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Informationen zum Dokument  BGer H 397/1999  Materielle Begründung
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BGer H 397/1999 vom 04.08.2000
 
[AZA 7]
 
H 397/99 Vr
 
II. Kammer
 
Präsident Lustenberger, Bundesrichter Meyer und Ferrari;
 
Gerichtsschreiber Hadorn
 
Urteil vom 4. August 2000
 
in Sachen
 
1. R.________,
 
2. M.________,
 
Beschwerdeführer, beide vertreten durch Rechtsanwalt Stephan Kamer, Terrassenweg 1A, Zug,
 
gegen
 
Ausgleichskasse Zug, Baarerstrasse 11, Zug, Beschwerdegegnerin,
 
und
 
Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Zug
 
A.- Mit Verfügungen vom 4. April 1996 verpflichtete die Ausgleichskasse Zug R.________ und M.________, Verwaltungsräte der in Konkurs gefallenen Q.________ AG unter solidarischer Haftbarkeit Fr. 37'702. 60 Schadenersatz für nicht entrichtete Sozialversicherungsbeiträge, zuzüglich Verzugszinsen, Betreibungskosten und Mahngebühren, zu leisten.
 
B.- Auf Einspruch beider Belangten hin klagte die Kasse auf Bezahlung des erwähnten Betrages. Mit Entscheid vom 30. September 1999 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Zug die Klage gut.
 
C.- R.________ und M.________ lassen Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Begehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Klage der Kasse abzuweisen, eventuell masslich zu reduzieren. Subeventuell sei die Sache zu näheren Abklärungen an die Verwaltung zurückzuweisen. Zudem sei der Verwaltungsgerichtsbeschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
 
Das kantonale Gericht und die Ausgleichskasse schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung sich nicht vernehmen lässt.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur so weit eingetreten werden, als die Schadenersatzforderung kraft Bundesrechts streitig ist. Im vorliegenden Verfahren ist deshalb auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde in dem Umfang nicht einzutreten, als sie sich gegen die Schadenersatzforderung für entgangene Beiträge an die kantonale Familienausgleichskasse richtet (vgl. BGE 119 V 80 Erw. 1b, 118 V 69 Erw. 1b mit Hinweis).
 
2.- Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
 
3.- Die Beschwerdeführer beantragen die Gewährung der aufschiebenden Wirkung. Dieses Begehren ist gegenstandslos, da Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen eine Verfügung, welche zu einer Geldleistung verpflichtet, nach Art. 111 Abs. 1 OG ohnehin aufschiebende Wirkung haben.
 
4.- Das kantonale Gericht hat unter Hinweis auf Gesetz (Art. 52 AHVG) und Rechtsprechung (vgl. statt vieler BGE 123 V 15 Erw. 5b) die Voraussetzungen zutreffend dargelegt, unter welchen Organe juristischer Personen den der Ausgleichskasse wegen Verletzung der Vorschriften über die Beitragsabrechnung und -zahlung (Art. 14 Abs. 1 AHVG; Art. 34 ff. AHVV) qualifiziert schuldhaft verursachten Schaden zu ersetzen haben. Darauf kann verwiesen werden.
 
5.- Streitig ist die Schadenersatzpflicht der Beschwerdeführer.
 
a) Die Vorinstanz hat in für das Eidgenössische Versicherungsgericht verbindlicher Weise (Erw. 2 hievor) festgestellt, dass zwischen Januar 1993 und März 1994, ab welchem Monat die in Konkurs gefallene Firma ihre Tätigkeit eingestellt hat, keine Sozialversicherungsbeiträge mehr bezahlt worden sind. Dem Verwaltungsratsmitglied S.________ hatten die Beschwerdeführer wiederholt die Einsicht in die Geschäftsbücher verweigert, aus denen die kritische finanzielle Lage der Firma ersichtlich gewesen wäre. Stichhaltige Exkulpationsgründe machten sie nicht geltend.
 
b) Die Beschwerdeführer bringen nichts vor, was die Feststellungen der Vorinstanz als mangelhaft im Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG erscheinen liesse. Sie weisen keine Massnahmen nach, mit welchen sie versucht hätten, die Beitragsausstände innert nützlicher Frist zu bezahlen. Begründete Aussichten auf eine baldige Sanierung der Firma bestanden realistischerweise nicht. Der Hinweis darauf, dass ein hohes Guthaben von der H.________ AG unerwarteterweise erst nach langen gerichtlichen Auseinandersetzungen zugesprochen worden sei, ist unbehelflich. Die Beschwerdeführer haben nichts vorgekehrt, um die Beitragsschulden auch unabhängig vom unsicheren Ausgang des Rechtsstreits mit diesem einzigen Grosskunden zu begleichen. Eine solche Passivität ist grobfahrlässig im Sinne von Art. 52 AHVG (ZAK 1989 S. 104). Damit besteht die Schadenersatzpflicht der Beschwerdeführer im Grundsatz zu Recht.
 
6.- Die Forderung der Kasse wird auch masslich bestritten.
 
a) Nach der Rechtsprechung findet im Schadenersatzprozess gemäss Art. 52 AHVG eine Überprüfung der verfügungs- und klageweise geltend gemachten Forderung in masslicher Hinsicht nicht mehr statt, soweit sie auf einer Nachzahlungsverfügung beruht, die unangefochten geblieben und somit bereits in Rechtskraft erwachsen ist. Durch die Möglichkeit, gegen eine Nachzahlungsverfügung Beschwerde zu führen, ist genügend Gewähr dafür geboten, dass die Organe der zahlungsunfähig gewordenen Arbeitgeberin nicht mit ungerechtfertigten Schadenersatzforderungen belastet werden. Vorbehalten bleiben jene Fälle, in denen sich aus den Akten Anhaltspunkte für eine zweifellose Unrichtigkeit der durch die Nachzahlungsverfügung festgesetzten Beiträge ergeben (AHI 1993 S. 172 Erw. 3a; ZAK 1991 S. 126 Erw. II/1b). Anderes gilt hingegen, wenn die betreffende Nachzahlungsverfügung erst nach der Konkurseröffnung ergeht. In einem solchen Fall sind die Organe der belangten Firma nicht mehr zur Anfechtung dieser Verfügung berechtigt gewesen. Denn fällt eine Aktiengesellschaft in Konkurs, behalten die Organe ihre Vertretungsbefugnis nur insoweit (Art. 740 Abs. 5 und Art. 739 Abs. 2 OR), als eine Vertretung durch sie - stets bezogen auf die Liquidation - noch notwendig ist (BGE 117 III 42). Wenn dieses Erfordernis zur Anfechtung der Nachzahlungsverfügung zweifelsohne nicht gegeben ist, kann den Organen die unterbliebene Einlegung eines Rechtsmittels nicht entgegengehalten werden. Namentlich darf ihnen auch kein Nachteil daraus erwachsen, wenn die Konkursverwaltung - der die betreffende Verfügung zu eröffnen ist (BGE 116 V 289) - von ihrer Anfechtungsbefugnis keinen Gebrauch gemacht hat. Auf diese Weise ist der hohen Wahrscheinlichkeit Rechnung zu tragen, dass dieser Untätigkeit sachfremde Motive zu Grunde lagen (AHI 1993 S. 173 Erw. 3b).
 
b) Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die Ausgleichskasse hat dem Konkursamt Zug am 26. Mai 1995, somit nach der Eröffnung des Konkurses, eine Nachzahlungsverfügung über Fr. 9644. 25 (inkl. Beiträge an die Familienausgleichskasse) zukommen lassen, welche unangefochten geblieben ist. Soweit diese Forderung bundesrechtliche Beiträge betrifft (Erw. 1 hievor), kann sie nach dem Gesagten masslich noch überprüft werden.
 
7.- a) Die Beschwerdeführer beanstanden, dass in der Nachzahlungsverfügung R.________ weiterhin Löhne aufgerechnet worden seien, obwohl dieser ab April 1994 nicht mehr für die in Konkurs gefallene Firma gearbeitet habe. Auf jeden Fall dürfe ihm nicht ein Monatslohn von Fr. 8000. - unterstellt werden, nachdem selbst die Arbeitslosenversicherung nur von einem Verdienst von Fr. 4000. - ausgegangen sei. In diesem Zusammenhang habe die Vorinstanz überdies das rechtliche Gehör verletzt: sie habe die Akten der Arbeitslosenkasse beigezogen, ohne die Beschwerdeführer zu informieren, und hernach gestützt auf diese Akten die Nachzahlungsverfügung und den Lohn von Fr. 8000. - bestätigt, ohne ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Vorinstanz räumt in ihrer Vernehmlassung ein, die Akten der Arbeitslosenkasse einverlangt und gestützt darauf entschieden zu haben, ohne dass die Beschwerdeführer vorgängig davon wussten. Sie erachtet jedoch eine allfällige Verletzung des rechtlichen Gehörs als vor letzter Instanz heilbar.
 
b) Nach Art. 29 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (AS 1999 2556) haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör. Die unter der Marginalie "Allgemeine Verfahrensgarantien" stehende Regelung des Art. 29 BV bezweckt namentlich, verschiedene durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 4 der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 (nachfolgend: aBV) konkretisierte Teilaspekte des Verbots der formellen Rechtsverweigerung in einem Verfassungsartikel zusammenzufassen (Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996 [BBl 1997 I 181]). Hinsichtlich des in Art. 29 Abs. 2 BV nicht näher umschriebenen Anspruchs auf rechtliches Gehör ergibt sich daraus, dass die unter der Herrschaft der aBV hiezu ergangene Rechtsprechung (vgl. etwa BGE 124 I 51 Erw. 3a, 242 Erw. 2, 124 II 137 Erw. 2b, 124 V 181 Erw. 1a, 375 Erw. 3b, je mit Hinweisen) nach wie vor massgebend ist (noch nicht veröffentlichtes Urteil M. vom 5. Juni 2000, C 357/98). Die Bundesverfassung bringt insoweit keine materiellen Neuerungen, sondern eine Anpassung an die Verfassungswirklichkeit (Dieter Biedermann, Die neue Bundesverfassung: Übergangs- und Schlussbestimmungen sowie Anpassungen auf Gesetzesstufe, in AJP 1999, S. 744; Jörg Paul Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl. , Bern 1999, S. 493 ff.). Die diesbezügliche Nachführung war in den Räten denn auch unbestritten (Amtl. Bull. der Bundesversammlung [Separatdruck 1998], NR 1998 S. 234 und SR S. 50 f.). Damit kann vorliegend offen bleiben, ob die hier erhobene Rüge nach der alten oder der neuen Bundesverfassung zu beurteilen ist, da sich am Ergebnis nichts ändert.
 
c) Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst die Rechte der Parteien auf Teilnahme am Verfahren und auf Einflussnahme auf den Prozess der Entscheidfindung. Bevor die Behörde einen Entscheid trifft, der in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift, hat sie ihn davon in Kenntnis zu setzen und ihm Gelegenheit zu geben, sich vorgängig zu äussern (BGE 120 Ib 383 Erw. 3b mit Hinweisen).
 
Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung der angefochtenen Verfügung. Es kommt mit andern Worten nicht darauf an, ob die Anhörung im konkreten Fall für den Ausgang der materiellen Streitentscheidung von Bedeutung ist, d.h. die Behörde zu einer Änderung ihres Entscheides veranlasst wird oder nicht (BGE 125 I 118 Erw. 3, 124 V 389 Erw. 1, 183 Erw. 4a mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung kann eine - nicht besonders schwerwiegende - Verletzung des rechtlichen Gehörs als geheilt gelten, wenn die betroffene Person die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen kann. Die Heilung eines - allfälligen - Mangels soll aber die Ausnahme bleiben (BGE 125 V 371 Erw. 4c/aa, 124 V 392 Erw. 5a und 183 Erw. 4a, je mit Hinweisen).
 
d) Die Beschwerdeführer haben bereits im kantonalen Prozess beantragt, der R.________ anrechenbare Lohn sei gestützt auf die Annahmen der Arbeitslosenkasse auf Fr. 4000. - zu reduzieren, und legten eine entsprechende Abrechnung dieser Kasse ins Recht. Die Vorinstanz zog die Akten der Arbeitslosenkasse bei und gelangte zum Schluss, dass der R.________ anzurechnende Lohn auf Fr. 8000. - festzusetzen sei, wie der Nachzahlungsverfügung zu Grunde gelegt. Zu den Überlegungen, mit welchen die Vorinstanz die Argumentation der Beschwerdeführer verwarf, konnten sich diese nicht äussern. Insofern liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor. Da das Eidgenössische Versicherungsgericht in Schadenersatzprozessen nach Art. 52 AHVG nur über eine eingeschränkte Kognition verfügt (Erw. 2 hievor), ist dieser Mangel im vorliegenden Verfahren nicht heilbar (nicht veröffentlichtes Urteil E. vom 30. Oktober 1996, H 130/95). Daher wird die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie den Beschwerdeführern das rechtliche Gehör zum Masslichen des von ihnen zu leistenden Schadenersatzes gewähre.
 
8.- Da es nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen geht, ist das Verfahren kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Die Beschwerdeführer unterliegen dem Grundsatz nach, obsiegen aber insofern, als die Schadenersatzforderung teilweise, nämlich im Umfang von rund einem Viertel des Betrages, masslich nochmals überprüft werden muss. Es rechtfertigt sich daher, ihnen die Gerichtskosten zu drei Vierteln aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 3 OG). Sie haben ferner Anspruch auf eine reduzierte
 
Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 OG).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit darauf einzutreten ist, wird in dem Sinne teilweise gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 30. September 1999 aufgehoben und die Sache wird an dieses zurückgewiesen wird, damit es im Sinne der Erwägungen verfahre.
 
II. Die Gerichtskosten von total Fr. 3000. - werden zu drei Vierteln den Beschwerdeführern und zu einem Viertel der Ausgleichskasse Zug auferlegt. Der auf die Beschwerdeführer entfallende Teil ist durch die geleisteten Kostenvorschüsse gedeckt; der Differenzbetrag von Fr. 2150. - wird ihnen anteilmässig zurückerstattet.
 
III. Die Ausgleichskasse Zug hat den Beschwerdeführern für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1000. - (inkl. Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 4. August 2000
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der II. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
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