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Informationen zum Dokument  BGer K 111/1999  Materielle Begründung
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BGer K 111/1999 vom 19.12.2001
 
[AZA 7]
 
K 111/99 Ge
 
III. Kammer
 
Präsident Schön, Bundesrichter Spira und Bundesrichterin Widmer; Gerichtsschreiberin Kopp Käch
 
Urteil vom 19. Dezember 2001
 
in Sachen
 
CSS Versicherung, Rösslimattstrasse 40, 6005 Luzern,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
L.________, Beschwerdegegner, vertreten durch die Orion Rechtsschutz-Versicherungsgesellschaft, Amthausgasse 12, 3011 Bern,
 
und
 
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn
 
A.- Der 1959 geborene L.________ ist Mitglied der CSS Versicherung (nachfolgend: CSS) und war 1997/98 über den Kollektiv-Vertrag der Basler Versicherung krankenversichert.
 
L.________ wurde 1997 von seinem behandelnden Zahnarzt wegen eines Infekts im Oberkiefer rechts an Dr. med. Dr. med. dent. S.________, Spezialarzt FMH für Plastische und Wiederherstellungs-Chirurgie sowie Spezialarzt FMH für Kiefer- und Gesichtschirurgie, überwiesen. Anlässlich der Operation am 6. November 1997 fand sich eine nach vestibulär durchgebrochene radikuläre Zyste. Bei der Zystektomie zeigte sich auch ein Durchbruch in die Kieferhöhle rechts, wobei sich der Zystenbalg von der Kieferhöhlenschleimhaut ablösen liess. Zusätzlich zur Zystenoperation erfolgte eine Wurzelspitzenresektion mit retrograder Wurzelfüllung. Für die erbrachten Leistungen vom 6. November 1997 und vom 22. Oktober 1997 bis 17. Februar 1998 stellte Dr. med. Dr. med. dent. S.________ vier Rechnungen aus, nämlich am 13. November 1997 über die Beträge von Fr. 468. 30, Fr. 98.-, Fr. 102. 30 und am 9. März 1998 über den Betrag von Fr. 557. 70, wobei er auf der Rechnung vom 13. November 1997 in der Höhe von Fr. 98.- den Vermerk "Nicht-Pflichtleistung" anbrachte. Im Schreiben vom 8. Dezember 1997 äusserte der behandelnde Arzt gegenüber der Krankenkasse, die Zystenoperation stelle eine Pflichtleistung gemäss Art. 25 KVG dar, wohingegen es sich bei der Wurzelspitzenresektion und retrograden Wurzelfüllung um eine Nichtpflichtleistung handle.
 
Mit Verfügung vom 20. Mai 1998 verneinte die CSS nach Konsultation ihres Vertrauenszahnarztes Dr. med. dent. B.________ einen Anspruch auf Leistungen aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für die Operation der radikulären Zyste vom 6. November 1997 sowie Vor- und Nachbehandlung. An ihrem Standpunkt hielt sie mit Einspracheentscheid vom 18. November 1998 fest.
 
B.- Die dagegen erhobene Beschwerde, mit welcher L.________ die Übernahme der Kosten für die Zystenoperation sowie für die Vor- und Nachbehandlung beantragen liess, hiess das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 14. September 1999 gut und wies die CSS an, dem Versicherten die Kosten von Fr. 1128. 30 zu vergüten.
 
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die CSS die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und die Bestätigung der Verfügung vom 20. Mai 1998 sowie des Einspracheentscheids vom 18. November 1998.
 
L.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
D.- Am 28. März 2000 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht eine Expertengruppe mit der Erstellung eines zahnmedizinischen Grundsatzgutachtens beauftragt, wobei die Fragen vor allem Art. 17 der Verordnung über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Krankenpflege-Leistungsverordnung [KLV]) betrafen. Um sicherzustellen, dass keine Widersprüche in der Rechtsprechung zu den Leistungsbestimmungen der KLV ergehen, wurde neben anderen Beschwerdeverfahren auch das vorliegende Verfahren mit Verfügung vom 3. April 2000 sistiert. Das Grundsatzgutachten ging am 31. Oktober 2000 beim Gericht ein und wurde am 16. Februar 2001 mit den Experten erörtert. Am 21. April 2001 erstellten die Experten einen Ergänzungsbericht.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Nachdem das Grundsatzgutachten erstellt ist, kann die Sistierung des vorliegenden Verfahrens aufgehoben werden.
 
2.- a) Die Leistungen, deren Kosten von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bei Krankheit zu übernehmen sind, werden in Art. 25 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) in allgemeiner Weise umschrieben. Im Vordergrund stehen die Leistungen der Ärzte und Ärztinnen, dann aber auch der Chiropraktoren und Chiropraktorinnen sowie der Personen, die im Auftrag von Ärzten und Ärztinnen Leistungen erbringen.
 
Die Leistungen der Zahnärzte und Zahnärztinnen sind in der genannten Bestimmung nicht aufgeführt. Die Kosten dieser Leistungen sollen im Krankheitsfalle der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nur in eingeschränktem Masse überbunden werden, nämlich wenn die zahnärztliche Behandlung durch eine schwere, nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems (Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG) oder durch eine schwere Allgemeinerkrankung oder ihre Folgen bedingt (Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG) oder zur Behandlung einer schweren Allgemeinerkrankung oder ihrer Folgen notwendig ist (Art. 31 Abs. 1 lit. c KVG).
 
b) Gestützt auf Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG in Verbindung mit Art. 33 lit. d der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) hat das Departement in der KLV zu jedem der erwähnten Unterabsätze von Art. 31 Abs. 1 KVG einen eigenen Artikel erlassen, nämlich zu lit. a den Art. 17 KLV, zu lit. b den Art. 18 KLV und zu lit. c den Art. 19 KLV. In Art. 17 KLV werden die schweren, nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems aufgezählt, bei denen daraus resultierende zahnärztliche Behandlungen von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmen sind. In Art. 18 KLV werden die schweren Allgemeinerkrankungen und ihre Folgen aufgelistet, die zu zahnärztlicher Behandlung führen können und deren Kosten von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu tragen sind. In Art. 19 KLV schliesslich hat das Departement die schweren Allgemeinerkrankungen aufgezählt, bei denen die zahnärztliche Massnahme notwendiger Bestandteil der Behandlung darstellt.
 
c) In BGE 124 V 185 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht entschieden, dass die in Art. 17-19 KLV erwähnten Erkrankungen, deren zahnärztliche Behandlung von der sozialen Krankenversicherung zu übernehmen ist, abschliessend aufgezählt sind. Daran hat es in ständiger Rechtsprechung festgehalten (zur Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehene Urteile M. vom 19. September 2001, K 73/98, und J. vom 28. September 2001, K 78/98).
 
3.- Unbestritten und durch den Vertrauenszahnarzt der Krankenkasse am 2. Mai und 31. Oktober 1998 bestätigt ist, dass der Beschwerdegegner 1997 an einer radikulären Zyste litt. Wie aus den medizinischen Berichten des behandelnden
 
Dr. med. Dr. med. dent. S.________ hervorgeht, war mit der radikulären Zyste verbunden eine Infektion im Oberkiefer rechts mit Durchbruch durch den Knochen in die Weichteile und Fistelung ins Vestibulum sowie Durchbruch in die Kieferhöhle und Auslösung einer chronischen Sinusitis maxillaris. Die Behandlung erfolgte operativ durch Zystektomie sowie nachfolgende Wurzelspitzenresektion und retrograde Wurzelfüllung. Streitig und zu prüfen ist, ob die Behandlung der Zyste, nicht hingegen die Wurzelspitzenresektion und retrograde Wurzelfüllung, von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmen ist.
 
a) Die Krankenkasse verneinte von vornherein eine Leistungspflicht im Wesentlichen mit der Begründung, die in Rechnung gestellte Behandlung sei die Behandlung einer Erkrankung des Kausystems und somit eine zahnärztliche Behandlung, unabhängig von der Person des Leistungserbringers. Bei der radikulären Zyste handle es sich um eine Erkrankung, die sich um die Wurzelspitze eines Zahnes bilde. Da sie daher im Zusammenhang mit Zahnelementen stehe, falle sie nicht unter Art. 17 lit. c Ziff. 4 KLV. Zudem habe sie als Ursache eine Infektion des Zahnes, entstehe primär durch Karies, Pulpitis, Gangrän etc. und sei daher vermeidbar.
 
b) Der Versicherte macht geltend, die Zystenbehandlung sei eine Pflichtleistung gemäss Art. 2 und 25 KVG, da das
 
Leiden und der Eingriff extraodontoparodontal gewesen seien und Krankheitswert vorgelegen habe. Bei der Wurzelspitzenresektion und der retrograden Wurzelfüllung hingegen handle es sich um nichtpflichtige Zahnbehandlungen.
 
c) Die Vorinstanz unterscheidet zwischen therapeutischen Vorkehren an Zahn und Zahnhalteapparat als zahnärztlichen Behandlungen und therapeutischen Vorkehren ausserhalb dieses Bereichs als ärztlichen oder arztäquivalenten Behandlungen. Gestützt auf die medizinischen Berichte geht sie von einer extraodontoparodontalen Massnahme aus, die im Sinne von Art. 25 KVG kassenpflichtig sei.
 
d) In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde hält die Krankenkasse an ihrem Standpunkt fest.
 
4.- Die Beschwerdeführerin versteht, wie sie in Ziff. 4.7 ihrer Beschwerdeschrift darlegt, die Regelung von Art. 31 Abs. 1 KVG in Verbindung mit den Art. 17-19 KLV so, dass "die Behandlung sämtlicher Erkrankungen des Kauapparates, d.h. der Zähne, des Zahnhalteapparates sowie der Kiefer als zahnärztliche Behandlung anzusehen sind, wenn sie im Katalog explizit aufgeführt sind. .. Mit dieser Lösung wollte man die nach altem Recht erforderliche und nie ganz befriedigende Abgrenzung zwischen ärztlichen und zahnärztlichen Behandlungen überwinden".
 
Dieses Verständnis steht mit den in BGE 124 V 185 eingehend dargestellten Gesetzesmaterialien, wie auch insbesondere mit dem Wortlaut und der Systematik der erwähnten gesetzlichen Regelung nicht in Einklang. Sowohl Art. 31 Abs. 1 KVG wie auch die Art. 17-19 KLV sprechen von "zahnärztlichen Behandlungen", die durch bestimmte Erkrankungen bedingt sind oder die Behandlung bestimmter Erkrankungen unterstützen. Die zahnärztlichen Behandlungen einerseits und die Erkrankungen andererseits stehen in einer Wechselwirkung. Die von der sozialen Krankenversicherung zu übernehmenden zahnärztlichen Behandlungen müssen entweder die Folge ("bedingt") und die bestimmten Erkrankungen die Ursache sein (Art. 17 und 18 KLV) oder die zahnärztlichen Behandlungen müssen die Behandlung bestimmter Erkrankungen unterstützen (Art. 19 KLV). Keineswegs verhält es sich so, dass die Behandlungen aller aufgeführten Erkrankungen zu zahnärztlichen Behandlungen geworden sind. Die Behandlung maligner Tumore im Kiefer- und Schleimhautbereich (Art. 17 lit. c Ziff. 1 KLV) beispielsweise wird niemand im Ernst als zahnärztliche Behandlung aufgefasst wissen noch deren Behandlung davon abhängig machen wollen, ob das Tumorleiden vermeidbar gewesen sei.
 
5.- Als schwere Erkrankung des Kieferknochens und der Weichteile, welche eine zahnärztliche Behandlung bedingen, nennt Art. 17 lit. c Ziff. 4 KLV Zysten ohne Zusammenhang mit Zahnelementen. Daraus folgt, dass der Verordnungsgeber davon ausgeht, es kämen im Kieferknochen und in den Weichteilen auch Zysten vor, die mit Zahnelementen in Verbindung stehen und welche er als Ursache für leistungspflichtige Zahnbehandlungen nicht zulassen wollte, hätte er sonst doch keinen Anlass zur näheren Umschreibung der Zyste gehabt, welche die Leistungspflicht der dadurch bedingten zahnärztlichen Behandlung begründet.
 
Es ist unbestritten, dass der Versicherte an einer radikulären Zyste litt. Eine solche Zyste liegt an der Wurzelspitze eines Zahnes und steht damit im Zusammenhang mit einem Zahnelement. Es stellt sich nun die Frage, ob deren Behandlung eine nicht der Leistungspflicht unterliegende zahnärztliche ist. Die Beschwerdeführerin bejaht dies, der Versicherte verneint es unter Berufung auf den Kieferchirurgen und Zahnarzt Dr. med. Dr. med. dent. S.________, der ihn behandelt hat. Nach dessen Auffassung ist die Vorkehr eine ärztliche und deren Kosten seien somit von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nach Massgabe von Art. 25 KVG zu übernehmen. Zur Stützung seiner Auffassung argumentiert Dr. med. Dr. med. dent. S.________ damit, die radikuläre Zyste liege ausserhalb des Parodonts im Kieferknochen. Der Vertrauenszahnarzt der Beschwerdeführerin, Dr. med. dent. B.________, dagegen weist auf die enge Beziehung zwischen der radikulären Zyste und dem Zahn, an dessen Wurzelende sie liegt, hin.
 
Ob man die radikuläre Zyste als innerhalb oder ausserhalb des Parodonts lokalisiert ansehen will, kann nicht dafür entscheidend sein, ob deren Behandlung als eine ärztliche oder zahnärztliche zu qualifizieren ist. Wichtiger erscheint die enge Verbindung zwischen Zahnelement und Zyste. Diese ist meist nicht Ursache des Zahnschadens, sondern dessen Folge. Die Behandlung wird oft im Zusammenhang mit der Behandlung des Zahnschadens vorgenommen. Die Zyste kann, so lange sie klein und noch knöchern abgegrenzt ist, vom Zahnarzt mittels Wurzelbehandlung angegangen werden. Wegen dieser engen Verbindung ist die Behandlung der radikulären Zyste grundsätzlich als zahnärztliche Behandlung anzusehen. Durch Umkehrschluss aus Art. 17 lit. c Ziff. 4 KLV unterliegt sie daher nicht der Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung.
 
6.- Anders verhält es sich indessen, wenn eine solche Zyste sich weit über ihren Ursprung entwickelt und den Kieferknochen in einer Weise wie vorliegend betroffen hat, indem sie in die Kieferhöhle rechts im Sinne einer Sinusitis maxillaris durchgebrochen ist. Sie hat damit die enge Verbindung mit dem Zahnelement verlassen. Ihre Behandlung ist damit eine ärztliche und nicht mehr eine zahnärztliche. Deren Kosten unterliegen demzufolge der Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nach Massgabe von Art. 25 KVG. Dabei hängt es nicht davon ab, ob die Behandlung einer solchen Zyste mit diesen Auswirkungen von einem Arzt oder von einem Zahnarzt vorgenommen wird.
 
7.- Der Vollständigkeit halber ist noch darauf hinzuweisen, dass die Qualifizierung der Behandlung einer solchen
 
Zyste als ärztliche Behandlung nicht bedeutet, dass daraus resultierende Zahnschäden der Pflichtleistung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung unterliegen. Entsprechend ihrem Ursprung als radikuläre Zysten vermögen sie gemäss Art. 17 lit. c Ziff. 4 KLV eine solche Leistungspflicht nicht zu begründen. Dies ist denn auch im vorliegenden
 
Fall unbestritten.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I. Die Sistierung wird aufgehoben.
 
II. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
III. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
IV. Die CSS Versicherung hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 300. - (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
V. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 19. Dezember 2001
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der III. Kammer:
 
Die Gerichtsschreiberin:
 
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