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Informationen zum Dokument  BGer I 374/2001  Materielle Begründung
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BGer I 374/2001 vom 26.11.2001
 
[AZA 7]
 
I 374/01 Vr
 
II. Kammer
 
Präsident Lustenberger, Bundesrichter Meyer und Ferrari;
 
Gerichtsschreiber Ackermann
 
Urteil vom 26. November 2001
 
in Sachen
 
B.________, 1964, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Hebeisen, Löwenstrasse 12, 8280 Kreuzlingen,
 
gegen
 
IV-Stelle Schaffhausen, Oberstadt 9, 8200 Schaffhausen, Beschwerdegegnerin,
 
und
 
Obergericht des Kantons Schaffhausen, Schaffhausen
 
A.- B.________, geboren 1964, war von 1994 bis Anfang 1999 als Raumpflegerin bei der Firma K.________ angestellt.
 
Am 25. Februar 1998 meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle Schaffhausen holte je einen Bericht des Arbeitgebers vom 2. März 1998 und des Hausarztes Dr. med. S.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 7. März 1998 (inkl. Bericht der Klinik X.________ vom 9. Februar 1998) ein. Weiter veranlasste die IV-Stelle vom 29. April bis 30. Mai 1998 einen Aufenthalt in der Höhenklinik Y.________ sowie je eine Untersuchung durch Dr.
 
med. R.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH (Bericht vom 20. Juli 1998) und durch Dr. med.
 
T.________, leitender Arzt Orthopädie/Traumatologie der Abteilung Chirurgie des Spitals Z.________ (Gutachten vom 1. April 1999). Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren und dem Beizug eines Berichtes zuhanden der Krankenversicherung des Dr. med. G.________, Innere Medizin FMH, spez.
 
Nephrologie, vom 18. September 1998 lehnte die IV-Stelle mit Verfügung vom 28. Januar 2000 den Rentenanspruch der B.________ ab, da sie als Raumpflegerin zwar zu einem Drittel eingeschränkt sei, ihr eine leichtere Tätigkeit mit weniger Rückenbelastung jedoch vollschichtig zumutbar wäre, sodass ein Minderverdienst von nur 10 % anzunehmen sei.
 
B.- Die dagegen - unter Beilage eines Berichtes des Spitals J.________, Röntgendiagnostik und Nuklearmedizin, vom 16. Dezember 1997 - erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen mit Entscheid vom 4. Mai 2001 ab.
 
C.- B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den Anträgen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und der Verwaltungsverfügung seien ihr die gesetzlichen Leistungen zu gewähren; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Die IV-Stelle bringt in ihrer Vernehmlassung vor, dass im Gutachten des Dr. med. T.________ vom 1. April 1999 die Beurteilung des MRI-Untersuchungsberichtes vom 23. Februar 1999 möglicherweise nicht "adaequat diskutiert worden" sei.
 
Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- a) Nach Art. 4 Abs. 1 IVG gilt als Invalidität die durch einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit.
 
Zu den geistigen Gesundheitsschäden, welche in gleicher Weise wie die körperlichen eine Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG zu bewirken vermögen, gehören neben den eigentlichen Geisteskrankheiten auch seelische Abwegigkeiten mit Krankheitswert. Nicht als Auswirkungen einer krankhaften seelischen Verfassung und damit invalidenversicherungsrechtlich nicht als relevant gelten Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit, welche die versicherte Person bei Aufbietung allen guten Willens, Arbeit in ausreichendem Masse zu verrichten, zu vermeiden vermöchte, wobei das Mass des Forderbaren weitgehend objektiv bestimmt werden muss. Es ist somit festzustellen, ob und in welchem Masse eine versicherte Person infolge ihres geistigen Gesundheitsschadens auf dem ihr nach ihren Fähigkeiten offen stehenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein kann. Dabei kommt es darauf an, welche Tätigkeit ihr zugemutet werden darf. Zur Annahme einer durch einen geistigen Gesundheitsschaden verursachten Erwerbsunfähigkeit genügt es also nicht, dass die versicherte Person nicht hinreichend erwerbstätig ist; entscheidend ist vielmehr, ob anzunehmen ist, die Verwertung der Arbeitsfähigkeit sei ihr sozial-praktisch nicht mehr zumutbar oder - als alternative Voraussetzung - sogar für die Gesellschaft untragbar (BGE 102 V 165; AHI 2000 S. 151 Erw. 2a mit Hinweisen).
 
b) Nach Art. 28 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf eine ganze Rente, wenn er mindestens zu 66 2/3 %, auf eine halbe Rente, wenn er mindestens zu 50 % oder auf eine Viertelsrente, wenn er mindestens zu 40 % invalid ist; in Härtefällen hat der Versicherte nach Art. 28 Abs. 1bis IVG bereits bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 % Anspruch auf eine halbe Rente.
 
c) Für die Bemessung der Invalidität wird gemäss Art. 28 Abs. 2 IVG das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre.
 
2.- Streitig ist die Höhe des Invaliditätsgrades und dabei insbesondere - als dessen Teilelement - das Mass der Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin.
 
a) Die Vorinstanz hat auf den Bericht des Dr. med.
 
T.________ vom 1. April 1999 abgestellt und in somatischer Hinsicht die Zumutbarkeit einer wechselbelastenden, leichten Tätigkeit angenommen. Gestützt auf die Ausführungen des Dr. med. R.________ vom 20. Juli 1998 hat sie einen psychischen Gesundheitsschaden, der die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt, verneint. Die Versicherte ist demgegenüber der Ansicht, dass sie wegen ihrer - von allen Ärzten und Fachstellen als glaubhaft erachteten - Schmerzen nicht mehr arbeitsfähig sei; weiter habe keine psychosomatische Abklärung stattgefunden, obwohl dies in einem Arztbericht verlangt worden sei.
 
b) Der Psychiater Dr. med. R.________ verneint klar das Vorliegen einer somatoformen Störung; Hinweise auf eine funktionelle Überlagerung bestünden ebenfalls nicht. Sein Bericht vom 20. Juli 1998 erfüllt die Anforderungen der Rechtsprechung an den Beweis von Arztberichten (BGE 125 V 352 Erw. 3a): Die Ausführungen des Dr. med. R.________ sind für die streitigen Belange umfassend. Entgegen den Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde hat der Arzt eine psychosomatische Abklärung vorgenommen, so wie dies von der Höhenklinik Y.________ am 24. Juni 1998 angeregt worden ist, denn psychosomatische Störungen sind eine Form der somatoformen Störungen (vgl. Weltgesundheitsorganisation, Internationale Klassifikation psychischer Störungen,
 
4. Auflage, Bern et al. 2000, S. 366, welche im Index für den Begriff "psychosomatische Störung" - je nach Ausgestaltung - auf die somatoformen Störungen nach F45. 0, F45. 9 und F45. 1 verweist). Solche Störungen werden jedoch klarerweise verneint. Der Bericht beruht auf einer kurzen, aber allseitigen psychiatrischen Untersuchung, berücksichtigt die geklagten Beschwerden und ist in Kenntnis der Vorakten abgegeben worden, wobei zu berücksichtigen ist, dass der untersuchende Arzt schon den Ehemann der Beschwerdeführerin behandelt hat und deswegen die Familiengeschichte gut kennt. Die Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und der medizinischen Situation durch Dr. med. R.________ leuchtet ein, wie auch der Bericht begründete Schlussfolgerungen aufweist.
 
Da die inhaltlichen Vorgaben an einen Arztbericht erfüllt sind, kann auf die Äusserungen des Dr. med.
 
R.________ abgestellt werden; daran ändert auch die Kürze des Berichtes nichts, denn wo - wie hier - nach Ansicht des Experten klarerweise keine psychischen Störungen vorliegen, erübrigen sich lange Ausführungen. Für den Beweiswert ist ebenfalls nicht schädlich, dass der Psychiater im Bericht festhält, er könne mit dem Begriff der funktionellen Überlagerung nicht viel anfangen, weil es sich dabei - entgegen der Aussage in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde - insofern nicht um einen anerkannten Begriff der ärztlichen Fachkunde handelt, als dieser Terminus so nicht in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen aufgeführt ist. Es spricht vielmehr für Dr. med. R.________, wenn er sich an die üblichen deskriptiven Formulierungen hält. Dazu steht auch nicht im Widerspruch, dass er am Schluss seiner Ausführungen das Vorliegen einer funktionellen Überlagerung verneint, da es seine Aufgabe war, zu dieser in Fachkreisen umstrittenen, aber nichtsdestotrotz häufig verwendeten Bezeichnung eines unspezifischen Beschwerdebildes Stellung zu beziehen.
 
c) Für die somatische Seite der geklagten Beschwerden hat das kantonale Gericht auf das Gutachten des Dr. med.
 
T.________ vom 1. April 1999 abgestellt und eine Arbeitsfähigkeit für wechselbelastende, leichte Tätigkeiten angenommen.
 
Eine praxisgemäss freie, pflichtgemässe und umfassende Beweiswürdigung (BGE 125 V 352 Erw. 3a) zeigt allerdings gewisse Mängel dieser Expertise auf:
 
aa) Es ist zweifelhaft, ob dieser Bericht in voller Kenntnis der Vorakten erstellt worden ist, da weder der Bericht des Hausarztes Dr. med. S.________ vom 7. März 1998 noch der Bericht des Dr. med. G.________ vom 18. September 1998 zuhanden der Krankenkasse erwähnt und behandelt werden.
 
Eine Expertise hat jedoch derart von der eigenen Einschätzung abweichende Befunde zu diskutieren, um umfassend und überzeugend zu sein.
 
bb) Die Expertise berücksichtigt die Computertomographie des Spitals Z.________ von Februar 1997 ungenügend, da die im Kurzbericht der Rheuma-Abteilung des Spitals Z.________ vom 25. September 1997 an den Hausarzt Dr. med.
 
S.________ erwähnten "degenerativen LWS-Veränderungen" nicht diskutiert werden.
 
cc) Dr. med. T.________ schätzt die Magnetresonanzuntersuchung vom 22. Februar 1999 durch das Spital Z.________ falsch ein: während die Computertomographie der Röntgendiagnostik und Nuklearmedizin des Spitals J.________ am 16. Dezember 1997 noch eine ausgeprägte Osteochondrose ergeben hatte, zeigte die Magnetresonanzuntersuchung vom 22. Februar 1999 eine hochgradige Osteochondrose und es wurde von einem progredienten Gesamtverlauf gesprochen.
 
Damit ist - entgegen der Annahme im Gutachten - im Rahmen des rechtlich massgebenden Sachverhalts ein neu zu berücksichtigender Aspekt aufgetaucht.
 
dd) Schliesslich sind die Schlussfolgerungen des Experten teilweise widersprüchlich, da er einerseits nur Arbeiten ohne Manipulation schwerer Gewichte und ohne Verharren in einer bestimmten Körperposition während längerer Zeit für möglich erachtet, aber auf der anderen Seite die Tätigkeit als Raumpflegerin zu 66 % als möglich einschätzt - diese Tätigkeit beinhaltet jedoch gerade die Manipulation schwerer Gewichte (z.B. mit Wasser gefüllte Eimer) und das Verharren in bestimmten Positionen während längerer Zeit (z.B. Abstauben an unzugänglichen Stellen).
 
ee) Damit kann für die körperlichen Beschwerden nicht auf das Gutachten des Dr. med. T.________ abgestellt werden; die Verwaltung wird in dieser Hinsicht eine neue Expertise einzuholen haben.
 
d) Die Beschwerdeführerin beantragt ein Gutachten einer unabhängigen Gutachterstelle, da die Gutachten der Dres. med. T.________ und R.________ mangelhaft seien und ein multiples Beschwerdebild vorliege, das nur interdisziplinär behandelt werden könne.
 
Wie in Erw. 2b und c hievor ausgeführt, ist der Bericht des Psychiaters Dr. med. R.________ nicht zu beanstanden, während das Gutachten des Dr. med. T.________ nicht in jeder Hinsicht zu überzeugen vermag. Damit ist die psychiatrische Seite des Beschwerdebildes genügend abgeklärt, sodass nur noch die somatische Seite der Beschwerden zu untersuchen ist. Zu diesem Zweck ist eine Untersuchung durch einen Spezialarzt oder ein Spital ausreichend. Nach Einholen dieser Expertise wird es Aufgabe des Arztes der IV-Stelle sein, die Synthese der eingehenden Untersuchungen zu erarbeiten.
 
e) Über den Antrag der Versicherten auf Abklärung in einer beruflichen Abklärungsstelle der Invalidenversicherung (BEFAS) wird die IV-Stelle nach Eingang des ausstehenden Gutachtens zu befinden haben.
 
3.- Da es um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Gemäss dem Ausgang des letztinstanzlichen Verfahrens steht der teilweise obsiegenden Beschwerdeführerin eine reduzierte Parteientschädigung zu (Art. 135 OG in Verbindung mit Art. 159 Abs. 3 OG).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne
 
teilweise gutgeheissen, dass der Entscheid des Obergerichts
 
des Kantons Schaffhausen vom 4. Mai 2001 und
 
die Verfügung der IV-Stelle Schaffhausen vom 28. Januar
 
2000 aufgehoben werden, und es wird die Sache an
 
die IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter
 
Abklärung im Sinne der Erwägungen, neu verfüge.
 
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
III. Die IV-Stelle hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich
 
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
IV.Das Obergericht des Kantons Schaffhausen wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
 
Prozesses zu befinden haben.
 
V.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des
 
Kantons Schaffhausen, der Ausgleichskasse des Kantons
 
Schaffhausen und dem Bundesamt für Sozialversicherung
 
zugestellt.
 
Luzern, 26. November 2001
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der II. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
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