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Informationen zum Dokument  BGer I 11/2005  Materielle Begründung
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BGer I 11/2005 vom 13.06.2005
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 11/05
 
Urteil vom 13. Juni 2005
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiber Ackermann
 
Parteien
 
R.________, 1947, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Ulrich Seiler, Falkenhöheweg 20, 3012 Bern,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
 
(Entscheid vom 4. November 2004)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
R.________, geboren 1947, arbeitete ab 1981 als Giesser für die Giesserei X.________ AG. Am 4. April 2002 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an, worauf die IV-Selle Bern Abklärungen in erwerblicher und medizinischer Hinsicht vornahm. Mit zwei Verfügungen vom 23. Mai 2002 lehnte sie den Anspruch auf medizinische Massnahmen ab, gewährte jedoch berufliche Massnahmen (Berufsberatung und Abklärung der beruflichen Eingliederungsmassnahmen). Mit einer weiteren Verfügung vom 3. September 2002 verneinte sie den Anspruch auf eine Invalidenrente; der angestammte Beruf sei zwar nur noch zu 50 %, eine leidensangepasste Tätigkeit jedoch vollumfänglich zumutbar, so dass ein rentenausschliessender Invaliditätsgrad von 28 % resultiere.
 
Unter Beilage je eines Berichtes des Dr. med. L.________, Arzt für Allgemeine Medizin FMH, vom 18. November 2002 und des Dr. med. F.________, Facharzt FMH für Rheumatologie, vom 4. November 2002 meldete sich R.________ im Januar 2003 erneut bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 4. März 2003 wies die Verwaltung das Leistungsbegehren ab, da sich der Gesundheitszustand nicht geändert habe; diese Verfügung wurde jedoch mit Verfügung vom 14. März 2003 wiedererwägungsweise aufgehoben. Die IV-Stelle nahm in der Folge einen Bericht des Dr. med. L.________ vom 5. April 2003 zu den Akten und veranlasste je eine Begutachtung durch Frau Dr. med. E.________, Spezialärztin FMH für Neurochirurgie, (Expertise vom 30. August 2003) sowie durch Dr. med. H.________, Psychiatrie Psychotherapie FMH, (Expertise von September 2003). Mit Verfügung vom 23. September 2003 verneinte die Verwaltung den Rentenanspruch erneut, da sich der Gesundheitszustand seit September 2002 "nicht objektiv und wesentlich verändert" habe, was mit Einspracheentscheid vom 11. Mai 2004 bestätigt worden ist.
 
B.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 4. November 2004 ab.
 
C.
 
R.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den Anträgen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und des Einspracheentscheides sei die Sache zur weiteren Abklärung an die Verwaltung zurückzuweisen, eventualiter sei ihm eine halbe Rente oder eine Viertelsrente zuzusprechen.
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Die Vorinstanz hat die Voraussetzungen für das Eintreten auf eine Neuanmeldung nach Ablehnung eines Leistungsgesuches (Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV) und die beim Eintreten auf eine Neuanmeldung analog zur Rentenrevision gemäss Art. 17 ATSG anwendbaren Rechtsgrundsätze (BGE 117 V 198 Erw. 3a; vgl. BGE 130 V 349 ff. Erw. 3.5 sowie Urteil Z. vom 26. Oktober 2004, I 457/04) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt für den Invaliditätsbegriff (Art. 8 ATSG) sowie die Rechtsprechung zum invaliditätsbegründenden Charakter psychischer Gesundheitsschäden (BGE 102 V 165, AHI 2001 S. 228 Erw. 2b) und der zu diesen gehörenden somatoformen Schmerzstörungen (BGE 130 V 352, 396). Darauf wird verwiesen.
 
2.
 
Streitig ist allein der Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung. Unbestritten ist, dass die Verwaltung auf die Neuanmeldung von Januar 2003 eingetreten ist.
 
2.1 Das kantonale Gericht stellt auf die Gutachten der Dres. med. H.________ und E.________ ab. Die von den Experten diagnostizierte Somatisierungsstörung erfülle die von der Rechtsprechung (BGE 130 V 352) vorausgesetzten Kriterien nicht und könne deshalb nicht Grundlage für eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit sein. In der Folge sei - wie anlässlich der ersten Rentenablehnung im September 2002 - immer noch von einer vollständigen Arbeitsfähigkeit für leidensangepasste Tätigkeiten auszugehen, weshalb keine massgebende Änderung des Sachverhalts eingetreten sei.
 
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird demgegenüber im Wesentlichen die Auffassung vertreten, dass der Sachverhalt ungenügend abgeklärt worden sei, insbesondere sei das Gutachten der Frau Dr. med. E.________ widersprüchlich und entspreche nicht der Aktenlage. Weiter liege ein Widerspruch zwischen den Gutachten der Dres. med. E.________ und H.________ vor. Die Leiden des Versicherten seien zudem nicht psychischer oder psychosomatischer, sondern somatischer Natur.
 
2.2 Als körperliche Beeinträchtigungen führt Frau Dr. med. E.________ in ihrem Gutachten vom 30. August 2003 eine skoliotische Fehlhaltung der Brust- und Lendenwirbelsäule bei mässig ausgeprägten degenerativen Veränderungen an. Die bisherige Tätigkeit als Giesser sei nicht mehr möglich, jedoch seien leidensangepasste Tätigkeiten (d.h. keine Gewichte über 10 kg heben und tragen, regelmässige Positionswechsel sowie Steh-, Sitz- und Gehdauer nach ein bis zwei Stunden kurz unterbrechen) zu 100 % zumutbar. Weiter führt die Expertin ausdrücklich aus, dass in einer leidensangepassten Tätigkeit keine verminderte Leistungsfähigkeit bestehe. Dieses Gutachten ist für die streitigen Belange umfassend, beruht auf allseitigen Untersuchungen, berücksichtigt die geklagten Beschwerden und ist in Kenntnis der Vorakten abgegeben worden; zudem ist es in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen Situation einleuchtend und enthält begründete Schlussfolgerungen (BGE 125 V 352 Erw. 3a). Somit kommt dieser Expertise grundsätzlich volle Beweiskraft zu; sie stimmt im Übrigen mit der Aussage des Dr. med. F.________ in dessen Bericht vom 4. November 2002 überein, wonach dem Beschwerdeführer "etwas leichtere Tätigkeiten [als diejenige als Giesser] zumutbar sein sollten". Dagegen vermag der Bericht des Dr. med. L.________ vom 5. April 2003 weder zu einer anderen Beurteilung der Arbeitsfähigkeit zu führen, noch ein konkretes Indiz gegen die Zuverlässigkeit der Ausführungen zu nennen (vgl. BGE 125 V 353 Erw. 3b/bb): Obwohl der Hausarzt die Arbeitsfähigkeit in einer leichteren Arbeit wegen der "anhaltenden Schmerzempfindungen und -äusserungen" auf "allerhöchstens" 50 % einschätzt, empfiehlt er eine gutachterliche "Beurteilung der Rückensituation und der Arbeitsfähigkeit", was nur bedeuten kann, dass seine Einschätzung nicht als definitiv aufzufassen ist.
 
Entgegen der Auffassung in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist das Gutachten der Frau Dr. med. E.________ nicht widersprüchlich; es geht denn auch klar von einer vollständigen Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit aus und nicht nur von einer solchen im Umfang von 30 %, wie der Versicherte anzunehmen scheint. Wenn die Expertin schliesslich ausführt, eine leidensangepasste Tätigkeit sei "zu 100 % mit entsprechender Stundenanzahl zumutbar", liegt entgegen der Meinung des Beschwerdeführers keine "orakelhaft[e] Weissagung" vor, sondern es handelt sich um die Feststellung, dass dem Versicherten ein volles Pensum somatisch vollumfänglich möglich sei, unbesehen darum, ob die tägliche Arbeitszeit nun (z.B.) konkret acht oder achteinhalb Stunden betrage.
 
Da dem Beschwerdeführer schon zur Zeit der ersten rentenablehnenden Verfügung eine leidensangepasste Tätigkeit vollzeitig zumutbar gewesen ist, wie dem Bericht des Dr. med. L.________ vom 11. Mai 2002 entnommen werden kann, hat sich der Sachverhalt in somatischer Hinsicht nicht in anspruchserheblichem Mass verändert. Ob die Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit geringer geworden ist, spielt für die Invaliditätsbemessung demgegenüber keine Rolle, da sich das Einkommen nach Eintritt des Gesundheitsschadens allein anhand einer zumutbaren, hier im Vergleich zum September 2002 unveränderten Verweisungstätigkeit richtet.
 
2.3 Der psychiatrische Experte Dr. med. H.________ hält im Gutachten von September 2003 fest, dass keine geistigen Beeinträchtigungen bestünden, aber eine Somatisierungsstörung (ICD-10 F45.0) vorliege, welche jedoch nicht stark ausgeprägt sein könne und zu einer Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 20 % führe.
 
2.3.1 Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit können in gleicher Weise wie körperliche Gesundheitsschäden eine Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 ATSG bewirken. Nicht als Folgen eines psychischen Gesundheitsschadens und damit invalidenversicherungsrechtlich nicht als relevant gelten Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit, welche die versicherte Person bei Aufbietung allen guten Willens, die verbleibende Leistungsfähigkeit zu verwerten, abwenden könnte; das Mass des Forderbaren wird dabei weitgehend objektiv bestimmt (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 Erw. 2b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 127 V 298 Erw. 4c in fine).
 
Die Annahme eines psychischen Gesundheitsschadens, so auch einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, setzt zunächst eine fachärztlich (psychiatrisch) gestellte Diagnose nach einem wissenschaftlich anerkannten Klassifikationssystem voraus (BGE 130 V 398 ff. Erw. 5.3 und Erw. 6). Wie jede andere psychische Beeinträchtigung begründet indes auch eine diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung als solche noch keine Invalidität. Vielmehr besteht eine Vermutung, dass die somatoforme Schmerzstörung oder ihre Folgen mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar sind. Bestimmte Umstände, welche die Schmerzbewältigung intensiv und konstant behindern, können den Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess unzumutbar machen, weil die versicherte Person alsdann nicht über die für den Umgang mit den Schmerzen notwendigen Ressourcen verfügt. Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, entscheidet sich im Einzelfall anhand verschiedener Kriterien. Im Vordergrund steht die Feststellung einer psychischen Komorbidität von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer. Massgebend sein können auch weitere Faktoren, so: chronische körperliche Begleiterkrankungen; ein mehrjähriger, chronifizierter Krankheitsverlauf mit unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerdauernde Rückbildung; ein sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens; ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr beeinflussbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn; "Flucht in die Krankheit"); das Scheitern einer konsequent durchgeführten ambulanten oder stationären Behandlung (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) trotz kooperativer Haltung der versicherten Person (BGE 130 V 352). Je mehr dieser Kriterien zutreffen und je ausgeprägter sich die entsprechenden Befunde darstellen, desto eher sind - ausnahmsweise - die Voraussetzungen für eine zumutbare Willensanstrengung zu verneinen (Ulrich Meyer-Blaser, Der Rechtsbegriff der Arbeitsunfähigkeit und seine Bedeutung in der Sozialversicherung, in: René Schaffhauser/Franz Schlauri [Hrsg.], Schmerz und Arbeitsunfähigkeit, St. Gallen 2003, S. 77).
 
2.3.2 Der psychiatrische Experte Dr. med. H.________ führt in seinem Gutachten von September 2003 aus, dass der Untersuchungsbefund in psychischer Hinsicht unauffällig ist und demzufolge keine geistige Beeinträchtigung vorliegt. Der Gutachter berichtet denn auch über keine der von der Rechtsprechung vorausgesetzten Kriterien, welche ausnahmsweise eine Invalidität wegen einer somatoformen Schmerzstörung begründen können; vielmehr erwähnt er allein die Fixierung des Beschwerdeführers auf seine Schmerzen sowie invaliditätsfremde - und deshalb hier nicht zu berücksichtigende - Gründe, nämlich "Emigration, mässige Assimilation, fortgeschrittenes Alter, Alleinleben" sowie dass sich der Versicherte an seine bisherige Arbeit gewöhnt habe und keine Änderung wolle.
 
Demnach kann die diagnostizierte Somatisierungsstörung nicht invalidisierend sein, weshalb von einer vollen Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit auszugehen ist. Damit hat sich der Gesundheitszustand zwischen September 2002 (Erlass der ersten rentenablehnenden Verfügung; vgl. BGE 130 V 77 Erw. 3.2.3) und Mai 2004 (Erlass des Einspracheentscheides) auch in psychiatrischer Hinsicht nicht in leistungsbegründendem Ausmass verändert.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 13. Juni 2005
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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