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Informationen zum Dokument  BGer I 14/2005  Materielle Begründung
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BGer I 14/2005 vom 17.06.2005
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 14/05
 
Urteil vom 17. Juni 2005
 
II. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Borella, Bundesrichter Schön und
 
Frésard; Gerichtsschreiber Ackermann
 
Parteien
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
B.________, 1950, Beschwerdegegnerin, vertreten
 
durch Fürsprecher Alain Pfulg, Aarbergergasse 21,
 
3011 Bern
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
 
(Entscheid vom 19. November 2004)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
B.________, geboren 1950, arbeitete ab Mai 1989 auf ihrem erlernten Beruf als Krankenschwester für das Spital X.________. Sie meldete sich am 22. Dezember 1999 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an, worauf die IV-Stelle Bern Abklärungen in medizinischer sowie erwerblicher Hinsicht vornahm und mit Verfügung vom 21. Dezember 2000 eine Umschulung zur christlichen Beraterin zusprach, welche erfolgreich durchgeführt wurde.
 
Im Rahmen des Vorbescheidverfahrens betreffend Rentenanspruch veranlasste die IV-Stelle je eine Begutachtung in psychiatrischer und somatischer Hinsicht. Mit Verfügungen vom 6. September 2002 wurde B.________ vom 1. Mai bis zum 30. November 2001 eine Viertelsrente und (wegen vollständiger Arbeitsunfähigkeit infolge Operation) vom 1. Dezember 2001 bis zum 30. April 2002 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zugesprochen. Die ganze Rente wurde über April 2002 hinaus weiter ausgerichtet, was mit Revisionsverfügung vom 12. November 2002 (nachträglich) bestätigt wurde, nachdem nochmals je ein psychiatrisches und somatisches Gutachten eingeholt worden war.
 
Mit Verfügung vom 5. Dezember 2003 setzte die IV-Stelle die bisherige ganze Rente mit Wirkung ab dem 1. Januar 2004 auf eine halbe Rente herab, da B.________ als christliche Beraterin eine Tätigkeit im Umfang von 50 % zumutbar wäre und in der Folge ein Invaliditätsgrad von 57 % resultiere. Dies wurde mit Einspracheentscheid vom 11. Juni 2004 bestätigt.
 
B.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 19. November 2004 in dem Sinne gut, dass es den Einspracheentscheid von Juni 2004 aufhob und B.________ mit Wirkung ab dem 1. Januar 2004 eine Dreiviertelsrente zusprach.
 
C.
 
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, den vorinstanzlichen Entscheid aufzuheben.
 
B.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Begriff der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), der Invalidität (Art. 8 ATSG, Art. 4 IVG) und die Ermittlung des Invaliditätsgrades (Art. 16 ATSG) sowie den Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 IVG in den vor und ab dem 1. Januar 2004 geltenden Fassungen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
Zu ergänzen bleibt, dass im Fall der erheblichen Änderung des Invaliditätsgrades eines Rentenbezügers die Rente gemäss Art. 17 Abs. 1 ATSG von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben wird. Bei einer Verbesserung der Erwerbsfähigkeit ist die anspruchsbeeinflussende Änderung für die Herabsetzung oder Aufhebung der Leistung von dem Zeitpunkt an zu berücksichtigen, in dem angenommen werden kann, dass sie voraussichtlich längere Zeit dauern wird; sie ist in jedem Fall zu berücksichtigen, nachdem sie ohne wesentliche Unterbrechung drei Monate angedauert hat und voraussichtlich weiterhin andauern wird (Art. 88a Abs. 1 IVV in den vor und ab März 2004 geltenden Fassungen).
 
2.
 
Streitig ist die Höhe des Rentenanspruchs ab Januar 2004 und in diesem Zusammenhang allein die Frage der Höhe des Einkommens nach Eintritt des Gesundheitsschadens (Invalideneinkommen).
 
2.1 Für die Vorinstanz bestehen "aufgrund der Akten keine Anhaltspunkte dafür, dass für christliche Beraterinnen tatsächlich ein Markt besteht", jedenfalls kein solcher, auf dem das von der IV-Stelle angenommene Jahreseinkommen von Fr. 32'500.- erzielt werden könne. Das kantonale Gericht stellt in der Folge auf die Tabelle A1 der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2002 ab, wobei es den - der Lohnentwicklung angepassten und auf die betriebsübliche Wochenarbeitszeit umgerechneten - Zentralwert für Frauen auf Anforderungsniveau 3 (Berufs- und Fachkenntnisse vorausgesetzt) beizieht. Nachdem die Vorinstanz einen behinderungsbedingten Abzug von 10 % und die Restarbeitsfähigkeit von 50 % berücksichtigt hat, schliesst sie auf einen Invaliditätsgrad von 64 %.
 
Die Beschwerde führende IV-Stelle ist demgegenüber der Auffassung, dass ein Markt für christliche Beraterinnen bestehe, auf dem die Versicherte mit einem halben Pensum ein Jahreseinkommen von Fr. 32'500.- erzielen könne. Weiter sei der vom kantonalen Gericht berücksichtigte behinderungsbedingte Abzug von 10 % nicht gerechtfertigt.
 
Die Beschwerdegegnerin führt schliesslich aus, dass für die Bestimmung des Invalideneinkommens auf die Schweizerische Lohnstrukturerhebung abzustellen und dabei ein leidensbedingter Abzug von 20 % vorzunehmen sei.
 
2.2 Der Einkommensvergleich nach Art. 16 ATSG hat in der Regel in der Weise zu erfolgen, dass die beiden hypothetischen Erwerbseinkommen ziffernmässig möglichst genau ermittelt und einander gegenübergestellt werden, worauf sich aus der Einkommensdifferenz der Invaliditätsgrad bestimmen lässt. Insoweit die fraglichen Erwerbseinkommen ziffernmässig nicht genau ermittelt werden können, sind sie nach Massgabe der im Einzelfall bekannten Umstände zu schätzen und sind die so gewonnenen Annäherungswerte miteinander zu vergleichen (BGE 128 V 30 Erw. 1 mit Hinweis; vgl. auch BGE 130 V 348 Erw. 3.4).
 
Im Hinblick auf die Rechtsprechung ist die Vorgehensweise der Verwaltung somit grundsätzlich nicht zu beanstanden, hat sie für die Bestimmung des Invalideneinkommens doch Abklärungen über den durch eine christliche Beraterin zu erzielenden Lohn durchgeführt. Zu prüfen bleibt, ob dies auch im vorliegenden Fall korrekt gewesen ist. Die Beschwerdegegnerin ist ausgebildete Krankenschwester mit langjähriger Berufserfahrung und verfügt über eine Zusatzausbildung in christlicher Beratung, während ihr leichte Arbeiten im Umfang von 50 % medizinisch zumutbar sind, so dass ihr diese Tätigkeit möglich ist. Dass sie effektiv keine Stelle als christliche Beraterin gefunden hat, ist nicht massgebend, da die Invaliditätsbemessung nach ihrer gesetzlichen Konzeption (Art. 16 ATSG) einen ausgeglichenen Arbeitsmarkt unterstellt. Nach der Rechtsprechung handelt es sich dabei um einen theoretischen und abstrakten Begriff, der dazu dient, den Leistungsbereich der Invalidenversicherung von demjenigen der Arbeitslosenversicherung abzugrenzen. Der Begriff umschliesst einerseits ein bestimmtes Gleichgewicht zwischen dem Angebot von und der Nachfrage nach Stellen; anderseits bezeichnet er einen Arbeitsmarkt, der von seiner Struktur her einen Fächer verschiedenartiger Stellen offen hält und zwar sowohl bezüglich der dafür verlangten beruflichen und intellektuellen Voraussetzungen wie auch hinsichtlich des körperlichen Einsatzes. Nach diesen Gesichtspunkten bestimmt sich im Einzelfall, ob der Invalide die Möglichkeit hat, seine restliche Erwerbsfähigkeit zu verwerten und ob er ein rentenausschliessendes Einkommen zu erzielen vermag oder nicht (BGE 110 V 276 Erw. 4b; ZAK 1991 S. 320 f. Erw. 3b). Daraus folgt, dass für die Invaliditätsbemessung nicht darauf abzustellen ist, ob ein Invalider unter den konkreten Arbeitsmarktverhältnissen vermittelt werden kann, sondern einzig darauf, ob er die ihm verbliebene Arbeitskraft noch wirtschaftlich nutzen könnte, wenn die verfügbaren Arbeitsplätze dem Angebot an Arbeitskräften entsprechen würden (AHI 1998 S. 291). Dies ist dann nicht der Fall, wenn die zumutbare Tätigkeit nur in so eingeschränkter Form möglich ist, dass sie der allgemeine Arbeitsmarkt praktisch nicht kennt oder nur unter nicht realistischem Entgegenkommen eines durchschnittlichen Arbeitgebers ausgeübt werden kann (ZAK 1989 S. 322 Erw. 4a). Beim als ausgeglichen unterstellten Arbeitsmarkt geht es somit nicht um reale, geschweige denn offene Stellen, sondern um (gesundheitlich zumutbare) Beschäftigungsmöglichkeiten, die der Arbeitsmarkt von seiner Struktur her, jedoch abstrahiert von den konjunkturellen Verhältnissen, umfasst (Urteil C. vom 16. Juli 2003, I 758/02).
 
2.3 Der Berufsberater hat im Rahmen der Prüfung des Umschulungsanspruchs Erkundigungen über die Berufsaussichten einer christlichen Beraterin eingeholt: Anfragen an bisherige Kursabsolventen konnten nicht erfolgen, da der Kurs erst sei zwei Jahren angeboten wurde, jedoch sei die IV-Stelle "informiert worden, dass die Absolventen in diversen Tätigkeitsfeldern wie Beratung und Mithilfe in den Pfarreien tätig sein können"; weiter liegt ein Empfehlungsschreiben eines Pfarrers vom 28. Juni 2000 vor, der die Umschulung unterstützte. Nach Abschluss der Umschulung hat die Verwaltung telephonische Auskünfte der Ausbildungsinstitution und eines Therapiezentrums eingeholt, welche "übereinstimmend" eine Verdienstmöglichkeit von monatlich etwa Fr. 5000.- ergeben hätten. Dieser Betrag deckt sich in etwa mit den statistischen Lohnangaben der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2002, welche in Tabelle A1 für die Branche "Gesundheits- und Sozialwesen" (Zeile 85) im hier wohl massgebenden Anforderungsniveau 3 (Berufs- und Fachkenntnisse vorausgesetzt) für Frauen ein Bruttogehalt von Fr. 5282.- vorsehen (allerdings bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von nur 40 Stunden).
 
Die Beschwerdegegnerin hat jedoch im kantonalen Beschwerdeverfahren wie auch im letztinstanzlichen Verfahren diverse Stellungnahmen potentieller Arbeitgeber eingereicht, welche teilweise keinen Bedarf nach Arbeitskräften mit dem Anforderungsprofil einer christlichen Beraterin ausweisen. Diese Angaben sind zum Teil anlässlich von Stellenbewerbungen ergangen und deshalb mit Vorsicht zu geniessen, da Absagen gerichtsnotorisch nicht immer der Wahrheit entsprechen und für die Invaliditätsbemessung nach Art. 16 ATSG ein ausgeglichener Arbeitsmarkt massgebend ist (vgl. Erw. 2.2 hievor). Dennoch erweist sich - aufgrund der von der Versicherten eingereichten Absagen - der Sachverhalt als ungenügend abgeklärt: Die IV-Stelle wird vertieft abzuklären haben, ob ein Arbeitsmarkt für christliche Beraterinnen besteht und welches die entsprechenden Verdienstmöglichkeiten sind; in Betracht fallen dabei Anfragen an Ausbildungsinstitutionen, Kursabsolventen, Fachverbände (z.B. dem Verband für christliche Seelsorge und Beratung; www.acc-ch.ch), Spitäler, Pfarreien etc.
 
2.4 Sollten die Abklärungen ergeben, dass kein Arbeitsmarkt für christliche Beraterinnen besteht, wäre für die Bemessung des Invalideneinkommens auf statistische Angaben abzustellen, z.B. die schweizerische Lohnstrukturerhebung (vgl. BGE 129 V 475 Erw. 4.2.1 mit Hinweisen). Mit ihrer Ausbildung (Krankenschwester mit langjähriger Berufserfahrung, Zusatzausbildung in christlicher Beratung) und unter Berücksichtigung ihres Gesundheitszustandes ist es ihr zumutbar, auch in Zukunft in der (breiten) Branche des Gesundheits- und Sozialwesens tätig zu sein. Es ist deshalb (soweit die Lohnstrukturerhebung überhaupt anwendbar ist) für das zumutbare Einkommen nach Eintritt des Gesundheitsschadens entgegen der Vorinstanz nicht auf den Zentralwert, sondern auf den entsprechenden Betrag im Gesundheits- und Sozialwesen abzustellen (Zeile 85). Zu prüfen wäre zudem, ob Anforderungsniveau 3 (Berufs- und Fachkenntnisse vorausgesetzt) oder gar Anforderungsniveau 2 (Verrichtung selbstständiger und qualifizierter Arbeiten) massgebend wäre. Schliesslich müsste im Hinblick auf einen allfälligen leidensbedingten Abzug (vgl. dazu BGE 126 V 78 Erw. 5) berücksichtigt werden, dass das Alter der Versicherten im Bereich Gesundheits- und Sozialwesen infolge der langjährigen Erfahrung kaum zu einer Lohnminderung führen dürfte und sich Teilzeitbeschäftigungen bei Frauen eher lohnerhöhend auswirken (vgl. Tabelle 8 der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2002 S. 28). Im Rahmen konkreter Arbeitsmarktangaben wäre ein solcher Abzug dagegen nicht sachgerecht (vgl. BGE 129 V 482 Erw. 4.2.3).
 
3.
 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die IV-Stelle als obsiegende Behörde hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 135 OG in Verbindung mit Art. 159 Abs. 2 OG).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 19. November 2004 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle Bern vom 11. Juni 2004 aufgehoben werden und die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Rentenanspruch neu verfüge.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Schweizerischen Baumeisterverbandes und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 17. Juni 2005
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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