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Informationen zum Dokument  BGer 4C.330/1999  Materielle Begründung
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BGer 4C.330/1999 vom 05.04.2000
 
«AZA 3»
 
4C.330/1999/rnd
 
I. Z I V I L A B T E I L U N G
 
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5. April 2000
 
Es wirken mit: Bundesrichter Walter, Präsident, Nyffeler, Ersatzrichter Schwager und Gerichtsschreiber Leuenberger.
 
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In Sachen
 
Walter Grunder AG, Mätteli 8, 4312 Magden, Beklagte und Berufungsklägerin, vertreten durch Advokat Dr. Ernst Küng, Marktgasse 58, 4310 Rheinfelden,
 
gegen
 
Norbert R a d l i n g e r, Rossweid 6, 8357 Guntershausen, Kläger und Berufungsbeklagten, vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Müller, Trottenstrasse 8, Postfach 272, 8546 Islikon,
 
betreffend
 
Kaufvertrag; Täuschung,
 
hat sich ergeben:
 
A.- Mit Zeitungsinserat vom 14. Mai 1996 bot die Beklagte "eine krisensichere Familienexistenz mit einer Kantonsvertretung in der Papierbranche" an. Darauf meldete sich der Kläger, worauf die Parteien in einem Vorvertrag vom 14. Juni 1996 vereinbarten, dass der Kläger sämtliche Kunden in den Kantonen Thurgau, St. Gallen und Glarus erwerben und damit für diese Gebiete, zuzüglich Appenzell A.Rh/I.Rh und das Fürstentum Liechtenstein, die alleinige Regionalvertretung übernehmen sollte. Der Kaufpreis sollte anhand der Kunden- und Werbeadresskartei bestimmt werden, jedoch maximal Fr. 170'000.-- betragen. Mit Kaufvertrag vom 15. Juni 1996 verkaufte die Beklagte dem Kläger "gemäss Gebietsaufstellung sowie separater Kundenkartei" per 1. Oktober 1996 ca. 300 Kunden zu je Fr. 400.-- und ca. 10'000 Werbeadressen zu je Fr. 5.--.
 
Am 27. August 1996 stellte die Beklagte für 187 Kundenadressen und 12'249 Werbeadressen insgesamt Fr. 144'887.95 in Rechnung. Am 18. September 1996 lancierte der Kläger seinen ersten Streuversand. Darauf meldete sich W. Hasler und teilte ihm mit, die Beklagte habe ihm bereits im Jahre 1990 sämtliche Kunden verkauft. Der Kläger intervenierte am 5./7. Oktober 1996 bei der Beklagten, worauf diese ihm mit Faxschreiben vom 7. Oktober 1996 bestätigte, er sei ab sofort nicht mehr für die Regionalvertretung tätig.
 
B.- Der Kläger belangte die Beklagte am 12. September 1997 auf Fr. 140'414.14 nebst Zins. Mit Urteil vom 28. November 1997 hiess das Bezirksgericht Frauenfeld die Klage gut. Eine dagegen von der Beklagten eingereichte Berufung wies das Obergericht des Kantons Thurgau am 21. Januar 1999 ab.
 
C.- Die Beklagte hat gegen das Urteil des Obergerichts eidgenössische Berufung eingelegt. Darin beantragt sie dem Bundesgericht, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
 
Der Kläger schliesst auf Abweisung der Berufung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Die Vorinstanz hat im angefochtenen Urteil eine absichtliche Täuschung des Klägers nach Art. 28 OR bejaht und aufgrund seiner fristgerechten Rücktrittserklärung einen Anspruch auf Rückerstattung des Kaufpreises nebst Zinsen und Kosten gutgeheissen. Die Beklagte gibt die Rechtsauffassung des Obergerichts als bundesrechtswidrig aus.
 
a) Nach Art. 28 OR ist ein Vertrag anfechtbar, wenn ein Vertragsschliessender durch absichtliche Täuschung seitens des andern zum Vertragsschluss verleitet wurde, selbst wenn der Irrtum kein wesentlicher im Sinne von Art. 24 OR war. Eine Täuschung ist im Vorspiegeln falscher oder Unterdrücken bzw. Verschweigen richtiger Tatsachen zu erblicken. Das Verschweigen von Tatsachen vermag eine Täuschung allerdings nur insoweit zu bewirken, als eine Aufklärungspflicht besteht; eine solche kann sich aus besonderer gesetzlicher Vorschrift oder aus Vertrag ergeben sowie daraus, dass eine Mitteilung nach Treu und Glauben und den herrschenden Anschauungen geboten ist (BGE 117 II 218 E. 6a mit Hinweisen; Schwenzer, Basler Kommentar, N. 3 f. zu Art. 28 OR).
 
b) Nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 63 Abs. 2 OG) wurden mit der Übertragung der Einzelunternehmung M. Grunder im Jahre 1990 auch deren gesamter Adressenstamm an A. und W. Hasler übertragen. Inhaberin der Einzelfirma war Maria Grunder, die Ehefrau von Walter Grunder, damals bereits Verwaltungsratspräsident der Beklagten. Die Einzelfirma vertrieb Produkte der Beklagten an Endverbraucher. Die Verhandlungen über diese Geschäftsübernahme waren von Walter Grunder geführt worden, welcher dann auch im Jahre 1996 beim Vertragsabschluss mit dem Kläger für die Beklagte handelte. Die Kundenadressen, welche die Beklagte 1996 dem Kläger verkaufte, waren weitgehend identisch mit jenen, welche 1990 an A. und W. Hasler übergegangen waren. Der Kläger kaufte in der irrigen Meinung, einen Kundenstamm zu erwerben, der sich aus aktuellen und treuen Kunden zusammensetze, welche nicht schon durch andere Unternehmen beliefert würden. Der Kläger nahm ausserdem an bei den zum Stückpreis von Fr. 400.-- übernommenen Kundenadressen handle es sich um Exklusivkunden. Die Beklagte hatte beim Vertragsabschluss erkannt, dass der Kläger von dieser irrigen Vorstellung ausging und insbesondere nicht wusste, dass die weitgehend identischen Kundenadressen schon 1990 an A. und W. Hasler übergangen waren.
 
c) Die Beklagte bestreitet das Vorliegen einer Täuschung und macht geltend, der Kläger habe das erhalten, wofür er bezahlte, nämlich die Adressen der im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses im fraglichen Gebiet aktuellen Kunden. Dieser Einwand bezieht sich auf die Umschreibung des Vertragsgegenstandes bzw. die Vertragserfüllung und schliesst eine Täuschung bei Vertragsabschluss nicht aus. Nach den verbindlichen Feststellungen des Obergerichts wurde der Kaufsentschluss des Kläger wesentlich durch seine Vorstellung bestimmt, es handle sich beim Kundenstamm um aktuelle und treue Exklusivkunden. Die der Beklagten vorgeworfene Täuschung besteht darin, dass sie dem Kläger die im Jahre 1990 erfolgte Überlassung der Kundenadressen an A. und W. Hasler bewusst verschwiegen hat.
 
d) Die Beklagte verneint weiter eine Aufklärungspflicht bezüglich der im Jahre 1990 erfolgten Überlassung der Kundenadressen an A. und W. Hasler. Die Pflicht, den Vertragspartner über einen erkannten Irrtum seinerseits aufzuklären, kann sich aus besonderer gesetzlicher Vorschrift, aus Vertrag oder aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ergeben (BGE 117 II 218 E. 6a; 116 II 431 E. 3a). Der Grundsatz von Treu und Glauben verpflichtet unter anderem zur Aufklärung, wenn der Irrtum des Gegners auf dem eigenen Verhalten der wissenden Partei (z.B. auf unabsichtlich falschen Auskünften) beruht (BGE 113 II 25 E. 1b) oder wenn sie über Informationen verfügt, welche für das konkrete Geschäft relevant sind und dem anderen nicht bekannt sein können oder nur schwer zugänglich sind (Schmidlin, Berner Kommentar, N. 38 und 40 zu Art. 28 OR; Gauch/Schluep/Schmid, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgmeiner Teil, 7. Aufl., Rz 863; Bucher, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., S. 220).
 
Diese Situation war beim Abschluss des Vertrages vom 15. Juni 1996 gegeben. Von der bereits im Jahre 1990 erfolgten Überlassung der Kundenadressen an A. und W. Hasler konnte der Kläger keine Kenntnis haben. Es liesse sich sogar fragen, inwieweit die Beklagte selber durch positives Verhalten die irrige Vorstellung des Klägers geweckt oder genährt hat, indem sie im Vorvertrag vom 14. Juni 1996 vom Erwerb der alleinigen Regionalvertretung für das umschriebene Gebiet gesprochen hatte. Wenn der Kaufpreis für die Vertretung aufgrund eines bestimmten Betrages pro Kundenadresse festgesetzt wurde, ergab sich daraus nach Treu und Glauben für die Beklagte die Pflicht, den Vertragspartner darüber aufzuklären, dass sie bzw. eine ihr nahestehende Person die Adressen des damals weitgehend übereinstimmenden Kundenstammes sechs Jahre zuvor bereits an einen Dritten überlassen hatte und dieser den Kundenstamm mit dem gleichen Produkt aktiv weiterbearbeitete.
 
e) Die Beklagte wendet schliesslich ein, für den Kläger sei das Fehlen einer Garantie dafür, dass die ihm vertraglich überlassenen Kunden exklusiv bei ihm einkaufen würden, zum vornherein erkennbar gewesen. Sie habe auch davon ausgehen dürfen, dass die fehlende Exklusivität dem Kläger bekannt gewesen sei. Mit diesen Vorbringen wendet sich die Beklagte in unzulässiger Weise gegen die tatsächliche Feststellung im angefochtenen Urteil, dass der Kläger die ihm übergebenen Kundenadressen als solche von Exklusivkunden verstand. Eine Exklusivität durfte er auch zumindest in dem Sinne erwarten, als er nicht damit rechnen musste, dass diese Kunden Waren der gleichen Art auch von einem Dritten bezogen, dem die Adressen ebenfalls von der Beklagten bzw. einer dieser nahestehenden Person überlassen worden waren. Für die Bejahung absichtlichen Handelns genügt auch Eventualvorsatz, d.h. dass die Beeinflussung des Kaufsentschlusses des Vertragspartners durch falsche eigene Angaben oder nicht aufgeklärte irrige Vorstellungen in Kauf genommen wird (BGE 123 III 165 E. 3b).
 
Das Obergericht hat damit rechtsfehlerfrei angenommen, der Kläger sei bei Vertragsabschluss am 15. Juni 1996 durch Verschweigen der im Jahre 1990 erfolgten Überlassung der Kundenadressen an A. und W. Hasler seitens der Beklagten absichtlich getäuscht worden.
 
2.- Die Berufung ist damit abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Ausgangsgemäss ist die Beklagte kosten- und entschädigungspflichtig.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.- Die Berufung wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist, und das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 21. Januar 1999 wird bestätigt.
 
2.- Die Gerichtsgebühr von Fr. 5'500.-- wird der Beklagten auferlegt.
 
3.- Die Beklagte hat den Kläger für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 6'000.-- zu entschädigen.
 
4.- Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
 
______________
 
Lausanne, 5. April 2000
 
Im Namen der I. Zivilabteilung
 
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
 
Der Präsident:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
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