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Informationen zum Dokument  BGer I 2/2000  Materielle Begründung
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BGer I 2/2000 vom 10.11.2000
 
[AZA 7]
 
I 2/00 Ge
 
III. Kammer
 
Bundesrichter Schön, Bundesrichterin Widmer und nebenamtlicher
 
Richter Bühler; Gerichtsschreiber Grünvogel
 
Urteil vom 10. November 2000
 
in Sachen
 
L.________, 1947, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Benno Lindegger, Marktgasse 20, St. Gallen,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, Frauenfeld, Beschwerdegegnerin,
 
und
 
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden
 
A.- Die 1947 geborene L.________ arbeitete ab 1972 als Texturiererin bei der Firma X.________ AG. Dieses Anstellungsverhältnis wurde von der Arbeitgeberfirma wegen Aufgabe des entsprechenden Produktionszweiges auf den 29. Februar 1996 gekündigt. Seither ist L.________ nicht mehr erwerbstätig. Sie leidet an einer generalisierten diffusen Schmerzkrankheit (undifferenzierte Somatisierungsstörung bei einfach strukturierter, sozial belasteter Persönlichkeit), einem chronischen lumbalen Schmerzsyndrom bei Fehlhaltung und Fehlform der Lendenwirbelsäule (LWS) mit muskulärer Dysbalance und Segmentdegeneration L5/S1 sowie an chronischen Zervikobrachialgien bei ausgeprägten degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule (HWS).
 
Am 14. Juli 1997 meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau holte neben einer Stellungnahme der Firma X.________ AG vom 3. September 1997 mehrere Arztberichte ein, worunter sich auch Ausführungen des Neurologen Dr.
 
H.________ vom 18. August 1997 sowie des Hausarztes Dr.
 
G.________ vom 4. November 1997 befanden. Ferner beauftragte die IV-Stelle die Medizinische Abklärungsstelle Zentralschweiz (MEDAS), Luzern, ein polydisziplinäres Gutachten (vom 16. November 1998) zu erstellen. Darin kamen die Ärzte zum Schluss, dass L.________ schwere bis mittelschwere Arbeiten, namentlich die angestammte Tätigkeit in der Spinnerei, nicht mehr zugemutet werden könnten; hingegen sei sie für eine leichte, wechselbelastende, vorwiegend sitzende Tätigkeit ohne zu lange Zwangshaltung und ohne häufige Überkopfarbeiten vollzeitlich einsetzbar. Gestützt darauf ermittelte die IV-Stelle einen Invaliditätsgrad von 10 % und lehnte die Ausrichtung einer Rente nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom 8. Juli 1999 ab.
 
B.- Eine dagegen erhobene Beschwerde, mit der L.________ eine Stellungnahme des Dr. H.________ vom 20.
 
Januar 1998 beigebracht hatte, wies die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 16. November 1999 ab.
 
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt L.________ beantragen, die Verfügung vom 8. Juli 1999 sowie der vorinstanzliche Entscheid vom 16. November 1999 seien aufzuheben und die Angelegenheit sei an die Vorinstanz zwecks Einholung eines Gutachtens über den Gesundheitszustand von L.________ zurückzuweisen; eventuell sei ihr mit Wirkung ab 1. Juli 1997 eine ganzen Invalidenrente zuzusprechen.
 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, hat sich das Bundesamt für Sozialversicherung nicht vernehmen lassen.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Die Vorinstanz hat die vorliegend massgeblichen gesetzlichen Bestimmungen über den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und Abs. 1bis IVG) und die Bemessung der Invalidität von Erwerbstätigen nach der Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG) zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen zur Aufgabe des Arztes im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 115 V 134 Erw. 2, 105 V 158 Erw. 1; vgl. auch BGE 114 V 314 Erw. 3). Darauf kann verwiesen werden.
 
Beizufügen ist, dass der Einkommensvergleich in der Regel in der Weise zu erfolgen hat, dass die beiden hypothetischen Erwerbseinkommen ziffernmässig möglichst genau ermittelt und einander gegenübergestellt werden, worauf sich aus der Einkommensdifferenz der Invaliditätsgrad bestimmen lässt. Insoweit die fraglichen Erwerbseinkommen ziffernmässig nicht genau ermittelt werden können, sind sie nach Massgabe der im Einzelfall bekannten Umstände zu schätzen und die so gewonnenen Annäherungswerte miteinander zu vergleichen (allgemeine Methode des Einkommensvergleichs; BGE 104 V 136 Erw. 2a und b).
 
2.- a) Zutreffend wiedergegeben hat die Vorinstanz auch die prozessualen Regeln zur freien Beweiswürdigung und zum Beweiswert von medizinischen Berichten und Gutachten (BGE 122 V 160 Erw. 1c mit Hinweisen. ; vgl. auch BGE 125 V 351 mit Hinweisen).
 
b) Mit diesen Regeln steht in Einklang, dass Vorinstanz und Verwaltung bei der Würdigung der widersprüchlichen Beurteilung der Arbeitsfähigkeit der Versicherten durch den Neurologen Dr. J. H.________ (100%ige Arbeitsunfähigkeit ab 1. Juli 1997 gemäss Attest vom 20. Januar 1998 unter Widerruf der in einem früheren Bericht vom 18.
 
August 1997 irrtümlich attestierten 100%igen Arbeitsfähigkeit) sowie Dr. G.________ (50 % ab Januar 1997 gemäss Stellungnahme vom 4. November 1997) einerseits und durch die Ärzte der MEDAS im Gutachten vom 16. November 1998 anderseits auf letztere abgestellt haben. Das MEDAS-Gutachten beruht auf allseitigen Untersuchungen und die darin enthaltene, differenzierte Stellungnahme zur Arbeitsfähigkeit für mittelschwere bis schwere Arbeiten einerseits sowie für leichte, vorwiegend sitzende Tätigkeiten ohne längere Zwangshaltung oder häufige Überkopfarbeiten leuchtet auf Grund der bei der Versicherten festgestellten, nicht besonders gravierenden, körperlichen Gesundheitsschäden in der HWS und LWS ohne weiteres ein. Die Gutachter haben sodann im vierten Abschnitt der Expertise ("Zusammenfassung/Beurteilung der Befunde") ihre Schlussfolgerung einer vollständigen Arbeitsfähigkeit in einer geeigneten Verweisungstätigkeit in gut nachvollziehbarer Weise begründet.
 
Namentlich haben sie festgehalten, es sei verständlich, dass die Versicherte "ihre ganzen schmerzlichen Erfahrungen in ihrem Körper als Schmerzen ausdrückt", doch liege kein psychisches Leiden mit Krankheitswert und Einschränkung der Arbeitsfähigkeit vor. Die Begründung der gutachterlichen Arbeitsfähigkeitseinschätzung impliziert die Unrichtigkeit und das Fehlen einer medizinischen Grundlage für die gegenteilige Auffassung der Dres.
 
H.________ und G.________, wonach der Versicherten keine Arbeit bzw. nur noch eine solche mit einer Leistung von 50 % zuzumuten sei. Da Dr. H.________ wie auch Dr. G.________ ihre gegensätzliche Einschätzung in keiner Weise medizinisch begründet haben, bedurfte es auch keiner ausdrücklichen Widerlegung ihrer abweichenden Atteste, um diese als unrichtig und unschlüssig einzustufen.
 
c) Ganz allgemein übersieht die Beschwerdeführerin, dass im vorliegenden Fall für die Stellungnahme zur Arbeitsfähigkeit ein Auseinanderhalten der psychisch bedingten Beschwerden und der relativ geringen, objektivierbaren körperlichen Befunde von ausschlaggebender Bedeutung ist.
 
Die Gutachter haben auf Grund der Vielzahl der geklagten Beschwerden und der unverhältnismässigen Art der Schilderung derselben auf das Vorliegen einer massiven Aggravation geschlossen und diese als undifferenzierte Somatisierungsstörung diagnostiziert. Zur Annahme einer durch einen solchen psychogenen Gesundheitsschaden verursachten Erwerbsunfähigkeit genügt es indessen nach ständiger Rechtsprechung nicht, dass der Versicherte nicht hinreichend erwerbstätig ist; entscheidend ist vielmehr, ob anzunehmen ist, die Verwertung der Arbeitsfähigkeit sei ihm sozialpraktisch nicht mehr zumutbar oder - als alternative Voraussetzung - sogar für die Gesellschaft untragbar (BGE 102 V 165; AHI 1996 S. 302 Erw. 2a, S. 305 Erw. 1a, S. 308 Erw. 2a; ZAK 1992 S. 170 Erw. 2a mit Hinweisen). Da die Gutachter der MEDAS bei der Beschwerdeführerin aber keine psychische Krankheit feststellen konnten, welche die Verwertung ihres körperlichen Leistungsvermögens in einer geeigneten Tätigkeit für sie selbst als unzumutbar oder für die Gesellschaft als untragbar erscheinen liesse, haben sie das Vorliegen einer psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeit zu Recht verneint.
 
d) Die auf einer umfassenden Anamnese beruhende Einschätzung der Restarbeitsfähigkeit durch die MEDAS erscheint demnach schlüssig und überzeugend. Von zusätzlichen Abklärungen sind keine neuen entscheidwesentlichen Erkenntnisse zu erwarten, weshalb von der beantragten Rückweisung an die Vorinstanz zwecks weiterer Abklärungen abzusehen ist.
 
Im Übrigen genügen entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht bereits geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der Feststellungen und Schlussfolgerungen von MEDAS-Gutachten, um die Notwendigkeit ergänzender Abklärungen zu begründen. Die von der Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang zitierte Rechtsprechung (BGE 122 V 162 Erw. 1d) betrifft die Unparteilichkeit und Zuverlässigkeit der von versicherungsinternen Ärzten der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt erstellten Entscheidungsgrundlagen und nicht diejenigen von MEDAS-Ärzten (vgl. dazu BGE 123 V 178 Erw. 4b).
 
e) Soweit schliesslich die Beschwerdeführerin auf die durch die Krankentaggeldversicherungen (u.a. am 3. Februar 1998) sowie die Arbeitslosenkasse (am 27. November 1997) vorgenommenen Einschätzungen der Restarbeitsfähigkeit ab
 
1. März 1997 verweist, ist festzuhalten, dass diese in Unkenntnis der Ergebnisse der medizinischen Abklärungen durch die MEDAS (vom 16. November 1998) erfolgt sind.
 
3.- Nicht zu beanstanden ist schliesslich der von der Vorinstanz bestätigte Einkommensvergleich der IV-Stelle, woraus sich ein Invaliditätsgrad von rund 10 % ergab. Die Beschwerdeführerin bringt nichts dagegen vor, weshalb sich weitere Ausführungen erübrigen.
 
4.- Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten erweist sich daher als gegenstandslos. Die unentgeltliche Verbeiständung kann hingegen gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a mit Hinweisen).
 
Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
III. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Benno Lindegger, St. Gallen, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
 
aus der Gerichtskasse eine Entschädigung
 
(einschliesslich Mehrwertsteuer) von Fr. 2500.- ausgerichtet.
 
IV. Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 10. November 2000
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der III. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
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