VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer U 394/2004  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer U 394/2004 vom 14.04.2005
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
U 394/04
 
Urteil vom 14. April 2005
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin Polla
 
Parteien
 
I.________, 1975, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Werner Caviezel, Bahnhofstrasse 8, 7000 Chur,
 
gegen
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur
 
(Entscheid vom 19. August 2004)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1975 geborene I.________ war als Chemielaborant bei der Firma X.________ AG tätig, als er am 15. März 1997 bei einem Verkehrsunfall ein Schädelhirntrauma mit einem Mittelhirnsyndrom, verschiedene Knochenbrüche am rechten Arm und rechten Bein sowie einen Leberriss erlitt (Bericht der Klinik für Orthopädische Chirurgie am Spital Y.________, vom 18. April 1997). Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) kam für die Unfallfolgen auf und sprach dem Versicherten - nebst einer Integritätsentschädigung (Verfügung vom 1. Oktober 2001) - eine Invalidenrente auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von 10 % zu (Verfügung vom 23. November 2001). Ausgehend davon, dass I.________ als Gesunder im Jahr 2003 bei der Firma X.________ AG zum Laborleiter befördert worden wäre, hiess die SUVA die darauf erfolgte Einsprache teilweise gut und bemass den Invaliditätsgrad, welcher Grundlage der ab 1. Juli 2001 zugesprochenen Rente bildete, neu auf 13 % (Einspracheentscheid vom 10. Dezember 2003).
 
B.
 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Entscheid vom 19. August 2004 ab.
 
C.
 
I.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den Rechtsbegehren, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids seien ihm befristete und gestaffelte Invalidenrenten ab 1. Juli 2001 auf der Basis einer Invalidität von 20 %, ab 1. Juli 2010 auf der Basis einer Invalidität von 25 %, ab 1. Juli 2020 auf der Basis einer Invalidität von 30 % und ab 1. Juli 2025 auf der Basis einer Invalidität von 35 % zuzusprechen; eventualiter sei ihm ab 1. Juli 2001 eine Invalidenrente auf der Grundlage eines, bezogen auf die ganze Dauer der Erwerbstätigkeit, durchschnittlichen Invaliditätsgrades von 30 %, zuzusprechen; subeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.
 
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
D.
 
Am 1. April 2005 lässt I.________ zudem ein Gutachten zum Erwerbsschaden (Ermittlung eines Lohnprofils) der Universität St. Gallen vom März 2005 einreichen.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Die Prüfung eines allfälligen schon vor dem In-Kraft-Treten des ATSG entstandenen Anspruchs auf eine Rente der Unfallversicherung hat nach allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln bei einer Änderung der gesetzlichen Grundlagen grundsätzlich gemäss denjenigen Rechtssätzen zu erfolgen, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten. Demzufolge ist der Rentenanspruch für die Zeit bis 31. Dezember 2002 aufgrund der bisherigen und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen zu prüfen (BGE 130 V 329). Für den Verfahrensausgang ist dies indessen insofern von untergeordneter Bedeutung, als die im ATSG enthaltenen Umschreibungen hinsichtlich der UV-rechtlichen Invaliditätsbemessung keine substanziellen Änderungen gegenüber der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Normenlage brachten. Denn gemäss Urteil G. vom 22. Juni 2004, U 192/03, RKUV 2004 Nr. U 529 S. 572 entsprechen die im ATSG enthaltenen Definitionen der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG), der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und der Invalidität (Art. 8 ATSG) ebenso wie die Vorschrift über die Bestimmung des Invaliditätsgrades (bei erwerbstätigen Versicherten; Art. 16 ATSG) den bisherigen, in der Unfallversicherung von der Rechtsprechung dazu entwickelten Begriffen und Grundsätzen. Keine materiellrechtliche Änderung bringt auch der redaktionell neu gefasste Unfallbegriff des Art. 4 ATSG (RKUV 2004 Nr. U 530 S. 576).
 
1.2 Das nach Ablauf der Rechtsmittelfrist (Art. 106 Abs. 1 OG) am 1. April 2005 seitens des Beschwerdeführers nachgereichte Dokument muss materiell unberücksichtigt bleiben, da es nicht im Rahmen eines zweiten Rechtsschriftenwechsels einging und keine revisionsrechtlich relevanten neuen Tatsachen enthält (BGE 127 V 353).
 
2.
 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Anspruch auf eine Invalidenrente (namentlich Art. 18 Abs. 1 UVG [in der seit 1. Januar 2003 geltenden Fassung] in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 und Art. 16 ATSG; vgl. auch Art. 18 Abs. 1 und 2 UVG in der bis 31. Dezember 2002 in Kraft gewesenen Fassung) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
3.
 
Streitig ist allein die Bemessung des Invaliditätsgrades mit Blick auf die Höhe des Valideneinkommens. Hierbei interessiert insbesondere die Frage, ob bei der Ermittlung desselben eine hypothetische Lohnentwicklung während der gesamten Dauer des Erwerbslebens zu berücksichtigen ist, wie dies der Beschwerdeführer zur Hauptsache geltend macht.
 
3.1 Verwaltung und Vorinstanz haben das Valideneinkommen in der Annahme ermittelt, der Versicherte hätte ohne unfallbedingte Gesundheitschädigung das Studium zum Chemie-Ingenieur HTL abgeschlossen und würde in der Funktion eines Kleinlabor-Leiters weiterhin bei der Firma X.________ AG tätig sein. Gemäss Auskunft der Arbeitgeberin (Bericht der SUVA vom 13. Mai 2003) hätte der Beschwerdeführer nach Abschluss des Studiums mit einem Anfangsgehalt von Fr. 5600.- x 13 rechnen können. Die weitere Lohnentwicklung erfolge individuell und leistungsbezogen. Im Quervergleich mit zwei Arbeitskollegen, die im gleichen Zeitpunkt dasselbe Studium abschlossen und Fr. 5700.- und Fr. 5800.- erzielten, ging die SUVA im Mai 2001 von einem Verdienst von Fr. 5750.- aus. Des Weiteren erachtete sie in ihrem Einspracheentscheid die seit dem für die Invaliditätsbemessung massgebenden Zeitpunkt des Rentenbeginns mutmassliche lohnmässige Veränderung hinsichtlich des Valideneinkommens im Jahr 2003 als erheblich und setzte dieses auf Fr. 6040.- fest (vgl. BGE 129 V 222, 128 V 174).
 
3.2
 
3.2.1 Bei der Bestimmung des Valideneinkommens ist grundsätzlich darauf abzustellen, was der Versicherte aufgrund seiner beruflichen Fähigkeiten und persönlichen Umstände (im massgebenden Zeitpunkt nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit) als Gesunder tatsächlich verdienen würde, nicht was er als voll Erwerbstätiger bestenfalls verdienen könnte (ZAK 1992 S. 92 Erw. 4a; vgl. auch Urteile R. vom 9. September 2003 [M 2/02] Erw. 3.4, P. vom 22. August 2003 [I 316/02] Erw. 3.2, M. vom 7. Juli 2003 [I 627/02] Erw. 2.1.1, S. vom 28. April 2003 [I 297/02] Erw. 3.2.3, W. vom 9. Mai 2001 [I 575/00] Erw. 3a). Theoretisch vorhandene berufliche Entwicklungs- oder Aufstiegsmöglichkeiten sind nur dann zu beachten, wenn sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eingetreten wären. Für die Annahme einer mutmasslichen beruflichen Weiterentwicklung ist daher der Nachweis konkreter Anhaltspunkte dafür verlangt, dass der Versicherte einen beruflichen Aufstieg und ein entsprechend höheres Einkommen auch tatsächlich realisiert hätte, wenn er nicht invalid geworden wäre; blosse Absichtserklärungen genügen nicht (BGE 96 V 29; EVGE 1968 S. 93 Erw. 2a; AHI 1998 S. 171 Erw. 5a; RKUV 1993 Nr. U 168 S. 100 Erw. 3b; unveröffentlichte Urteile H. vom 20. Dezember 1996 [M 7/96] Erw. 3, F. vom 28. August 1996 [U 12/96] und M. vom 13. September 1996 [I 419/95]; jüngst statt vieler Urteile B. vom 9. November 2004 [I 561/03] Erw. 2.1, V. vom 19. Oktober 2004 [I 263/04] Erw. 3.2 und F. vom 6. Juli 2004 [I 2/04] Erw. 3.1).
 
3.2.2 Im Falle eines jungen Versicherten, der am Anfang seiner beruflichen Laufbahn von einem versicherten Ereignis betroffen wurde, entzieht sich die hypothetische Tatsache einer Jahre später ohne Invalidität ausgeübten bestimmten Tätigkeit naturgemäss einem strikten Beweis, zumal das lebenslange Ausüben eines einmal erlernten Berufes in den derzeitigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen immer weniger die Regel bildet, die ständige berufliche Qualifizierung hingegen weit verbreitet ist. Die Anforderungen an den massgebenden Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit dürfen daher nicht überspannt werden (SZS 2004 S. 67). Doch muss der hypothetische berufliche Werdegang dem Gericht wahrscheinlicher erscheinen als die Weiterausübung der angestammten Arbeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je mit Hinweisen; vgl. 130 III 324 f. Erw. 3.2 und 3.3).
 
Bei der Prüfung der mutmasslichen beruflichen Entwicklung können unter Umständen aus einer besonderen beruflichen Qualifizierung im Invaliditätsfall Rückschlüsse auf die hypothetische Entwicklung gezogen werden, zu der es ohne Eintritt des (unfallbedingten) Gesundheitsschadens gekommen wäre. Nach der Rechtsprechung ist dies insbesondere dann zulässig, wenn die angestammte Tätigkeit auch nach dem Unfall weitergeführt werden kann (Urteile S. vom 29. August 2002 Erw. 1.2 mit Hinweisen, I 97/00). Indessen darf aus einer erfolgreichen Invalidenkarriere in einem neuen Tätigkeitsbereich nicht ohne Weiteres abgeleitet werden, die versicherte Person hätte ohne Invalidität eine vergleichbare Position auch im angestammten Tätigkeitsgebiet erreicht (Urteil W. vom 26. Mai 2003, U 183/02).
 
3.3 Hinsichtlich der Weiterbildungsbestrebungen kann zu Recht angenommen werden, der Versicherte hätte das vor dem Unfall in Angriff genommene Studium zum Chemie-Ingenieur HTL abgeschlossen und wäre heute in diesem Beruf tätig. Da die Einkommensermittlung so konkret wie möglich zu erfolgen hat und somit seine individuellen, persönlichen und beruflichen Verhältnisse massgebend sind, rechtfertigt es sich anzunehmen, der Beschwerdeführer wäre im Jahr 2003 weiterhin bei der Firma X.________ AG tätig gewesen, zumal sich in den Akten keinerlei Hinweise auf einen geplanten Stellenwechsel finden und zudem Aussicht auf die Leitung eines Labors bestand. So verlor der Versicherte die Stelle im Jahre 2001 denn auch nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern aufgrund seiner gesundheitsbedingten Leistungseinbusse. Entgegen der beschwerdeführerischen Ansicht ist somit zur Lohnermittlung nicht auf statistische Werte abzustellen. Wenn die SUVA des Weiteren zu Gunsten des Versicherten die Anhaltspunkte für einen beruflichen Aufstieg über die fachliche Weiterbildung hinaus im Sinne einer Führungsposition als hinreichend konkret ansah, lässt sich dies nicht beanstanden, zumal der Versicherte als fachlich ausgezeichneter und ehrgeiziger Mitarbeiter galt. Ein Einbezug einer weiterführenden berufliche Entwicklung, mithin über die gesamte Dauer seines verbleibenden Arbeitslebens, wie dies der Beschwerdeführer verlangt, kommt einer auch im Gebiet der Unfallversicherung ausserhalb der Praxis zu den Fingerverletzungen (BGE 106 V 48) grundsätzlich unzulässigen antizipierten Invaliditätsschätzung gleich (BGE 119 V 471, 97 V 59 Erw. 1; AHI 1998 S. 174 Erw. 6a) und wäre zum Zeitpunkt des Einspracheentscheides im Jahr 2003 rein spekulativ, da nicht mehr mit dem notwendigen Beweisgrad zu erstellen; denn die berufliche Laufbahn hängt von persönlichen Qualifikationen und weiteren nicht beeinflussbaren äusseren Umständen ab, weshalb dem Einwand nicht gefolgt werden kann. Ob sich Validen- und Invalideneinkommen in unterschiedlichem Ausmass weiterentwickeln werden, wird sich weisen und gegebenenfalls revisionsweise (Art. 22 UVG, Art. 17 ATSG) zu berücksichtigen sein.
 
4.
 
In Gegenüberstellung des hypothetischen Valideneinkommens im Jahre 2003 von Fr. 6040.- mit dem unbestritten gebliebenen Invalideneinkommen von Fr. 5300.-, welches der Versicherte im Jahr 2003 als Chemielaborant bei der Firma Q.________ AG verdiente, resultiert ein Invaliditätsgrad von 12 % (zur Rundung: BGE 130 V 121). Damit hat es beim vorinstanzlichen Entscheid, welcher die von der SUVA mit Wirkung ab 1. Juli 2001 zugesprochene Rente auf der Basis einer Erwerbsunfähigkeit von 13 % bestätigt, sein Bewenden.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.
 
Luzern, 14. April 2005
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).