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Informationen zum Dokument  BGer 4P.101/2005  Materielle Begründung
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BGer 4P.101/2005 vom 09.06.2005
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
4P.101/2005 /zga
 
Urteil vom 9. Juni 2005
 
I. Zivilabteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Corboz, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Rottenberg Liatowitsch, Kiss,
 
Gerichtsschreiberin Charif Feller.
 
Parteien
 
X.________,
 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Robert Rilk,
 
gegen
 
Y.________ AG
 
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Fürsprecher Hans Ulrich Kobel,
 
Obergericht des Kantons Bern, Appellationshof,
 
1. Zivilkammer, Postfach 7475, 3001 Bern.
 
Gegenstand
 
Art. 8 und 9 BV (Zivilprozess),
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, Appellationshof, 1. Zivilkammer, vom 28. Februar 2005.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
X.________ (Beschwerdeführer) schloss am 7. Oktober 2002 mit der Y.________ AG (Beschwerdegegnerin) einen schriftlichen Arbeitsvertrag. Danach übernahm der Beschwerdeführer ab 1. Februar 2003 die Stelle "Leiter Finanzen und Administration". Betreffend Kündigungsmodalitäten wurde auf das OR verwiesen.
 
Am 28. Oktober 2003 schrieb der behandelnde Arzt den Beschwerdeführer wegen Darmproblemen, die sich bereits am Vortag bemerkbar gemacht hatten, "voraussichtlich bis 3. November 2003" arbeitsunfähig. Gleichentags meldete der Beschwerdeführer seine Krankheit der Beschwerdegegnerin. Auch am 29. Oktober 2003 blieb er krankheitsbedingt zuhause und teilte der Personalverantwortlichen bei der Beschwerdegegnerin mit, dass er am nächsten Tag wiederum arbeiten komme, falls es ihm besser gehe. Am 30. Oktober 2003 erschien der Beschwerdeführer um 07.50 Uhr an seinem Arbeitsplatz und arbeitete bis um 12.00 Uhr und von 13.05 Uhr bis um 17.40 Uhr. Am Nachmittag fand eine Sitzung mit Vertretern der Pensionskasse statt, an welcher der Beschwerdeführer teilnahm.
 
Am 30. Oktober 2003 unterbreitete die Beschwerdegegnerin dem Beschwerdeführer ein Schreiben, wonach das Arbeitsverhältnis fristgerecht auf den 30. November 2003 aufgelöst und er per sofort von der Arbeit frei gestellt werde. Dieses Schreiben wurde vom Beschwerdeführer unterzeichnet. Die Kündigung und Freistellungserklärung wurde dem Beschwerdeführer am 31. Oktober 2003 auch per Post zugestellt (Eingang beim Beschwerdeführer am 1. November 2003).
 
Mit Schreiben seines Anwalts vom 28. November 2003 stellte sich der Beschwerdeführer erstmals auf den Standpunkt, er sei am 30. Oktober 2003 krank gewesen. In der Folge kündigte die Beschwerdegegnerin das Arbeitsverhältnis mit dem Beschwerdeführer noch einmal vorsorglich per 31. Januar 2004 für den Fall, dass die Kündigung vom 30. Oktober 2003 nichtig sein sollte.
 
B.
 
Mit Klage vom 31. Mai 2004 belangte der Beschwerdeführer die Beschwerdegegnerin auf Bezahlung von Fr. 29'250.- nebst Zins und Ablieferung der Sozialversicherungsbeiträge. Am 8. November 2004 hiess der Gerichtspräsident 2 des Gerichtskreises III Aarberg-Büren-Erlach die Klage im Umfang von Fr. 24'783.40 nebst Zins gut und verpflichtete die Beschwerdegegnerin, die Sozialversicherungsbeiträge abzuliefern.
 
Gegen dieses Urteil appellierte die Beschwedegegnerin erfolgreich an das Obergericht des Kantons Bern. Dessen Appellationshof, 1. Zivilkammer, wies die Klage mit Urteil vom 28. Februar 2005 ab. Das Gericht erachtete es als erwiesen, dass der Beschwerdeführer die Kündigung und Freistellungserklärung am 30. Oktober 2003 unterzeichnet und durch sein Verhalten am 30. Oktober 2003 zum Ausdruck gebracht hatte, wieder arbeitsfähig zu sein. Die Kündigung sei somit nicht in die Sperrfrist nach Art. 336c Abs. 1 lit. b OR gefallen und demnach gültig per 31. (recte: 30.) November 2003 ausgesprochen worden.
 
C.
 
Der Beschwerdeführer beantragt dem Bundesgericht mit staatsrechtlicher Beschwerde, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne. Der Appellationshof verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Parallel zur staatsrechtlichen Beschwerde hat der Beschwerdeführer in gleicher Sache eidgenössische Berufung eingelegt.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Erhebt eine Partei gleichzeitig staatsrechtliche Beschwerde und Berufung, so ist in der Regel zuerst über die staatsrechtliche Beschwerde zu befinden und der Entscheid über die Berufung wird ausgesetzt (Art. 57 Abs. 5 OG). Vorliegend besteht kein Anlass, anders zu verfahren.
 
2.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde ist grundsätzlich rein kassatorischer Natur, d.h. sie kann nur zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids führen (BGE 129 I 129 E. 1.2.1 mit Hinweisen). Soweit der Beschwerdeführer beantragt, die Sache sei zur Neubeurteilung an den Appellationshof zurückzuweisen, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten.
 
3.
 
Der Beschwerdeführer wirft dem Appellationshof eine Verletzung von Art. 8 und 9 BV vor (Ermessensüberschreitung/Willkür in der Ermessensausübung, Verstoss gegen das Gebot von Treu und Glauben sowie der Rechtsgleichheit).
 
Die staatsrechtliche Beschwerde ist nur gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide zulässig (Art. 86 Abs. 1 OG). Das setzt voraus, dass die vor Bundesgericht erhobenen Rügen mit keinem kantonalen Rechtsmittel hätten geltend gemacht werden können (BGE 126 III 485 E. 1a). Urteile der Zivilkammern des bernischen Appellationshofes unterliegen der Nichtigkeitsklage an dessen Plenum (Art. 7 Abs. 1 Satz 2 ZPO/BE), mit welcher allerdings die vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen nicht geltend gemacht werden können (vgl. Art. 359 ZPO/BE). Das Erfordernis der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs ist somit erfüllt.
 
4.
 
Im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren prüft das Bundesgericht nur klar und detailliert erhobene Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG). Auf ungenügend begründete Rügen und rein appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt es nicht ein (BGE 130 I 258 E. 1.3).
 
Rügt der Beschwerdeführer eine willkürliche Beweiswürdigung, muss er aufzeigen, inwiefern diese im Ergebnis offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BGE 129 I 185 E. 1.6 S. 189; 125 I 71 E. 1c, 492 E. 1b). Die den Willkürvorwurf begründenden Elemente sind in der Beschwerdeschrift im Einzelnen aufzuzeigen (BGE 125 I 71 E. 1c, 492 E. 1b).
 
Dabei ist zu berücksichtigen, dass dem Sachgericht im Bereich der Beweiswürdigung ein erheblicher Ermessensspielraum zusteht (BGE 120 Ia 31 E. 4b S. 40). Das Bundesgericht setzt sein Ermessen nicht an die Stelle desjenigen des Sachgerichts, sondern greift auf staatsrechtliche Beschwerde hin nur ein, wenn Letzteres sein Ermessen missbraucht, insbesondere offensichtlich unhaltbare Schlüsse zieht, erhebliche Beweise übersieht oder solche willkürlich ausser Acht lässt (BGE 129 I 8 E. 2.1; 120 Ia 31 E. 4b S. 40).
 
5.
 
Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz Willkür vor, weil sie dem ins Recht gelegten Arztzeugnis nicht den "nach klarer und gefestigter Rechtsprechung geltenden Beweiswert" zuerkannt habe. Die "Ermessensüberschreitung" sei besonders krass, weil der strittige vorgedruckte Passus "voraussichtlich" nachträglich durch den Arzt in dem Sinn konkretisiert worden sei, dass er den Patienten klar und deutlich bis 3. November 2003 krankgeschrieben habe. Dem nachträglichen Attest des Arztes hätte grösseres Gewicht beigemessen werden müssen.
 
Der Appellationshof erwog, der Arzt habe den Beschwerdeführer voraussichtlich bis am 3. November 2003 krankgeschrieben. Dabei habe er im vorgedruckten Arztzeugnis den Text geändert, indem er bei "voraussichtlich für" das Wort "für" gestrichen und mit "bis" ersetzt habe. Da er nicht den ganzen Passus gestrichen habe, dürfe davon ausgegangen werden, dass er das Wort "voraussichtlich" bewusst stehen gelassen habe, weil er sich nicht sicher war, wie lange der Beschwerdeführer krank sein würde. Aus diesem Vorgehen könne geschlossen werden, dass der Arzt den Beschwerdeführer nicht mindestens bis am 3. November 2003 habe krankschreiben wollen. Er habe es für möglich gehalten, dass der Beschwerdeführer bereits früher wieder gesund werden und arbeiten gehen könne. Mit dem ärztlichen Attest vom 8. Januar 2004 habe der Arzt präzisiert, dass er den Beschwerdeführer vom 28. Oktober 2003 bis zum 3. November 2003 habe arbeitsunfähig erklären müssen. Dabei sei aber zu beachten, dass dieses Attest erst auf Anraten des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers gut zwei Monate nach der Erkrankung eingeholt worden sei und dass der Beschwerdeführer den Arzt nach dem 28. Oktober 2003 nicht mehr persönlich konsultiert habe. Es sei damit auf den Wortlaut des ersten, unmittelbar nach der ärztlichen Untersuchung ausgestellten Attestes abzustellen.
 
Der Appellationshof stützt sich damit auf triftige Gründe, um vom ersten Arztzeugnis vom 28. Oktober 2003 auszugehen, in welchem der Arzt den Beschwerdeführer offenbar bewusst bloss voraussichtlich bis 3. November 2003 krankschrieb und nicht ausschloss, dass er schon vorher wieder gesund sein könnte. Im nachträglichen Attest vom 8. Januar 2004 wird dann zwar Arbeitsunfähigkeit vom 28. Oktober bis 3. November 2003 bestätigt, aber mit keinem Wort begründet. Solches wäre dem Arzt auch kaum möglich gewesen, hat ihn doch der Beschwerdeführer nach dem 28. Oktober 2003 nicht mehr konsultiert. Der Appellationshof durfte daher willkürfrei Zweifel an diesem nachträglichen, vom Rechtsvertreter des Beschwerdeführers veranlassten Attest hegen und das erste Zeugnis als aussagekräftiger betrachten.
 
6.
 
Der Appellationshof erwog zudem, dass, selbst wenn sich aus dem Arztzeugnis ableiten liesse, dass der Beschwerdeführer am 30. Oktober 2003 arbeitsunfähig gewesen sei, er durch sein Verhalten den gegenteiligen Anschein erweckt habe. So habe er an jenem Tag 8 Stunden 45 Minuten gearbeitet, sogar etwas mehr als die vertragliche Sollarbeitszeit, dies ohne betriebliche Notwendigkeit. Nach eigenen Angaben habe der Beschwerdeführer an der nachmittäglichen Sitzung teilnehmen wollen; seine Teilnahme sei aber nicht unbedingt erforderlich gewesen, die Sitzung hätte auch ohne ihn abgehalten werden können. Hier stelle sich die Frage, weshalb er trotz angeblicher Krankheit den ganzen Tag gearbeitet habe. Wesentlich sei auch die Tatsache, dass der Beschwerdeführer mit seinem Personenwagen zur Arbeit gefahren sei, was für die Hin- und Rückfahrt eine Autofahrt von insgesamt 3 Stunden und 20 Minuten bedeutet habe. Er habe, anders als für die Heimfahrt vom 27. Oktober 2003, nie geltend gemacht, es seien unterwegs gesundheitliche Beschwerden aufgetreten. Der Beschwerdeführer hätte wohl kaum in krankem (arbeitsunfähigem) Zustand das Risiko von Autofahrten von insgesamt 3 Stunden und 20 Minuten zusätzlich zur Arbeitszeit auf sich genommen. Zudem sei es den Mitarbeitenden nach deren Aussagen nicht aufgefallen, dass es dem Beschwerdeführer an diesem Tag schlecht gegangen sei.
 
Der Beschwerdeführer hält diesen auf Beweiswürdigung beruhenden Überlegungen nichts entgegen. Er bringt lediglich vor, bei der "klaren und gefestigten Lehre und Rechtsprechung zum Umgang mit Arztzeugnissen" stelle es einen krassen Verstoss gegen den Grundsatz von Treu und Glauben sowie die Rechtsgleichheit dar, wenn der Richter ohne triftigen Grund vom üblichen Grad an Beweiswert, der einem Arztzeugnis beigemessen werde, abweiche. Ein Arbeitnehmer müsse 100-prozentig darauf vertrauen können, dass seine durch Zeugnis des Arztes bescheinigte Krankheit rechtlich als solche gewertet werde. Ein anderes Verständnis missachte in krasser Weise das Vertrauen, das ein Bürger in die Konstanz staatlichen Handelns haben dürfe.
 
Der Beschwerdeführer scheint mit diesen Ausführungen eine unbegründete Praxisänderung geltend machen zu wollen, ohne allerdings irgendwelche Belege für die behauptete "klare und gefestigte Lehre und Rechtsprechung" zu nennen. Soweit diese Rüge überhaupt als rechtsgenüglich begründet zu betrachten ist (vgl. E. 4 hiervor), geht sie fehl. Einem Arztzeugnis kommt kein absoluter Beweiswert zu. Das Bundesgericht hat bereits in einem Entscheid aus dem Jahre 1995 festgehalten, dass der Richter sich über den in einem ärztlichen Zeugnis enthaltenen Befund hinwegsetzen darf, wenn sich aus den Umständen (vor allem aus dem Verhalten des Arbeitnehmers während der angeblichen Arbeitsunfähigkeit) ergibt, dass die Arbeitsunfähigkeit nicht bestand (BGE 4P.102/1995 vom 12. Dezember 1995, publiziert in JAR 1997 S. 132; zur kantonalen Praxis vgl. etwa JAR 1984, S. 134 f.; JAR 1980 S. 209, S. 273). Gleiches vermerkt die Doktrin (Rehbinder, Berner Kommentar, N 19 zu Art. 324a OR; Schönenberger/Staehelin, Zürcher Kommentar, N 9 und 10 zu Art. 324a OR; Rehbinder/Portmann, Basler Kommentar, N 3 zu Art. 324a OR; Streiff/von Kaenel, Leitfaden zum Arbeitsvertragsrecht, 5. Aufl., Zürich 1992, N 12 zu Art. 324a OR). Von einer Praxisänderung oder einem Verhalten wider Treu und Glauben kann daher keine Rede sein.
 
7.
 
Aus dem Gesagten folgt die Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde, soweit darauf einzutreten ist. Da der massgebende Streitwert Fr. 30'000.- nicht erreicht, ist das Verfahren kostenlos (Art. 343 Abs. 3 OR). Der Beschwerdeführer hat die Beschwerdegegnerin indes für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.
 
2.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
3.
 
Der Beschwerdeführer hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, Appellationshof, 1. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 9. Juni 2005
 
Im Namen der I. Zivilabteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
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