36. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle des Kantons St. Gallen gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
8C_326/2022 vom 13. Oktober 2022 | |
Regeste | |
Art. 6, Art. 7, Art. 8 Abs. 1, Art. 21 Abs. 4 ATSG; Art. 8 Abs. 1 und Abs. 3, Art. 12 Abs. 1, Art. 22 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 lit. b und lit. c, Art. 28 Abs. 2 IVG; medizinische Massnahmen, Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Invalidenrente, Schadenminderungspflicht.
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Der Beschwerdegegner war nicht invalid, da sich seine Arbeitsfähigkeit durch medizinische Massnahmen noch wesentlich verbessern liess. Es ist nicht einzusehen, weshalb er nicht in der Lage gewesen sein soll, aus Eigeninitiative auf den Alkohol- und Drogenkonsum zu verzichten und die notwendigen Medikamente zur Behandlung des Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) einzunehmen. Die notwendigen Schritte zur Selbsteingliederung gehen als Ausdruck der allgemeinen Schadenminderungspflicht nicht nur dem Renten-, sondern auch dem gesetzlichen Eingliederungsanspruch vor (E. 7).
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Sachverhalt | |
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B. Auf Beschwerde des A. hin hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen diese Verfügung auf und stellte fest, er habe ab 1. Mai 2017 Anspruch auf eine ganze Invalidenrente. Es wies die Sache zur Festsetzung des Rentenbetrages an die IV-Stelle zurück (Entscheid vom 28. April 2022).
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die IV-Stelle, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei die Verfügung vom 14. Juli 2021 zu bestätigen. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
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A. schliesst auf Abweisung der Beschwerde und des Gesuchs um aufschiebende Wirkung. Vor Bundesgericht sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
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Mit Verfügung vom 9. August 2022 erteilte der Instruktionsrichter der Beschwerde aufschiebende Wirkung.
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Erwägung 3 | |
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Des Weiteren hielt die Vorinstanz fest, Art. 7 Abs. 1 i.V.m. Art. 8 Abs. 1 und Art. 16 ATSG sowie Art. 28 Abs. 1 lit. a IVG setzten gemäss ihrem klaren und eindeutigen Wortlaut den Abschluss der medizinischen und beruflichen Eingliederung für einen Rentenanspruch voraus. Auch im Bereich der obligatorischen Unfallversicherung (UV) und der Militärversicherung (MV) bestehe für die Dauer der medizinischen und beruflichen Eingliederung kein Renten-, sondern ein Taggeldanspruch. Dieser ende mit dem Abschluss der Eingliederung. Liege danach eine relevante Invalidität vor, entstehe der ![]() ![]() | |
Vorliegend sei also nicht nur zu prüfen, ob der Beschwerdegegner im massgebenden Zeitraum ab 1. Mai 2017 invalid gewesen sei, sondern ob er länger dauernd gemäss Art. 6 Satz 2 ATSG arbeitsunfähig gewesen sei. Diesbezüglich sei auf das Gutachten des Dr. med. B. vom 8. Februar 2021 abzustellen. Dieser habe überzeugend dargelegt, dass beim Beschwerdegegner eine psychotische oder schizophrene Störung nicht vorliegen könne, weil es im Verlauf immer wieder zu vollständigen Remissionen gekommen sei. Das in den Akten mehrfach geschilderte auffällige Verhalten des Beschwerdegegners während der Dauer einer stationären psychiatrischen Behandlung oder eines Gefängnisaufenthaltes habe sich jeweils komplett normalisiert, was eindeutig auf einen Zusammenhang mit einem Suchtmittelmissbrauch ausserhalb eines "kontrollierten Rahmens" ![]() ![]() | |
Erwägung 5 | |
5.1 Arbeitsunfähigkeit ist die durch eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit bedingte, volle oder teilweise Unfähigkeit, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zumutbare Arbeit zu leisten. Bei langer Dauer wird auch die zumutbare Tätigkeit in einem anderen Beruf oder Aufgabenbereich berücksichtigt (Art. 6 ATSG). Erwerbsunfähigkeit ist der durch Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit verursachte und nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung verbleibende ganze oder teilweise Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt ![]() ![]() | |
Das Bundesgericht erwog in BGE 121 V 264 E. 6b/cc a.E., eine Arbeitsunfähigkeit von mindestens 40 % während eines Jahres allein vermöge keinen Rentenanspruch zu begründen, sondern nur, wenn sich daran eine Erwerbsunfähigkeit in mindestens gleicher Höhe anschliesse. Dies gelte in gleicher Weise für alle drei gesetzlichen Rentenabstufungen (Art. 28 Abs. 1 IVG in der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung [entspricht der derzeit geltenden Regelung von Art. 28 Abs. 2 IVG; vgl. Botschaft vom 22. Juni 2005 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung, 5. Revision, BBl 2005 4459 ff., 4568]). Die durchschnittliche Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit während eines Jahres und die nach Ablauf der Wartezeit bestehende Erwerbsunfähigkeit müssten somit kumulativ und in der für die einzelnen Rentenabstufungen erforderlichen Mindesthöhe gegeben sein, damit eine Rente im entsprechenden Umfang zugesprochen werden könne. Seither hielt das Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung daran fest - auch nach der am ![]() ![]() | |
Erwägung 6 | |
Erwägung 6.1 | |
Erwägung 6.2 | |
6.2.1 Im Gesetz besteht eine Lücke, wenn eine Regelung unvollständig ist, weil sie jede Antwort auf die sich stellende Rechtsfrage schuldig bleibt. Hat der Gesetzgeber eine Rechtsfrage nicht übersehen, sondern stillschweigend - im negativen Sinn - mitentschieden (qualifiziertes Schweigen), bleibt kein Raum für richterliche Lückenfüllung. Eine echte Gesetzeslücke, die vom Gericht zu füllen ist, liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts vor, wenn der Gesetzgeber etwas zu regeln unterlassen hat, was er hätte regeln sollen, und dem Gesetz diesbezüglich weder nach seinem ![]() ![]() | |
Dass der Gesetzgeber im Rahmen dieser Regelung die von der Vorinstanz ins Feld geführte Konstellation übersehen hätte, ist nicht anzunehmen.
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6.2.4 Nach dem Gesagten verbietet sich die Annahme einer Lücke in Art. 28 Abs. 1 IVG in dem von der Vorinstanz dargelegten Sinn. Hiervon abgesehen hinkt die vorinstanzliche Argumentation insofern, als sie im Vergleich zum UVG und MVG im IVG eine "Taggeldlücke" erblickt (vgl. E. 4 hiervor), diese aber mit der Zusprache einer Invalidenrente ausfüllen will. Vor allem aber gilt es, der Vorinstanz Folgendes in Erinnerung zu rufen: Kann die Erwerbsfähigkeit einer versicherten Person voraussichtlich durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder hergestellt, erhalten oder verbessert ![]() ![]() | |
Erwägung 7 | |
Erwägung 7.2 | |
7.2.1 Weiter argumentierte die Vorinstanz, entgegen der Auffassung der IV-Stelle habe sich der Beschwerdegegner nicht problemlos selbst eingliedern können. Denn für ihn sei es nicht erkennbar gewesen, welche medizinischen Massnahmen er hätte ergreifen müssen. Die IV-Stelle wäre deshalb nach Erhalt des Gutachtens des Dr. med. B. gehalten gewesen, ihn zur Erfüllung seiner Schadenminderungs- resp. Eingliederungspflicht anzuhalten. Auf eine ![]() ![]() | |
Weiter vertritt die IV-Stelle die Auffassung, der Beschwerdegegner habe es somit selber in der Hand, per sofort eine 100%ige Arbeitsfähigkeit herzustellen. Er brauche weder die Hilfe eines Arztes noch eine Therapie für das Absetzen der Drogen bzw. des Alkohols. Das ADHS schränke ihn in seiner Arbeitsfähigkeit nicht ein. Somit sei die vorinstanzliche Feststellung, es hätte das Mahn- und Bedenkzeitverfahren nach Art. 21 Abs. 4 ATSG durchgeführt werden müssen, offensichtlich unrichtig. Der IV-Stelle ist beizupflichten. Es ist nämlich nicht einzusehen, weshalb der Beschwerdegegner nicht in der Lage gewesen sein soll, aus Eigeninitiative auf den Alkohol- und Drogenkonsum zu verzichten und die notwendigen Medikamente zur Behandlung des ADHS einzunehmen. Nicht gefolgt werden kann dem vorinstanzlichen Argument, es sei für ihn nicht erkennbar gewesen, welche medizinischen Massnahmen er hätte ergreifen müssen. Denn immerhin war er im Verfahren vor der IV-Stelle bzw. auch im Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. med. B. und bis zum Verfügungserlass am 14. Juli 2021 durch die Soziale Fachstelle D. vertreten.
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Hiervon abgesehen könnte sich der Beschwerdegegner, der hier erstmalig Leistungen der Invalidenversicherung verlangt, ohnehin nicht mit Erfolg auf unterbliebene Eingliederungsmassnahmen berufen. Denn es sind keine hinreichenden Indizien für Eigenanstrengungen ![]() ![]() | |