VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer C 268/2004  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer C 268/2004 vom 03.03.2005
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
C 268/04
 
Urteil vom 3. März 2005
 
III. Kammer
 
Besetzung
 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiberin Weber Peter
 
Parteien
 
S.________, 1963, Beschwerdeführer, vertreten durch die Gewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen, Region Solothurn, Rossmarktplatz 17, 4502 Solothurn,
 
gegen
 
Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Solothurn, Untere Sternengasse 2, 4500 Solothurn, Beschwerdegegner
 
Vorinstanz
 
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn
 
(Entscheid vom 15. November 2004)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Mit Verfügung vom 11. März 2004 verneinte das Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Solothurn den Anspruch des 1963 geborenen S.________ auf Arbeitslosenentschädigung wegen fehlender Vermittlungsfähigkeit ab 20. Dezember 2003 bis auf weiteres, nachdem es zuvor eine vertrauensärztliche Untersuchung bei Dr. med. G.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, durchführen liess (Bericht vom 16. Februar 2004). Auf Einsprache hin hielt es an seinem Standpunkt fest (Einspracheentscheid vom 6. Mai 2004).
 
B.
 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 15. November 2004 ab.
 
C.
 
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und unter Beilage eines Arbeitszeugnisses der Firma X.________AG (vom 30. September 2003) sinngemäss beantragen, in Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides seien seine Vermittlungsfähigkeit und somit seine Anspruchsberechtigung zu bestätigen.
 
Während das Amt für Wirtschaft und Arbeit auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Staatssekretariat für Wirtschaft auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Eine der gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ist die Vermittlungsfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 lit. f AVIG). Gemäss Art. 15 Abs. 1 AVIG ist der Arbeitslose vermittlungsfähig, wenn er bereit, in der Lage und berechtigt ist, eine zumutbare Arbeit anzunehmen. Unter der Arbeitsfähigkeit im objektiven Sinne ist körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, soziale Eignung und Verfügbarkeit in räumlicher sowie in zeitlicher Hinsicht zu verstehen (Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Bd. Soziale Sicherheit, S. 85 Rz 214).
 
1.2 Der körperlich oder geistig Behinderte (vgl. zu diesem Begriff ARV 1999 Nr. 19 S. 106 Erw. 2) gilt nach Art. 15 Abs. 2 AVIG als vermittlungsfähig, wenn ihm bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage, unter Berücksichtigung seiner Behinderung, auf dem Arbeitsmarkt eine zumutbare Arbeit vermittelt werden könnte.
 
1.2.1 Art. 15 Abs. 2 AVIG statuiert zwei Kriterien, nach welchen die Vermittlungsfähigkeit von dauernd Behinderten (ARV 1991 Nr. 10 S. 95 f. Erw. 3b) zu beurteilen ist. Einerseits ist die Vermittelbarkeit der behinderten Person "unter Berücksichtigung ihrer Behinderung" zu prüfen. Es dürfen daher nur Einsatzmöglichkeiten in Betracht gezogen werden, bei denen auf die gesundheitlichen Leistungsdefizite Rücksicht genommen werden kann. Sodann hat die Beurteilung auf hypothetischer Grundlage, nämlich "bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage", zu erfolgen. Dieses Erfordernis bedeutet, dass behinderte Versicherte nicht nur bei Hochkonjunktur und ausgesprochenem Arbeitskräftemangel als einsetz- und vermittelbar erscheinen dürfen. Der Begriff der ausgeglichenen Arbeitsmarktlage umschliesst einerseits ein bestimmtes Gleichgewicht zwischen dem Angebot von und der Nachfrage nach Stellen, und bezeichnet anderseits einen Arbeitsmarkt, der von seiner Struktur her einen Fächer verschiedenartiger Stellen offen hält (BGE 110 V 276 Erw. 4b; ZAK 1991 S. 320 Erw. 3b). Dieser Angebotsfächer umfasst auch - ausserhalb von geschützten Werkstätten - gewisse "soziale Winkel", also Arbeits- und Stellenangebote, bei welchen Behinderte mit einem sozialen Entgegenkommen seitens des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin rechnen können. Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber eine Milderung der vom alten Recht für die Vermittlungsfähigkeit von Behinderten verlangten Erfordernisse erreichen. Nur noch die Erwerbslosigkeit, welche "voll oder stark überwiegend" auf den Gesundheitszustand einer behinderten Person zurückzuführen ist, sollte nicht mehr zu dem von der Arbeitslosenversicherung gedeckten Risiko gehören (ARV 1998 Nr. 5 S. 30 Erw. 3b/aa, 1993/1994 Nr. 13 S. 104 Erw. 3a mit Hinweisen).
 
1.2.2 Diesem Grundgedanken entspricht auch die Koordinationsregel des Art. 15 Abs. 3 AVIV. Danach gilt ein Behinderter, der unter der Annahme einer ausgeglichenen Arbeitsmarktlage nicht offensichtlich vermittlungsunfähig ist und der sich bei der Invalidenversicherung oder bei einer anderen Versicherung nach Art. 15 Abs. 2 AVIV angemeldet hat, bis zum Entscheid der anderen Versicherung als vermittlungsfähig.
 
Zwar sind Invaliden- und Arbeitslosenversicherung nicht komplementäre Versicherungszweige in dem Sinne, dass die vom Erwerbsleben ausgeschlossene versicherte Person sich in jedem Fall entweder auf Invalidität oder aber auf Arbeitslosigkeit berufen könnte. Wer trotz eines schweren Gesundheitsschadens invalidenversicherungsrechtlich nicht in rentenbegründendem Masse erwerbsunfähig ist, kann gleichwohl arbeitslosenversicherungsrechtlich gesehen vermittlungsunfähig sein (BGE 109 V 29 unten). Anderseits schliesst der Bezug einer ganzen Invalidenrente die Vermittlungsfähigkeit nicht grundsätzlich aus (vgl. ARV 1988 Nr. 5 S. 39 Erw. 4d). Dennoch kann es aufgrund der dargelegten gesetzgeberischen Zielsetzung für die Beurteilung der Vermittlungsfähigkeit Behinderter nicht ohne Belang sein, ob und in welchem Masse sich der Gesundheitsschaden nachteilig auf die erwerblichen Möglichkeiten auswirkt (ARV 1998 Nr. 5 S. 31 Erw. 3b/bb, 1993/1994 Nr. 13 S. 105 Erw. 3b).
 
1.3 Bestehen erhebliche Zweifel an der Arbeitsfähigkeit eines Arbeitslosen, so kann die kantonale Amtsstelle eine vertrauensärztliche Untersuchung auf Kosten der Versicherung anordnen (Art. 15 Abs. 3 AVIG). Der beigezogene Vertrauensarzt hat die Vermittlungsfähigkeit nicht selber zu beurteilen. Diese Aufgabe obliegt der Verwaltung und im Beschwerdefall dem Gericht. Im Rahmen einer Untersuchung zur Abklärung der Vermittlungsfähigkeit hat sich der Arzt deshalb darauf zu beschränken, den Gesundheitszustand zu diagnostizieren und dazu Stellung zu nehmen, ob, in welchem Umfang, bezüglich welcher Tätigkeiten und unter welchen Rahmenbedingungen hinsichtlich Arbeitsplatz und -zeit der Versicherte arbeitsunfähig ist. Dies schliesst jedoch nicht aus, dass er sich auch zur Vermittlungsfähigkeit und -bereitschaft auszusprechen hat, wenn er bei seinen Untersuchungen psychische Gesundheitsschäden oder verhaltensmässige Auffälligkeiten bemerkt, welche diese beeinträchtigen können. In diesem Zusammenhang hat er sich auch zur Frage zu äussern, ob ein Versicherter einem durchschnittlichen Arbeitgeber zugemutet werden kann (ARV 1998 Nr. 5 S. 31 Erw. 3b/cc, 1993/1994 Nr. 13 S. 105 Erw. 3c mit Hinweis).
 
2.
 
Streitig und zu prüfen ist, ob das Amt für Wirtschaft und Arbeit die Vermittlungsfähigkeit und somit den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ab dem 20. Dezember 2003 bis auf weiteres zu Recht verneinte.
 
3.
 
Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid die fehlende Vermittlungsfähigkeit bestätigt. Sie hat erwogen, aus dem Gutachten des Vertrauensarztes Dr. med. G.________ (vom 16. Februar 2004) gehe hervor, dass an der grundsätzlichen körperlichen Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers nicht zu zweifeln sei. Aufgrund der Aktenlage sei auch anzunehmen, dass der Versicherte gewillt sei, zu arbeiten und sich entsprechend um Arbeit bemühe. Hingegen habe sein Verhalten bei den letzten Arbeitsstellen und Einsätzen in Arbeitslosenprojekten wiederholt zu Klagen Anlass gegeben und er habe die Arbeitsplätze nach kurzer Zeit wieder verlassen müssen oder er habe sie aus eigener Initiative verlassen. Auch das Arbeitsverhältnis mit der X.________ AG sei entgegen den Ausführungen des Versicherten nicht wegen Umstrukturierung oder schlechter Wirtschaftslage aufgelöst worden, sondern wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Vorgesetzten. Die Vorinstanz ist davon ausgegangen, dass beim Beschwerdeführer Charaktermängel vorliegen, welche unter dem Gesichtspunkt der sozialen Eignung im Rahmen der allgemeinen Vorschriften von Art. 15 Abs. 1 AVIG zu beurteilen seien. Gemäss den Ausführungen von Dr. med. G.________ bestünden Probleme und Verhaltensauffälligkeiten aufgrund derer der Versicherte nicht mehr arbeitsfähig resp. vermittelbar sei. Wie die Zusammenstellung des Amtes für Wirtschaft und Arbeit im Schreiben an den Vertrauensarzt (vom 3. Februar 2004) zeige, habe er in den letzten Jahren denn auch kaum eine Arbeit über längere Zeit beibehalten können und auch Einsätze in Arbeitslosenprojekten scheiterten an seinem Verhalten, insbesondere an seinen Problemen in der Zusammenarbeit mit andern. Einer gemäss Psychiater für die aktuelle und zukünftige Arbeits- und Vermittlungsfähigkeit dringend erforderlichen Psychotherapie habe sich der Beschwerdeführer nicht unterziehen wollen. Es rechtfertige sich zum heutigen Zeitpunkt nicht, von den Einschätzungen des Vertrauensarztes abzuweichen.
 
4.
 
4.1 Entgegen dem kantonalen Gericht können die vom Psychiater Dr. med. G.________ in seinem Bericht vom 16. Februar 2004 festgestellten Auffälligkeiten nicht ohne weiteres als Charaktermängel qualifiziert werden. Vielmehr enthält der Bericht Anhaltspunkte dafür, dass allenfalls von einer psychischen Krankheit auszugehen ist. So führt der Vertrauensarzt aus, die von ihm skizzierte Psychoproblematik, die noch nie einer Therapie zugeführt werden konnte, habe Krankheitswert und wäre versicherungswürdig. Er spricht in seinen Ausführungen u.a. von einer Eigensinnigkeit, "die sozusagen mit dem Kopf durch die Wand geht, sodass es ungewollt zu einer Art von Selbstschädigung kommt". Solange der Versicherte dies nicht einsehen könne, sehe er für seine Vermittlungsfähigkeit und Arbeitsfähigkeit prognostisch schwarz; wobei das Problem bei der Arbeit eigentlich nicht an seinen fachlichen Fähigkeiten oder an der Gesundheit im engeren Sinne liege, sondern eben an der Psychoproblematik. Eine konkrete Diagnose ist dem Bericht des Vertrauensarztes nicht zu entnehmen.
 
4.2 Nach dem Gesagten gilt festzustellen, dass sich aufgrund des Berichts des Vertrauensarztes nicht schlüssig beurteilen lässt, ob es sich bei der psychischen Beeinträchtigung des Beschwerdeführers tatsächlich um blosse Charaktermängel handelt, welche mit Vorinstanz und Verwaltung unter dem Gesichtspunkt der sozialen Eignung im Rahmen der allgemeinen Vorschriften von Art. 15 Abs. 1 AVIG zu beurteilen wären (vgl. ARV 1993/94 Nr. 13 S. 105 Erw. 3c mit Hinweis) oder ob davon auszugehen ist, dass der Beschwerdeführer eine geistige Behinderung im Sinne von Art. 15 Abs. 2 AVIG aufweist, sodass die Vermittlungsfähigkeit in Anwendung dieser speziellen Bestimmung geprüft werden müsste. Diesfalls wäre zu beachten, dass bei der Beurteilung der Vermittlungsfähigkeit im Gegensatz zu Abs. 1 einerseits auf das krankheitsbedingte Leistungsdefizit des Versicherten gebührend Rücksicht zu nehmen wäre und anderseits von einem breiten Fächer an Arbeitsstellen ausgegangen werden müsste, der auch Arbeitsangebote umfasst, bei denen mit einem entsprechenden sozialen Entgegenkommen seitens des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin zu rechnen ist (vgl. Erw. 1.2.1 hievor). Auch aus den übrigen Akten ergeben sich keine Anhaltspunkte, die eine zuverlässige abschliessende Einschätzung zuliessen. Immerhin gilt festzustellen, dass unter Berücksichtigung der genannten Voraussetzungen von einer offensichtlichen Vermittlungsunfähigkeit nicht gesprochen werden kann, zumal der Versicherte stets wieder eine neue Stelle gefunden hat, so zuletzt bei der X.________AG. Mithin ist die Sache an die Verwaltung zurückzuweisen, damit sie nach Einholung eines zusätzlichen psychiatrischen Gutachtens über die Vermittlungsfähigkeit im Sinne der Erwägungen neu befinde.
 
5.
 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Ausgang des letztinstanzlichen Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 15. November 2004 und der Einspracheentscheid des Amtes für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Solothurn vom 6. Mai 2004 aufgehoben werden und die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die Vermittlungsfähigkeit des Beschwerdeführers neu verfüge.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Das Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Solothurn hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, der ADU-Arbeitslosenkasse und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
 
Luzern, 3. März 2005
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Die Präsidentin der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
 
i.V.
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).