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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
Erwägung 3
Erwägung 4
Erwägung 4.5
Bearbeitung, zuletzt am 10.06.2023, durch: DFR-Server (automatisch)
 
3. Auszug aus dem Urteil der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A.A. gegen Ausgleichskasse Zug (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
9C_219/2022 vom 2. März 2023
 
 
Regeste
 
Art. 25 Abs. 3 ATSG; Art. 16 Abs. 3 AHVG; Art. 25 Abs. 3 AHVV; Rückerstattung von Akontobeiträgen.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 149 V 21 (22)A.
A.a Die Eheleute B.A. und A.A. haben ihren steuerrechtlichen Wohnsitz in U./AG. Der Ehemann war einzeln zeichnungsberechtigtes Mitglied der C. AG mit Sitz in derselben Gemeinde. (...) Über die Gesellschaft wurde am 29. Januar 2007 der Konkurs eröffnet. Am 23. Oktober 2006 liess die Ehefrau unter der Firma D. ein Einzelunternehmen ins Handelsregister eintragen. Es hatte ursprünglich Sitz in V./ZG, danach in W./ZG. Der als Prokurist fungierende Ehemann wurde fortan für das Einzelunternehmen tätig, wobei er für die E. AG und die F. AG (mit Sitz im Kanton Zug bzw. im Kanton Aargau) wirkte.
Die Steuerverwaltung des Kantons Zug setzte am 8. Juli 2009 das steuerbare Einkommen der Eheleute A. für die Periode 2007 auf Fr. 289'600.- fest und wies davon Fr. 83'500.- dem Kanton Aargau zu, während für den Kanton Zug ein Einkommen von Fr. 206'100.- zu versteuern war. Die Verfügung erwuchs unangefochten in Rechtskraft und die Steuer von Fr. 24'732.- wurde bezahlt.
Mit Einspracheentscheid vom 2. Juli 2013 befand die Steuerkommission U./AG für die Kantons- und Gemeindesteuern der Periode 2007, dass das steuerbare Einkommen von B.A. in der Höhe von Fr. 377'926.- vollumfänglich dem Kanton Aargau zuzuweisen sei, aufgrund einer selbstständig ausgeübten Erwerbstätigkeit, für welche ein Geschäftsort in U./AG anzunehmen sei. Diesen Entscheid bestätigte das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau kantonal letztinstanzlich mit Urteil vom 22. September 2015. Die dagegen erhobene Beschwerde der Eheleute A. hiess das Bundesgericht mit Urteil 2C_1046/2015 vom 10. August 2016 insoweit gut, als es das Urteil vom 22. September 2015 aufhob und die Sache im Sinne der Erwägungen an das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau zurückwies. Dieses kam in der Folge mit Urteil vom 4. September 2017 zum Ergebnis, der Ehemann habe seine gesamte Arbeitskraft für die beiden beauftragenden Gesellschaften (E. AG und F. AG) eingesetzt. Er habe mithin - trotz Abwicklung über das Einzelunternehmen der Ehefrau - sein gesamtes steuerbares Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit erzielt, das somit vollumfänglich der Steuerhoheit des Kantons Aargau unterliege.
Mit Urteil 2C_873/2017 vom 15. November 2018 (betreffend die Staats- und Gemeindesteuern der Kantone Aargau und Zug, Steuerperiode 2007) bestätigte das Bundesgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 4. September 2017.BGE 149 V 21 (22) BGE 149 V 21 (23)Gleichzeitig wies es den Kanton Zug an, die Steuerveranlagung der Eheleute A. für das Steuerjahr 2007 aufzuheben und die bereits bezogenen Kantons- und Gemeindesteuern zurückzuerstatten.
A.b A.A. war ab dem 1. Februar 2007 als Selbstständigerwerbende (Einzelunternehmerin) bei der Ausgleichskasse Zug (nachfolgend: Ausgleichskasse) erfasst. Am 9. Oktober 2007 erhob diese von A.A. für das Jahr 2007 provisorische persönliche Sozialversicherungsbeiträge (Akontobeiträge) von Fr. 15'618.75. Unter Bezugnahme auf das Urteil 2C_873/2017 vom 15. November 2018 setzte die Ausgleichskasse mit Verfügung vom 3. Juli 2019 die persönlichen Sozialversicherungsbeiträge der A.A. (samt Verwaltungskosten) für das Jahr 2007 (definitiv) auf Fr. 31'743.20 fest. Sie stellte eine entsprechende Ausgleichszahlung in Rechnung und verpflichtete A.A. zur Bezahlung von Verzugszins. Mit Einsprache machte A.A. geltend, entsprechend der steuerrechtlichen Betrachtung schulde sie für das Jahr 2007 keine Beiträge aus selbstständiger Erwerbstätigkeit; sie verlangte daher nicht nur die Aufhebung der Beitragspflicht resp. -verfügung, sondern auch die Rückerstattung der provisorisch entrichteten persönlichen Beiträge zuzüglich Zins. Die Ausgleichskasse wies die Einsprache mit Entscheid vom 5. Dezember 2019 ab.
B. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit Urteil vom 28. März 2022 (Dispositiv-Ziffer 1) insofern teilweise gut, als es den Einspracheentscheid vom 5. Dezember 2019 aufhob; im Übrigen wies es die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat. (...)
C. A.A. lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, der gemäss provisorischer Beitragsverfügung vom 9. Oktober 2007 bereits bezahlte Betrag von Fr. 15'618.75 sei zurückzuerstatten samt Vergütungszins zu 5 % ab 9. November 2007. (...)
(...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
(Auszug)
 
 
Erwägung 2
 
2.1 Vom Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit werden prozentuale Beiträge erhoben (Art. 8 Abs. 1 AHVG). Diese sind periodisch festzusetzen und zu entrichten. Der Bundesrat bestimmt dieBGE 149 V 21 (23) BGE 149 V 21 (24)Bemessungs- und Beitragsperioden (Art. 14 Abs. 2 AHVG). Der Bundesrat erlässt Vorschriften u.a. über die Zahlungstermine für die Beiträge sowie das Mahn- und Veranlagungsverfahren (Art. 14 Abs. 4 AHVG). Die Festsetzung und Ermittlung der Beiträge vom Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit werden in den Art. 22 bis 27 AHVV (SR 831.101) näher geregelt.
Die Beiträge werden für jedes Beitragsjahr festgesetzt (Art. 22 Abs. 1 Satz 1 AHVV). Die Beitragspflichtigen haben nach den Vorgaben von Art. 24 AHVV periodisch Akontobeiträge zu leisten. Die Ausgleichskassen setzen - in der Regel gestützt auf eine Meldung der Steuerbehörden (vgl. Art. 23 und 27 AHVV) - die für das Beitragsjahr geschuldeten Beiträge in einer Verfügung fest und nehmen den Ausgleich mit den geleisteten Akontobeiträgen vor (Art. 25 Abs. 1 AHVV). Die von den Beitragspflichtigen zu wenig entrichteten Beiträge sind innert 30 Tagen ab Rechnungsstellung zu bezahlen (Art. 25 Abs. 2 AHVV). Zuviel entrichtete Beiträge haben die Ausgleichskassen zurückzuerstatten oder zu verrechnen (Art. 25 Abs. 3 AHVV).
 
Erwägung 3
 
3.1 Die Vorinstanz hat die Beitragspflicht der Beschwerdeführerin mangels eines ihr anzurechnenden Einkommens aus selbstständiger Erwerbstätigkeit verneint. Sie hat erwogen, dass deshalb bezüglichBGE 149 V 21 (24) BGE 149 V 21 (25)der Akontobeiträge grundsätzlich - unter Vorbehalt der "Verjährung" gemäss Art. 16 Abs. 3 AHVG - ein Rückerstattungsanspruch bestehe. Mit dem Einspracheentscheid der Steuerkommission U./AG vom 2. Juli 2013 sei die Höhe des gesamten steuerbaren Einkommens des Jahres 2007 und dessen vollständige Zuweisung an den Ehemann der Beschwerdeführerin festgehalten worden. In diesen Punkten sei der genannte Einspracheentscheid unangefochten in Rechtskraft erwachsen. Spätestens mit der darauf gestützten definitiven Steuerveranlagung 2007 vom 23. Juli 2013 resp. mit deren Rechtskraft ab dem 16. September 2013 habe die Beschwerdeführerin Kenntnis davon gehabt, dass sie im Jahr 2007 gar kein Erwerbseinkommen generiert und damit für die entsprechende Periode zu Unrecht (Akonto-)Beiträge bezahlt habe. Dadurch sei die Verwirkungsfrist gemäss Art. 16 Abs. 3 AHVG ausgelöst worden. Die Verwirkung sei bereits Ende 2014 eingetreten; die Rückforderung sei erst am 15. Juli 2019 und damit verspätet geltend gemacht worden. Folglich hat das kantonale Gericht einen Rückerstattungsanspruch verneint.
 
Erwägung 4
 
4.2 Dazu lässt sich weder der Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) über die Beiträge der Selbstständigerwerbenden und Nichterwerbstätigen in der AHV, IV und EO (WSN)BGE 149 V 21 (25) BGE 149 V 21 (26)noch jener über den Bezug der Beiträge in der AHV, IV und EO (WBB; zur Bedeutung von Verwaltungsweisungen vgl. BGE 145 V 84 E. 6.1.1; BGE 142 V 442 E. 5.2) etwas entnehmen (vgl. etwa Rz. 1189 WSN sowie Rz. 2086 und 3073 WBB). Soweit ersichtlich wurden die hier interessierenden Fragen auch in der Literatur nicht thematisiert.
 
Erwägung 4.5
 
4.5.1 Sowohl in Art. 16 Abs. 3 AHVG als auch in Art. 25 Abs. 3 ATSG wird der Begriff "Beiträge" ("cotisations"; "contributi") verwendet. Darunter können sowohl definitive als auch provisorische Beiträge (Akontozahlungen) verstanden werden. Beide Bestimmungen bezwecken indessen die Rückerstattung von Zahlungen, die vermeintlich, wenn auch zu Unrecht, als Beiträge geleistet wurdenBGE 149 V 21 (26) BGE 149 V 21 (27)(JOHANNA DORMANN, in: Basler Kommentar, Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts, 2020, N. 99 zu Art. 25 ATSG). Das geht insbesondere aus dem französischen und italienischen Wortlaut von Art. 16 Abs. 3 AHVG, wo von "cotisations versées indûment" resp. "contributi indebitamente pagati" gesprochen wird, unmissverständlich hervor. Den Materialien lässt sich zu den hier interessierenden Fragen (vgl. vorangehende E. 4.1) nichts entnehmen. In systematischer Hinsicht ist Folgendes zu beachten: Der Anwendungsbereich von Art. 25 Abs. 1 und 2 ATSG betreffend die Rückerstattung von unrechtmässig bezogenen Sozialversicherungsleistungen erstreckt sich nicht auf Leistungen, die bei resp. trotz Zweifeln an der Leistungspflicht zu Recht erbracht wurden (DORMANN, a.a.O., N. 9 zu Art. 25 ATSG). So bildet Art. 25 ATSG insbesondere keine Grundlage für die Rückforderung von Vorleistungen im Sinne von Art. 70 f. ATSG (Urteil 8C_512/2008 vom 14. Januar 2009 E. 3.1 und 3.2) und von Arbeitslosenentschädigung, die gestützt auf Art. 29 Abs. 1 AVIG (SR 837.0) ausgerichtet wurde (BGE 137 V 362 E. 4.2.2; Urteil 8C_442/2017 vom 25. August 2017 E. 4.2).
4.5.3 Mit der Festlegung der definitiven Beiträge ist gleichzeitig der Ausgleich mit den für die gleiche Periode geleisteten Akontobeiträgen vorzunehmen (Art. 25 Abs. 1 AHVV; vgl. auch Erläuterungen des BSV zur Änderung der AHVV auf den 1. Januar 2001, AHI 2000BGE 149 V 21 (27) BGE 149 V 21 (28)S. 119). In Art. 25 Abs. 2 und 3 AHVV wird von "zu wenig" resp. "zuviel entrichteten Beiträgen" ("cotisations encore dues" resp. "versées en trop"; "contributi non versati" resp. "non dovuti") gesprochen. Dass damit Akontobeiträge gemeint sind, geht aus dem Kontext der Bestimmung (vgl. insbesondere Art. 25 Abs. 1 AHVV) eindeutig hervor. Art. 25 Abs. 3 AHVV sieht ohne Weiteres die Rückerstattung oder Verrechnung der überschüssigen Akontobeiträge vor.
Damit steht fest, dass der Rückerstattungsanspruch (unbesehen, ob er in eine Auszahlung oder Verrechnung mündet) direkt und unmittelbar mit der definitiven Festsetzung der Beitragspflicht entsteht. Mit diesem Vorgang entfällt auch der provisorische Charakter der Akontobeiträge. Das rechtfertigt es, Art. 16 Abs. 3 AHVG ab diesem Zeitpunkt (direkt oder analog; vgl. BGE 125 V 183 E. 2c; SVR 2019 KV Nr. 4 S. 19, 9C_525/2018 E. 3) anzuwenden und die überschüssigen Akontobeiträge - auch wenn sie naturgemäss früher entrichtet wurden - im Moment der definitiven Beitragsfestsetzung als "zuviel bezahlte Beiträge" im Sinne der genannten Bestimmung zu behandeln. Für den entsprechenden Rückerstattungsanspruch beginnen die Verwirkungsfristen von Art. 16 Abs. 3 AHVG somit erst mit der definitiven Beitragsfestsetzung zu laufen.
Damit besteht erstmals Anlass, den im gleichen Zusammenhang geltend gemachten Zinsanspruch zu prüfen. Die Ausgleichskasse wird darüber zu befinden haben; gleichzeitig erhält sie Gelegenheit, gegebenenfalls die Verrechnung der geschuldeten Rückerstattung mit allfälligen Forderungen zu erklären. Insoweit ist die Beschwerde begründet.BGE 149 V 21 (28)