VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer U 187/1999  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer U 187/1999 vom 05.03.2001
 
[AZA 7]
 
U 187/99 Gr
 
I. Kammer
 
Präsident Lustenberger, Bundesrichter Schön, Spira, Rüedi
 
und Bundesrichterin Widmer; Gerichtsschreiberin Berger
 
Urteil vom 5. März 2001
 
in Sachen
 
E.________, 1977, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin
 
Cordula Spörri, St. Urbangasse 2, Zürich,
 
gegen
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Luzern,
 
Beschwerdegegnerin,
 
und
 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
 
A.- Der 1977 geborene E.________ war seit 22. August
 
1994 als Elektromonteurlehrling in der Firma G.________
 
tätig und in dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen
 
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen die
 
Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Am
 
30. April 1995 stürzte er im Rahmen einer Freizeitveranstaltung
 
bei der Abfahrt auf der Passstrasse, nachdem er
 
mit seinem Rollbrett den Rollschuh eines überholenden Rollschuhfahrers
 
gestreift hatte. Der erstbehandelnde Dr. med.
 
H.________, Assistenzarzt, Departement Chirurgie des
 
Spitals Z.________, diagnostizierte am 1. Mai 1995 ein
 
Schädel-Hirntrauma mit Kalottenfraktur occipital, Kontusionen
 
parietal und frontobasal links, einen Verdacht auf
 
Felsenbeinfraktur links sowie Prellungen/Schürfungen am
 
linken Knie und Beckenkamm. Die SUVA anerkannte grundsätzlich
 
ihre Leistungspflicht, kürzte jedoch mit Verfügung
 
vom 12. September 1995 die Geldleistungen wegen Vorliegens
 
eines Wagnisses um 50 %. Daran hielt sie auf Einsprache hin
 
fest (Einspracheentscheid vom 5. Juni 1996).
 
B.- Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht
 
des Kantons Zürich ab (Entscheid vom
 
14. April 1999).
 
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt E.________
 
beantragen, in Aufhebung des kantonalen Entscheids sei das
 
Vorliegen eines Wagnisses zu verneinen und die SUVA sei zu
 
verpflichten, die gesetzlich geschuldeten Geldleistungen
 
ungekürzt auszurichten.
 
Die SUVA verzichtet unter Hinweis auf den vorinstanzlichen
 
Entscheid auf eine Stellungnahme. Das Bundesamt für
 
Sozialversicherung lässt sich nicht vernehmen.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Das kantonale Gericht hat die massgebenden Bestimmungen
 
zum Begriff des Wagnisses (Art. 39 UVG in Verbindung
 
mit Art. 50 Abs. 2 UVV), welcher mit jenem identisch ist,
 
der unter der Herrschaft des bis 31. Dezember 1983 in Kraft
 
gestandenen KUVG gültig war, sowie die dazu entwickelte
 
Rechtsprechung, welche zwischen absoluten und relativen
 
Wagnissen unterscheidet (BGE 112 V 47 Erw. 2a und 300 Erw.
 
1b, je mit Hinweisen; siehe auch BGE 113 V 223 Erw. 3c und
 
SVR 1997 UV Nr. 81 S. 294 Erw. 3a), zutreffend dargelegt.
 
Darauf kann verwiesen werden.
 
2.- a) Nach der Rechtsprechung zu verschiedenen gefährlichen
 
Sportarten gelten zunächst solche als absolute
 
Wagnisse, die wettkampfmässig betrieben werden und bei
 
denen es auf die Geschwindigkeit ankommt (Motocross-Rennen:
 
RKUV 1991 Nr. U 127 S. 221; Auto-Bergrennen: BGE 113 V 222,
 
112 V 44; Karting-Rennen: nicht veröffentlichtes Urteil N.
 
vom 4. November 1964, U 23/64). Im Weitern gelten Boxwettkämpfe
 
als absolutes Wagnis, da die Angriffe direkt auf den
 
Körper zielen (EVGE 1962 S. 280). Die Ausübung anderer
 
Sportarten kann je nach Beeinflussbarkeit des Risikos einmal
 
ein absolutes, ein andermal - bei weiteren gegebenen
 
Umständen - ein relatives Wagnis darstellen (Canyoning:
 
BGE 125 V 312; Auto-Rallye: BGE 106 V 45; Deltasegeln:
 
BGE 104 V 19, nicht veröffentlichte Urteile J. vom 1. Juli
 
1980, U 45/79, und D. vom 27. September 1978, U 5/78; Höhlentauchen:
 
BGE 96 V 100; Klettern: BGE 97 V 72 und 86;
 
Schlitteln mit aufgeblasenen Auto- und Lastwagenschläuchen:
 
RKUV 1999 Nr. U 348 S. 473).
 
b) Abfahrten mit dem Rollbrett, wie unter anderem auch
 
solche mit Skiern, mit dem Snowboard oder mit dem Velo,
 
bergen gewisse Verletzungsgefahren. Insoweit Rollbrettabfahrten
 
allerdings nicht wettkampfmässig und auf Geschwindigkeit
 
betrieben werden, stellen diese im Lichte der in
 
Erw. 2a hievor dargelegten Praxis kein absolutes Wagnis
 
dar. Es sprechen auch keine Gründe gegen die Bejahung des
 
schützenswerten Charakters einer solchen sportlichen Betätigung.
 
3.- a) Gemäss dem Bericht der Polizei des Kantons
 
X.________ vom 4. Juni 1995 und den Aussagen des Koordinators
 
des Anlasses anlässlich der Befragung durch die
 
Bezirksanwaltschaft Z.________ vom 28. März 1996 sind am
 
Morgen des 30. April 1995 43 Jugendliche mit einem Reisecar
 
in A.________ eingetroffen, um mit Rollbrettern, Rollschuhen
 
und Ähnlichem einen ungefähr drei Kilometer langen Abschnitt
 
der - zu jener Zeit (Wintersaison) für den motorisierten
 
Verkehr geschlossenen - asphaltierten, sieben bis
 
acht Meter breiten, stetig abfallenden Passstrasse hinunterzufahren.
 
Vorgängig hatte ein Mitveranstalter den Streckenabschnitt
 
zu Fuss besichtigt, um zu überprüfen, ob er
 
für Rollbrett- und Rollschuhfahrer benutzbar sei, insbesondere,
 
ob Geröll und Äste auf der Strasse lagen. Kurz vor
 
dem 30. April 1995 erkundigte sich der Koordinator, welcher
 
diese Plauschfahrt zum dritten Mal mitorganisierte und die
 
Strecke seit einer Abfahrt mit den Rollschuhen im Jahr 1985
 
oder 1986 kennt, bei der Polizei in A.________ nochmals
 
über den Zustand der Strasse. In der schriftlichen Einladung
 
und auf der Fahrt nach A.________ wurden die Teilnehmenden
 
aufgefordert, Schutzhelm, Ellbogenschützer, Knieschoner
 
und gute Sportkleidung zu tragen. Die Abfahrt selber
 
konnte jede Person ihren Fähigkeiten entsprechend
 
gestalten, ohne Gruppeneinteilung und ohne Zeitvorgaben.
 
b) Am 30. April 1995 war das Wetter für eine Abfahrt
 
mit dem Rollbrett gut. Der fragliche Strassenabschnitt war
 
trocken und für den motorisierten Verkehr gesperrt. Die
 
Ausrüstung des Versicherten, welche ein Slalom-Rollbrett,
 
einen Helm, Ellbogen-, Knieschoner, Handschuhe und strapazierfähige
 
Kleidung umfasste, gab zu keinen Beanstandungen
 
Anlass. Nachdem die erste Abfahrt ohne Zwischenfälle verlaufen
 
war, startete er das zweite Mal als einer der letzten,
 
langsameren Teilnehmer, fuhr allein, kontrolliert, und
 
führte zahlreiche kleine Links- und Rechtskurven aus, welche
 
das Erreichen höherer Geschwindigkeiten verhinderten.
 
Er war zudem ein routinierter Rollbrettfahrer, der diesen
 
Sport gut beherrschte. Es ist der Vorinstanz beizupflichten,
 
dass die Verletzungsgefahr durch den Umstand, dass
 
Personen mit unterschiedlichen Fortbewegungsmitteln (mehrheitlich
 
mit Rollbrettern und Rollschuhen, aber auch mit
 
einem Gokart und mit einem "Migros-Einkaufswagen"), Fahrtgeschwindigkeiten
 
und Bewegungsrhythmen an der Veranstaltung
 
teilgenommen haben, erhöht war. Durch seinen späten
 
Einzelstart und seine vorsichtige Fahrweise konnte der
 
Beschwerdeführer allerdings das Risiko, mit Personen zusammenzustossen,
 
welche die Abfahrt mit hohem Tempo absolvieren
 
wollten oder mit einem für das Vorhaben ungeeigneten
 
Gefährt unterwegs waren, auf ein vertretbares Mass reduzieren.
 
Mit Blick auf diese konkreten Verhältnisse ist das
 
Vorliegen eines relativen Wagnisses zu verneinen. Entgegen
 
den Ausführungen im angefochtenen Entscheid ändert daran
 
nichts, dass der Versicherte stürzte, weil er mit seinem
 
Rollbrett den Rollschuh eines Überholenden gestreift hatte.
 
Denn es ergeben sich nicht nur bei Abfahrten mit dem Rollbrett,
 
sondern auch bei ganz alltäglichen Verrichtungen
 
häufig Situationen, in denen eine Person vom Wohlverhalten
 
eines Mitmenschen abhängig ist, ohne sich damit einem Wagnis
 
auszusetzen. Massgebend ist, dass der Beschwerdeführer
 
auf Grund seiner Vorbereitung auf die Veranstaltung und
 
seines umsichtigen Verhaltens während der Abfahrt lediglich
 
ein geringes Restrisiko in Kauf genommen hat.
 
4.- Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG).
 
Dem Prozessausgang entsprechend steht dem Beschwerdeführer
 
eine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 1 in Verbindung
 
mit Art. 135 OG).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden
 
der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des
 
Kantons Zürich vom 14. April 1999 und der Einspracheentscheid
 
der SUVA vom 5. Juni 1996 aufgehoben.
 
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
III. Die SUVA hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren
 
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung
 
von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer)
 
zu bezahlen.
 
IV. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wird
 
über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren
 
entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
 
Prozesses zu befinden haben.
 
V. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht
 
des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
 
Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 5. März 2001
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der I. Kammer:
 
Die Gerichtsschreiberin:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).