungsordnung, die gedanklich am entgangenen Lohn anknüpft (vgl. BBl 1963 I 621; zur Anknüpfung der Erwerbsersatzentschädigung am entgangenen Lohn siehe auch die Botschaft vom 23. Oktober 1951 an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Erwerbsausfallentschädigung an Wehrmänner, BBl 1951 III 317 ff.).
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5.2.4 Das Bundesgericht führte zu Art. 1 Abs. 2 lit. b EOV aus, diese Bestimmung bezwecke, Dienstleistende, die vor dem Einrücken nicht gemäss Art. 1 Abs. 1 EOV erwerbstätig gewesen seien, den Erwerbstätigen gleichzustellen. Sie sollen nicht benachteiligt sein, weil sie wegen des Militärdienstes keine Arbeit aufnehmen konnten, obwohl sie in der Zeit des absolvierten Dienstes glaubhafterweise einer erwerblichen Beschäftigung von längerer Dauer nachgegangen wären (BGE 136 V 231 E. 5.2). Dies ist auch Sinn und Zweck von Art. 1 Abs. 2 lit. c EOV, wonach Personen den Erwerbstätigen gleichgestellt werden, die unmittelbar vor dem Einrücken eine Ausbildung abgeschlossen haben oder während des Dienstes beendet hätten. Dies wird durch eine Beweiserleichterung im Sinne einer gesetzlich widerlegbaren Vermutung zu erreichen versucht (BGE 137 V 410 E. 4.2), wobei bei der Prüfung der Frage, ob eine Person nach der Ausbildung ohne Einrücken in den Dienst eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hätte, (unbestrittenermassen) auch das nachdienstliche Verhalten miteinbezogen werden kann (vgl. BGE 137 V 410 E. 4.3; Urteil 9C_693/2016 vom 29. November 2016 E. 2). ![]() ![]() | |
5.3 Bei den Erwerbstätigen wird grundsätzlich auf den letzten vor dem Einrücken erzielten Lohn abgestellt. Dahinter steht die Überlegung, dass dies in der Regel den durch den Dienst bedingten Lohnausfall darstellt (vgl. BBl 1951 III 318). Die Dienstleistenden können jedoch auch einen wesentlich höheren Lohn als vor dem Einrücken und eine Anspruchsberechtigung auf dieser Grundlage geltend machen (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 EOV). Insofern besteht ein gemeinsamer Ansatz zur Bemessung der Entschädigung bei Personen im Sinne von Art. 1 Abs. 2 lit. b EOV, die glaubhaft machen, dass sie während des Dienstes eine unselbstständige Erwerbstätigkeit von längerer Dauer aufgenommen hätten. Diesem Grundgedanken der Anknüpfung am entgangenen Lohn, welcher mit der Einführung von Art. 4 Abs. 2 Satz 2 EOV nicht geändert wurde (vgl. E. 5.2.3 hiervor), ist deshalb auch bei der Berechnung der Erwerbsersatzentschädigung bei Personen, die unmittelbar vor dem Einrücken ihre Ausbildung abgeschlossen oder während des Dienstes beendet hätten, Rechnung zu tragen. Es ist daher gerechtfertigt, dass die gewonnenen Erkenntnisse aus der Abklärung, ob eine Person überhaupt einer Erwerbstätigkeit nachgegangen wäre, bei der Ermittlung, welchen Beruf ein Dienstleistender aufgenommen hätte, einbezogen werden. Deshalb kann auch eine nach dem Dienst aufgenommene Erwerbstätigkeit Anhaltspunkte für den ohne Dienst ausgeübten Beruf und den ortsüblichen Anfangslohn in diesem Beruf geben. In diesem Sinn erwog das Bundesgericht im Urteil 9C_80/2014 vom 3. April 2014, dass ein Studium der Geografie und Raumwissenschaften den Zugang zu verschiedenen Berufen eröffne (besagtes Urteil E. 4.1). Dabei bestätigte es, dass beim damaligen Beschwerdeführer die Absolvierung einer Zusatzausbildung zum Lehrer sowie ein 50 %-Pensum eines Vertretungslehrers glaubhaft seien, womit die Voraussetzungen von Art. 1 Abs. 2 lit. c sowie Art. 4 Abs. 2 EOV erfüllt und keine weiteren Abklärungen notwendig seien (E. 4.3). Abzustellen ist somit auf einen für den jeweiligen Versicherten auf Grund seiner Ausbildung, seiner Zukunftsvorstellungen und anderer ![]() ![]() | |
Erwägung 5.4 | |
5.4.2 Diese Ausführungen der Vorinstanz greifen zu kurz, indem die Frage nicht beantwortet wird, welche Berufsmöglichkeit (Ökonom oder Praktikant) der Beschwerdegegner nach dem Studium ergriffen hätte. Es ist somit zu klären, ob dieser eine Erwerbstätigkeit als Ökonom oder als Praktikant aufgenommen hätte. Das kantonale Gericht stellte diesbezüglich fest, ein direkter Berufseinstieg für Studienabgänger der Wirtschaftswissenschaften mit einem Bachelorabschluss sei schwierig, jedoch nicht unmöglich. Diese Feststellung wird von keiner Seite bestritten. Daraus ist zu schliessen, dass Personen mit dieser Ausbildung regelmässig zuerst ein Praktikum absolvieren. Davon abzuweichen besteht angesichts des nachdienstlichen Verhaltens des Beschwerdegegners kein Anlass: Gemäss dem kantonalen Gericht hat sich dieser auf eine Vielzahl von Stellen erfolglos beworben. Das BSV geht davon aus, es handle sich dabei in erster Linie um Bewerbungen auf Praktikumsstellen. Demgegenüber macht der Beschwerdegegner geltend, er habe sich praktisch ausschliesslich um Festanstellungen als Ökonom bemüht. Welche Sachverhaltsdarstellung zutrifft, kann offengelassen werden. Aufgrund der Akten ist in Ergänzung der vorinstanzlichen Erwägungen (Art. 105 Abs. 2 BGG) jedenfalls darauf hinzuweisen, dass sich der ![]() ![]() ![]() |