VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer U 189/2004  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer U 189/2004 vom 22.02.2005
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
U 189/04
 
Urteil vom 22. Februar 2005
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin Berger Götz
 
Parteien
 
S.________, 1965, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Frank Goecke, Haldenbachstrasse 2, 8006 Zürich,
 
gegen
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Obergericht des Kantons Schaffhausen, Schaffhausen
 
(Entscheid vom 23. April 2004)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1965 geborene S.________ war seit Mai 1998 als Reinigerin für die I.________ AG tätig und in dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Am 19. Mai 2000 erlitt sie bei der Arbeit von einem auf dem Rücken getragenen Staubsauger einen Stromstoss. Anlässlich der gleichentags erfolgten Erstbehandlung im Medical Center X.________ wurden Parästhesien im linken Arm infolge eines Niederspannungsunfalles diagnostiziert und für den Unfalltag sowie den darauf folgenden Tag eine vollständige Arbeitsunfähigkeit attestiert. S.________ wurde als kardiopulmonal unauffällig beurteilt und ausser den leichten Parästhesien am Arm wurden keine neurologischen Befunde erhoben. Ein Elektrokardiogramm und die Laboruntersuchung ergaben normale Verhältnisse (Bericht vom 13. Juli 2000). Dr. med. F.________, Allgemeine Medizin FMH, ging im Unfallschein UVG von einer 100%igen Arbeitsunfähigkeit vom 19. Mai bis 12. Juni 2000 aus. Gestützt darauf erbrachte die SUVA bis zum 12. Juni 2000 Taggeldleistungen.
 
Am 9. Januar 2002 teilte der damalige Rechtsvertreter von S._______ der SUVA mit, seine Mandantin habe einen Rückfall erlitten, respektive es werde auf mögliche Spätfolgen aus dem Unfall vom 19. Mai 2000 hingewiesen; seit dem 22. September 2000 bestehe unter anderem wegen Nacken- und Thoraxbeschwerden, Schwindel, Ermüdbarkeit, Überempfindlichkeit auf helles Licht und in die linke Schulter ausstrahlender Kopfschmerzen eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit. Nach Aufforderung durch die Versicherte meldete die I.________ AG, welche das Arbeitsverhältnis mit S.________ durch Kündigungsschreiben vom 10. Januar 2001 zum 31. März 2001 aufgelöst hatte, der SUVA am 31. Mai 2002 einen Rückfall zum Unfall vom 20. September 2000 (recte: 19. Mai 2000) und wies darauf hin, dass nach einer uneingeschränkten Arbeitsfähigkeit vom 13. Juni bis 16. September 2000 ab 20. September 2000 bis zum Austritt am 31. März 2001 eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit bestanden habe. Die SUVA holte Arztberichte ein und veranlasste weitere Abklärungen. Mit Verfügung vom 10. Dezember 2002 lehnte sie es ab, Versicherungsleistungen im Zusammenhang mit der am 9. Januar 2002 angegebenen Symptomatik zu erbringen. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 21. März 2003).
 
B.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen ab (Entscheid vom 23. April 2004).
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S.________ beantragen, die SUVA sei zu verpflichten, die gesetzlichen Leistungen auszurichten; eventualiter sei die Angelegenheit zur Sachverhaltsergänzung "mittels Einholung eines externen, interdisziplinären Gutachtens" an die SUVA zurückzuweisen. Der Eingabe liegt ein klinisch-psychologischer Bericht von A.________, Psychologin DGTA/EATA, vom 21. Mai 2004 bei.
 
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Im vorinstanzlichen Gerichtsentscheid wird zutreffend dargelegt, dass sich die Leistungspflicht des Unfallversicherers (Art. 6 Abs. 1 UVG) auch auf Rückfälle und Spätfolgen eines Unfalls erstreckt (Art. 11 UVV), sofern die erneut geltend gemachten Beschwerden - nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 129 V 181 Erw. 3.1, 119 V 338 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, je mit Hinweisen) - in einem natürlichen (BGE 129 V 181 Erw. 3.1, 406 Erw. 4.3.1, 119 V 337 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, je mit Hinweisen) und adäquaten (BGE 129 V 181 Erw. 3.2, 405 Erw. 2.2, 125 V 461 Erw. 5a mit Hinweisen) Kausalzusammenhang zum seinerzeit durch den versicherten Unfall erlittenen Gesundheitsschaden stehen (BGE 118 V 296 Erw. 2c mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.
 
Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) hat am unfallversicherungsrechtlichen Begriff des natürlichen Kausalzusammenhangs und dessen Bedeutung als eine Voraussetzung für die Leistungspflicht nach UVG nichts geändert (Urteil S. vom 23. Dezember 2004, U 210/04, Erw. 2; Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, Kommentar zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000, Zürich 2003, Rz 20 zu Art. 4). Für die Frage des intertemporal anwendbaren Rechts ist somit nicht von Belang, dass der Einspracheentscheid am 21. März 2003, nach In-Kraft-Treten des ATSG, erlassen wurde (vgl. BGE 130 V 446 Erw. 1 mit Hinweis auf BGE 130 V 329).
 
2.
 
Gemäss den Angaben der ehemaligen Arbeitgeberin war die Versicherte nach dem Unfall (vom 19. Mai 2000) vom 13. Juni bis 16. September 2000 ohne gesundheitliche Einschränkungen wieder als Reinigerin tätig. Nachdem der bisherige Hausarzt Dr. med. F.________ am 9. Juni 2000 eine 100%ige Arbeitsfähigkeit ab 13. Juni 2000 attestiert hatte, begab sich die Versicherte ab 22. Juni 2000 in die Behandlung von Dr. med. E.________, Arzt für Allgemeine Medizin FMH, welcher für die Zeit ab 22. September 2000 eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit als Reinigerin festhielt (Bericht vom 20. März 2002). Er gab auf Anfrage der SUVA am 1. September 2002 ausserdem an, die Versicherte habe zunächst über Rückenschmerzen im Kreuzbereich geklagt, für welche radiologisch keine Erklärung zu finden gewesen sei; in der Folge sei es zu einer Ausweitung des Beschwerdebildes mit Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und Kraftlosigkeit gekommen. Er sehe keinen Zusammenhang zwischen diesen Leiden und dem Stromunfall vom 19. Mai 2000, von dem er im Verlauf seiner Behandlung "nebenbei" erfahren habe. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin ergeben sich auch aus den übrigen medizinischen Berichten keine Anhaltspunkte für ihre Behauptung, sie leide seit dem 19. Mai 2000 ununterbrochen an den Folgen des Unfallereignisses. Der Grundfall wurde im Juni 2000 durch Einstellung der Taggeldleistungen abgeschlossen, nachdem Dr. med. F.________ die Versicherte im Unfallschein UVG ab 13. Juni 2000 voll arbeitsfähig geschrieben und angegeben hatte, die ärztliche Behandlung sei am 9. Juni 2000 beendet worden. Dieses formlose Handeln der SUVA, welchem materiell Verfügungscharakter zukommt, ist mangels Widerspruchs innert angemessener Überlegungs- und Prüfungsfrist rechtsbeständig (BGE 129 V 111 Erw. 1.2.2). Für die allfällige neuerliche Leistungspflicht der Unfallversicherung ist daher entscheidend, ob ein Rückfall oder Spätfolgen im Sinne von Art. 11 UVV bestehen.
 
3.
 
3.1 Das kantonale Gericht ist in einlässlicher und in allen Teilen überzeugender Würdigung der medizinischen Akten zum Schluss gelangt, dass die am 9. Januar und 31. Mai 2002 gemeldeten Leiden (Nacken- und Thoraxbeschwerden, Schwindel, Ermüdbarkeit, Lichtempfindlichkeit und in die linke Schulter ausstrahlende Kopfschmerzen), im Weiteren das ärztlich diagnostizierte zerviko-, lumbospondylogene und muskuloskelettale Schmerzsyndrom, das Panvertrebralsyndrom und die Myalgien der rechten Schulter sowie der von den medizinischen Fachpersonen geäusserte Verdacht auf Fibromyalgie nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit in einem natürlichen Kausalzusammenhang zum Unfall vom 19. Mai 2000 stehen. Damit ist die Beschwerdegegnerin in ihrer Eigenschaft als obligatorischer Unfallversicherer für den ihr im Januar und Mai 2002 gemeldeten Gesundheitsschaden nicht leistungspflichtig.
 
3.2
 
3.2.1 Die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobenen Einwände vermögen daran nichts zu ändern. Soweit die bereits im vorinstanzlichen Prozess entkräfteten Rügen wiederholt werden, kann auf die zutreffenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid verwiesen werden.
 
3.2.2 Wie schon im Verfahren vor dem kantonalen Gericht weist die Versicherte auch letztinstanzlich auf sprachlich bedingte Verständigungsschwierigkeiten zwischen ihr und Dr. med. E.________ hin. Diesen sprachlichen Barrieren sei es zuzuschreiben, dass der Hausarzt offenbar erstmals Mitte 2001 vom Stromunfall erfahren habe. Auf seine Aussagen dürfe nicht abgestellt werden. Ebenso wenig seien die Aktengutachten der SUVA-Ärzte Dr. med. V.________, Facharzt FMH für Chirurgie, vom 20. November 2002, welcher sich bei seiner Beurteilung in erster Linie auf die Stellungnahmen des Dr. med. E.________ stütze, und Dr. med. H.________, Neurologe, University School of Medicine Y.________, vom 23. Juli 2003 zu berücksichtigen.
 
Es ist der Vorinstanz beizupflichten, dass sich aus der Aussage des Hausarztes, wonach die Exploration verbal äusserst schwierig gewesen sei, nicht ableiten lässt, er habe die Versicherte überhaupt nicht verstanden und deswegen den medizinischen Sachverhalt im Wesentlichen nicht erfasst. Aus den medizinischen Akten geht hervor, dass die notwendigen spezialärztlichen Untersuchungen veranlasst wurden, daraus aber keine vollständige Erklärung für die Ursache(n) der geklagten Beschwerden gewonnen werden konnte, was den Hausarzt schliesslich zur Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung führte. Mit dem kantonalen Gericht ist anzunehmen, dass er wohl nicht aus sprachlichen Gründen erst Mitte 2001 vom Stromvorfall erfuhr, sondern eher, weil die Beschwerdeführerin den Unfall selber als nicht erwähnenswert erachtete.
 
Die weitere Rüge, auf die Einschätzungen der Dres. med. V.________ und H.________ könne auch nicht abgestellt werden, weil sie keine eigenen Untersuchungen und Abklärungen vorgenommen hätten, ist ebenfalls unbegründet. Die SUVA-Ärzte äusserten in ihren Berichten vom 20. November 2002 und 23. Juli 2003 die Ansicht, das sehr unspezifische und heterogene, wechselnden Diagnosen zugeordnete Beschwerdebild lasse sich mit einer somatoformen Schmerzstörung vereinbaren und könne ursächlich nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit auf den Stromunfall zurückgeführt werden. Sie erstatteten ihre Stellungnahmen in Kenntnis der medizinischen Akten, die ein vollständiges Bild über Anamnese, Verlauf und Status ergaben. Überdies standen ihnen genügend Arztberichte zur Verfügung, die auf Grund persönlicher Untersuchungen der Beschwerdeführerin verfasst worden waren. Die Voraussetzungen, unter denen auf ein Aktengutachten abgestellt werden kann, sind damit erfüllt (RKUV 1988 Nr. U 56 S. 370 Erw. 5b mit Hinweisen auf die Literatur, bestätigt in den Urteilen A. vom 5. Dezember 2003, U 330/02, und M. vom 26. November 2003, U 312/02). Das im vorinstanzlichen Verfahren von der Versicherten eingereichte Schreiben des Dr. med. L.________, Physikalische Medizin FMH, speziell Rheumaerkrankungen, vom 27. Februar 2004, worin ohne Begründung angegeben wird, es bestehe eine unfallbedingte generalisierte Fibromyalgie und zusätzlich ohne Zweifel auch eine somatoforme Schmerzstörung, bildet daher keinen Anlass, von den schlüssigen und nachvollziehbaren Stellungnahmen der Dres. med. V.________ und H.________ abzuweichen. Im klinisch-psychologischen Bericht vom 21. Mai 2004 vertritt die Psychologin Frau A.________ die Ansicht, Depression, Panikattacken und die Schmerzen seien im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung Folgeerscheinungen des Unfalls, weil die Versicherte bis zum Unfallereignis anamnestisch psychisch und physisch gesund gewesen sei. Demzufolge begründet sie ihre Einschätzung einer unfallbedingten vollständigen Arbeitsunfähigkeit einzig mit der im unfallversicherungsrechtlichen Bereich untauglichen Formel "post hoc ergo propter hoc" (vgl. BGE 119 V 341 f.), womit ihrer Meinung ebenfalls keine entscheidende Bedeutung zukommen kann. Weil auf den Unfall zurückzuführende somatische Beschwerden gestützt auf den gut dokumentierten medizinischen Sachverhalt zu verneinen sind, besteht kein Anlass zu ergänzenden Beweisvorkehren (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 124 V 94 Erw. 4b; RKUV 2003 Nr. U 473 S. 50 Erw. 3.4). Ob eine psychische Gesundheitsstörung mit Krankheitswert vorliegt und diese als natürliche Folge des versicherten Unfalles zu qualifizieren ist, kann schliesslich offen bleiben, da nach den zutreffenden Erwägungen im Einspracheentscheid, auf welchen die Vorinstanz diesbezüglich verweist, jedenfalls die Adäquanz des Kausalzusammenhangs nicht gegeben ist.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Schaffhausen und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
 
Luzern, 22. Februar 2005
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).