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Informationen zum Dokument  BGer H 320/2000  Materielle Begründung
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BGer H 320/2000 vom 08.08.2001
 
[AZA 7]
 
H 320/00 Vr
 
II. Kammer
 
Präsident Lustenberger, Bundesrichter Meyer und Ferrari;
 
Gerichtsschreiber Nussbaumer
 
Urteil vom 8. August 2001
 
in Sachen
 
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
L.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecher Dr. Rudolf Steiner, Römerstrasse 6, 4600 Olten,
 
und
 
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn
 
A.- L.________ war einziger Verwaltungsrat der M.________ AG. Per 23. August 1995 wurde der Gesellschaft die Nachlassstundung gewährt. Am 9. September 1996 verweigerte das Obergericht des Kantons Solothurn die Genehmigung des Nachlassvertrages. Daraufhin eröffnete der Amtsgerichtspräsident von Thal-Gäu am 9. Oktober 1996 den Konkurs über die Gesellschaft. Im Konkursverfahren gab die Ausgleichskasse IMOREK am 25. Februar 1997 eine Forderung für ausstehende Beiträge in der Zeit vom 2. Quartal 1994 bis zum 2. Quartal 1996 (samt Schlussabrechnung per
 
9. Oktober 1996) im Gesamtbetrag von Fr. 119'330. 40 ein.
 
Vom 20. September bis 10. Oktober 1999 lag der Kollokationsplan auf, woraus sich eine Konkursdividende von rund 20 % für die Gläubiger der zweiten Klasse ergab. Mit Verfügung vom 11. Oktober 1999 verpflichtete die Ausgleichskasse L.________ zur Bezahlung von Schadenersatz in Höhe von Fr. 82'298. 95.
 
B.- Die auf Einspruch hin von der Ausgleichskasse IMOREK gegen L.________ eingereichte Klage auf Bezahlung von Schadenersatz in verfügtem Umfang wies das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 9. August 2000 ab.
 
C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Sache zu neuem Entscheid an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
 
L.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Die Ausgleichskasse verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
 
2.- Die rechtlichen Grundlagen (Art. 52 AHVG, Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV) und die zur subsidiären Haftbarkeit der Organe (vgl. statt vieler BGE 123 V 15 Erw. 5b) sowie zur Haftungsvoraussetzung des zumindest grobfahrlässigen Verschuldens (BGE 108 V 186 Erw. 1b, 193 Erw. 2b; ZAK 1985 S. 576 Erw. 2, 619 Erw. 3a) ergangene Rechtsprechung finden sich im kantonalen Entscheid zutreffend wiedergegeben. Darauf kann verwiesen werden.
 
3.- a) Das kantonale Gericht hat im angefochtenen Entscheid für die Kenntnisnahme des Schadens auf den Kollokationsplan abgestellt, die Rechtzeitigkeit der Schadenersatzklage und die Verletzung der Beitragsabrechnungs- und Zahlungspflicht durch die Arbeitgeberin bejaht. Ferner hat es festgehalten, dass die Zahlungsvereinbarung vom 5. Januar 1995 den Beschwerdegegner nicht zu entlasten vermöge.
 
Entscheidend sei indessen, dass die Arbeitgeberfirma nach Gewährung der Nachlassstundung in der Lage gewesen sei, Mittel für die Begleichung der aufgelaufenen privilegierten Forderungen zu erwirtschaften und einen Nachlassvertrag vorzulegen, welcher die vollständige Bezahlung der Sozialversicherungsbeiträge vorsah. Die Firma und der Beschwerdegegner hätten sich mit anderen Worten bemüht, den zu erwartenden Schaden doch noch von der Ausgleichskasse abzuwenden.
 
Dass der Nachlassvertrag schliesslich nicht genehmigt worden sei, was zum Konkurs der Firma und dem Beitragsausfall der Klägerin geführt habe, sei nicht ohne weiteres vorhersehbar gewesen. Vor diesem Hintergrund könne aber die seinerzeitige Nichtbezahlung der Beiträge der Firma oder dem Beklagten nicht mehr zum Vorwurf gemacht werden. Somit sei die Klage hinsichtlich der vor dem 23. August 1995 aufgelaufenen Beitragsausstände abzuweisen. Hinsichtlich der nach diesem Zeitpunkt fällig gewordenen Beiträge stellte das kantonale Gericht fest, dass Beiträge über Fr. 44'051. 30 fällig geworden seien. Davon seien die Rechnungen vom 20. September und 19. Dezember 1995 über Fr. 11'411. 65 und Fr. 10'809. 95 noch beglichen worden. Die Rechnung vom 10. Juli 1996 sei Gegenstand eines am 12. Juli 1996 gewährten Zahlungsaufschubs gewesen. Zwar sei die erste, Mitte September 1996 fällig gewordene Zahlung nicht mehr geleistet worden, doch dürfe dies, da kurze Zeit später der Konkurs erfolgt sei, nicht mehr als grobschuldhaftes Verhalten gewertet werden (Hinweis auf BGE 124 V 255 Erw. 4a). Im Übrigen könne nicht gesagt werden, der Zahlungsaufschub sei wider besseres Wissen verlangt worden, rechnete man damals doch noch mit der Genehmigung des Nachlassvertrages und einer Stabilisierung der finanziellen Verhältnisse. Die Klage sei demnach auch hinsichtlich der nach dem 23. August 1995 aufgelaufenen Beitragsausstände abzuweisen.
 
b) Gegen diese Betrachtungsweise bringt das Bundesamt für Sozialversicherung vor, ein Rechtfertigungsgrund liege vielmehr nur dann vor, wenn der Beschwerdegegner bei einer seriösen Beurteilung der Lage anhand objektiver Kriterien damit rechnen durfte, er könne durch das Nichtzahlen der Beiträge sein Unternehmen retten und die Forderung der Ausgleichskasse innert nützlicher Frist später begleichen (Hinweis auf BGE 108 V 188 Erw. 2). Ob ein solcher Rechtfertigungsgrund gegeben sei, beurteile sich aus der Sicht der Verhältnisse im Zeitpunkt der Beitragszahlungspflicht, welcher in aller Regel vor dem Entscheid über das Nachlassgesuch liege. Im Lichte dieser Ausführungen könne es für die Exkulpationsfrage nicht darauf ankommen, ob ein Nachlassvertrag zustande komme, oder ob und aus welchen Gründen ein solcher scheitere (Hinweis auf das nicht veröffentlichte Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 9. Oktober 1997 in Sachen R. [H 308/96]). Den Akten sei zu entnehmen, dass die Arbeitgeberfirma seit September 1993 mit der Bezahlung der Beiträge im Verzug gewesen sei. Zwar habe die Ausgleichskasse mit Schreiben vom 5. Januar 1995 einem Tilgungsplan zugestimmt, der die Firma verpflichtet habe, ab Mitte Februar 1995 die inzwischen geschuldeten Beiträge von über Fr. 60'000.- in monatlichen Raten von je Fr. 7500.- abzubezahlen. Diese Verpflichtung sei bis Juli 1995 mehr oder weniger eingehalten worden und es seien insgesamt Fr. 37'500.- abbezahlt worden. Am 23. August 1995 sei der Firma Nachlassstundung gewährt worden und es seien daraufhin keine weiteren Raten mehr entrichtet worden.
 
Unter diesen Umständen könne angesichts der Zeitspanne von September 1993 bis August 1995 nicht von einem vorübergehenden Liquiditätsengpass gesprochen werden. Die Arbeitgeberfirma habe nicht davon ausgehen dürfen, die Beitragsforderung innert nützlicher Frist tilgen zu können. Der Verstoss gegen Art. 14 Abs. 1 AHVG wiege schwer, sodass ein qualifiziertes Verschulden vorliege. Auch gehe es nicht an, die Bezahlung der Beiträge vor und nach dem 23. August 1995 strikte getrennt zu beurteilen. Nach der Gewährung der Nachlassstundung habe die Arbeitgeberfirma nämlich mit grössten Liquiditätsproblemen zu kämpfen gehabt, die schliesslich zur Nichtbestätigung des Nachlassvertrages geführt hätten. Zwar konnten zwei Pauschalabrechnungen vom September und Dezember 1995 noch beglichen werden. Die Pauschalabrechnungen für März und Juni 1996 seien allem Anschein nach jedoch nicht mehr bezahlt worden, was die Vorinstanz in ihren Erwägungen nicht berücksichtigt habe. Die Ratenzahlung gemäss Tilgungsplan vom 12. Juli 1996 sei lediglich für die Jahresabrechnung 1995 vom 10. Juli 1996 über Fr. 12'634.- gewährt worden. Die erste Rate sei bis Mitte September 1996 aufgeschoben worden. Zwar sei infolge der Nichtbestätigung des Nachlassvertrages am 9. September 1996 bereits am 9. Oktober 1996 der Konkurs über die Gesellschaft eröffnet worden. Auf Grund der bereits vor der Nachlassstundung und anscheinend auch während der Nachlassstundung nicht bezahlten Pauschalbeiträge dürfe das grobe Verschulden für die im Tilgungsplan enthaltenen Beiträge nicht einfach wegen der kurzen Zeit zwischen Rechnungstellung und Konkurs verneint werden. Die Nichtbezahlung dieser Beiträge müsse vielmehr im gesamten Zusammenhang gesehen werden, sodass nicht von einem straffen Beitragswesen der Gesellschaft ausgegangen werden könne, welches ein grobes Verschulden ausschliesse.
 
c) Es steht fest, dass die Arbeitgeberfirma nebst der Jahresabrechnung 1992 vom 12. März 1993 seit der Pauschalabrechnung für das 3. Quartal 1993 vom 17. September 1993 mit der Zahlungspflicht in Rückstand geraten ist, sodass die Ausgleichskasse am 5. Januar 1995 für die Pauschalabrechnungen für das 3. Quartal 1993, die Jahresabrechnung 1992 und die Pauschalabrechnungen für die ersten drei Quartale 1994 einen Tilgungsplan gewährte. In der Folge leistete zwar die Arbeitgeberin die ersten fünf Raten.
 
Gleichzeitig kam sie aber der Zahlungspflicht für die laufenden Pauschalabrechnungen ab 4. Quartal 1994 und für die Schlussabrechnung 1994 vom 30. März 1995 nicht mehr nach. Auch nach Gewährung der Nachlassstundung per
 
23. August 1995 liess die Arbeitgeberfirma die Beitragsschuld weiter ansteigen. Damit verstiess sie während Jahren gegen die Beitragszahlungs- und -abrechnungspflicht und missachtete dadurch Vorschriften im Sinne von Art. 52 AHVG.
 
Dieses Verschulden der Arbeitgeberin ist entgegen der Auffassung der Vorinstanz auch dem Beschwerdegegner als grobfahrlässiges Verhalten anzurechnen. Weder die vereinbarten Tilgungspläne noch die gewährte Nachlassstundung berechtigten die Arbeitgeberfirma und deren verantwortliches Organ, die Beitragsschulden weiter auflaufen zu lassen. Vielmehr hätten sie Vorkehren treffen müssen, neben den Tilgungsraten die laufend fällig gewordenen Beiträge zu bezahlen oder sicherzustellen. Insbesondere ist die Gewährung einer (verlängerten) Nachlassstundung nicht als Umstand zu werten, welcher für die Einschätzung der im Zeitpunkt der unterbliebenen Zahlung gegebenen Situation präjudiziell ist, da die für den Entscheid über die Nachlassstundung relevanten schuldbetreibungs- und konkursrechtlichen Kriterien mit den Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Haftungsbefreiung nach Massgabe von BGE 108 V 183 nicht übereinstimmen (Urteil T. vom 13. November 2000 [H 278/99] und erwähntes Urteil R. vom 9. Oktober 1997 [H 308/96]). Sodann vermag die per 23. August 1995 gewährte Nachlassstundung den mit der Jahresabrechnung 1992 vom 12. März 1993 einsetzenden und bis zum Zeitpunkt der Nachlassstundung bereits während mehr als zwei Jahren andauernden Verstoss gegen Art. 14 Abs. 1 AHVG nicht rückwirkend zu entschuldigen.
 
Vielmehr ist im Lichte von BGE 108 V 183 entscheidend, dass der Arbeitgeber im Zeitpunkt, in welchem die Zahlungen erfolgen sollten, nach den Umständen damit rechnen durfte, dass er die Beitragsschuld innert nützlicher Frist werde tilgen können. Angesichts des lang andauernden Verstosses gegen die AHV-rechtlichen Pflichten kann, wie das BSV zu Recht einwendet, nicht von einer verschuldensmindernden kurzen Dauer des Beitragsausstandes (vgl. BGE 121 V 243) gesprochen werden, noch darf das Verhalten vor und nach Gewährung der Nachlassstundung getrennt betrachtet werden.
 
Der Beschwerdegegner hätte als verantwortliches Organ der Arbeitgeberin alles daran setzen müssen, während der Dauer des Nachlassverfahrens die Beitragsschuld nicht weiter ansteigen zu lassen. Entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts ist daher ein grobfahrlässiges Verhalten des Beschwerdegegners für die gesamte Dauer des Beitragsausstandes zu bejahen.
 
d) Was die weiteren Haftungsvoraussetzungen betrifft, so ist mit dem kantonalen Gericht als Zeitpunkt der Schadenskenntnis auf die Auflage des Kollokationsplanes abzustellen (BGE 126 V 443). Hingegen enthält der kantonale Gerichtsentscheid keine tatsächlichen Feststellungen über die Höhe des geltend gemachten Schadens, weil die Vorinstanz diesen Punkt angesichts der Abweisung der Schadenersatzklage offen liess. Die Sache geht daher an das kantonale Gericht, damit es über die Höhe des vom Beschwerdegegner zu bezahlenden Schadenersatzes befinde.
 
4.- Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdegegner kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario in Verbindung mit Art. 156 OG).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I.In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird
 
der vorinstanzliche Entscheid vom 9. August 2000 aufgehoben,
 
und es wird die Sache an das Versicherungsgericht
 
des Kantons Solothurn zurückgewiesen, damit
 
dieses im Sinne der Erwägungen über die Schadenersatzklage
 
neu befinde.
 
II.Die Gerichtskosten von Fr. 4000.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
 
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht
 
des Kantons Solothurn und der Ausgleichskasse
 
IMOREK zugestellt.
 
Luzern, 8. August 2001
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der II. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
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