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Informationen zum Dokument  BGer 1P.176/2005  Materielle Begründung
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BGer 1P.176/2005 vom 28.06.2005
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1P.176/2005 /ggs
 
Urteil vom 28. Juni 2005
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Féraud, Präsident,
 
Bundesrichter Aemisegger, Aeschlimann,
 
Gerichtsschreiber Pfisterer.
 
Parteien
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Josef Ulrich,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern,
 
Obergericht des Kantons Luzern, Kriminal- und Anklagekommission, Hirschengraben 16, 6002 Luzern.
 
Gegenstand
 
Art. 9 und 29 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Einstellung des Strafverfahrens; Kostenbeschwerde),
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern, Kriminal- und Anklagekommission, vom 18. Januar 2005.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Y.________ reichte am 10. Mai 2003 Strafanzeige gegen X.________ ein und erhob den Vorwurf der Veruntreuung und der einfachen Körperverletzung.
 
Der Anzeige liegt folgender Sachverhalt zu Grunde: Y.________ hatte sein Auto zur Reparatur und zum Reifenwechsel in die Garage von X.________ in Z.________ gebracht, war aber nicht in der Lage, die Kosten der Reparatur sogleich vollständig zu bezahlen. Er liess deshalb das Fahrzeug bei X.________. Als er dieses wieder abholen wollte, teilte X.________ ihm mit, er habe das Auto zwecks Verrechnung der Restschuld abmachungsgemäss nach einer Wartezeit von drei Monaten verkauft. Y.________ war damit nicht einverstanden, worauf es zu einem Handgemenge kam, in dessen Verlauf er leicht verletzt wurde. X.________ reichte seinerseits Strafanzeige gegen Y.________ wegen Drohung und Tätlichkeit ein.
 
Das Untersuchungsrichteramt II, Emmental-Oberaargau/BE eröffnete am 26. Mai 2003 ein Strafverfahren gegen X.________ wegen Veruntreuung und einfacher Körperverletzung. Da im Kanton Luzern bereits im Jahre 2002 eine Strafuntersuchung gegen X.________ wegen verschiedenen Delikten eingeleitet worden war, übernahm das Untersuchungsrichteramt des Kantons Luzern (im Folgenden: Untersuchungsrichteramt) am 4. Juni 2004 das Verfahren aus dem Kanton Bern.
 
B.
 
Das Untersuchungsrichteramt stellte das Strafverfahren gegen X.________ "wegen Veruntreuung, Körperverletzung und nicht ordnungsgemässer Führung der Geschäftsbücher" am 27. Juli 2004 wieder ein. Auf die Schadenersatzforderungen von Y.________ trat es nicht ein. Die amtlichen Kosten gingen zu Lasten des Staates. Eine Anwaltsentschädigung wurde X.________ nicht ausgerichtet.
 
X.________ reichte dagegen eine Kostenbeschwerde ein und beantragte eine Anwaltskostenentschädigung von Fr. 2'848.80 inkl. Mehrwertsteuer und Auslagen.
 
Das Obergericht des Kantons Luzern, Kriminal- und Anklagekommission, hiess die als Rekurs entgegengenommene Kostenbeschwerde am 18. Januar 2005 teilweise gut und setzte die Kostennote für das Untersuchungsverfahren auf Fr. 2'498.-- fest, wovon X.________ Fr. 1'000.-- selber tragen sollte. Das Gericht stützte diesen Abzug auf den Anklagepunkt der ordnungswidrigen Führung der Geschäftsbücher. Es nahm diesbezüglich eine zivilrechtliche Verantwortlichkeit von X.________ an, welche für die Einleitung des Strafverfahrens mitursächlich war. Die Kosten des Verfahrens vor Obergericht gingen zu Lasten des Staates, eine Anwaltskostenentschädigung wurde nicht zugesprochen.
 
C.
 
X.________ führt mit Eingabe vom 10. März 2005 staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts und beantragt dessen Aufhebung.
 
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das Obergericht beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Entscheid, der ihm eine tiefere als die geforderte Entschädigung zuerkannte, in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen (Art. 88 OG). Er macht die Verletzung verfassungsmässig garantierter Rechte geltend (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG), wozu er legitimiert ist. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf seine staatsrechtliche Beschwerde einzutreten, unter Vorbehalt der nachfolgenden Erwägungen.
 
2.
 
Der Beschwerdeführer macht geltend, gegen ihn sei nie ein Strafverfahren wegen ordnungswidriger Führung der Geschäftsbücher (Art. 325 StGB) eröffnet bzw. geführt worden. Die gegenteilige Annahme des Obergerichts sei willkürlich (Art. 9 BV).
 
2.1 Das Untersuchungsrichteramt brachte in seinem Einstellungsentscheid vom 27. Juli 2004 zum Ausdruck, dass es das Verfahren gegen den Beschwerdeführer auch wegen ordnungswidriger Führung der Bücher geführt hatte. Das Untersuchungsrichteramt ging davon aus, der Beschwerdeführer sei den Buchführungspflichten nicht nachgekommen und berücksichtigte dies u. a. beim Entscheid, von einer Entschädigung der Parteikosten abzusehen.
 
2.2 Im kantonalen Rechtsmittelverfahren befasste sich der Beschwerdeführer nicht mit dem Vorwurf der ordnungswidrigen Buchführung. Seine Argumentation bewegte sich auf einer anderen Ebene. Er wendet sich erstmals im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren gegen dieses Argument. Er hätte sich indessen bereits im Kostenrekurs an das Obergericht dagegen wehren müssen. Demzufolge ist diesbezüglich der kantonale Instanzenzug materiell nicht ausgeschöpft worden (vgl. Art. 86 Abs. 1 OG). Dies betrifft den Einwand, der Vorhalt der ordnungswidrigen Buchführung sei gar kein Gegenstand des Strafverfahrens gewesen, wie auch die Sachfeststellung, der Beschwerdeführer habe seine Bücher nicht ordnungsgemäss geführt. Auf die in diesem Zusammenhang erhobenen Rügen kann damit nicht eingetreten werden.
 
3.
 
Der Beschwerdeführer hält dem Obergericht vor, er habe nicht damit rechnen müssen, dass es seinen Entscheid auf eine Verletzung der Buchführungspflichten abstützen werde. Damit habe es sein rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) verletzt.
 
3.1 Das rechtliche Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV dient einerseits der Sachaufklärung, anderseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört das Recht des Betroffenen, sich vor dem Entscheid zur Sache zu äussern. Anspruch auf vorgängige Anhörung besteht u. a., wenn das Gericht seinen Entscheid mit einer Rechtsnorm oder einem Rechtsgrund zu begründen beabsichtigt, die bzw. der im bisherigen Verfahren nicht herangezogen wurde, und worauf sich die Parteien nicht berufen haben und mit deren Erheblichkeit im konkreten Fall sie nicht rechnen konnten (BGE 128 V 272 E. 5b/bb S. 278; 126 I 19 E. 2c/aa S. 22, je mit Hinweisen).
 
3.2 Nach der Ansicht des Beschwerdeführers wurde er erstmals vor Obergericht der Verletzung der Buchführungspflichten beschuldigt. Dies ist unzutreffend. Bereits das Untersuchungsrichteramt erhob diesen Vorwurf in seinem Einstellungsentscheid. Da der Beschwerdeführer demnach bereits aufgrund des Einstellungsentscheides vom 27. Juli 2004 die Möglichkeit zur Verteidigung gegen diesen Vorhalt gehabt hätte, war das Obergericht nicht gehalten, ihm vorgängig seines Rekursentscheides vom 10. November 2004 mitzuteilen, es gedenke aufgrund einer Widerrechtlichkeit im Sinne von Art. 957 OR die Anwaltskosten nur teilweise zu entschädigen.
 
4.
 
Der Beschwerdeführer macht sodann eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 2 EMRK geltend. Die nur teilweise Erstattung der Anwaltskosten widerspreche der Unschuldsvermutung.
 
4.1 Es ist mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung von Art. 6 Ziff. 2 EMRK, der auch in Art. 32 Abs. 1 BV verankert ist, vereinbar, einem Angeschuldigten bei Einstellung des Strafverfahrens Kosten zu überbinden, wenn er in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise, d. h. im Sinne einer analogen Anwendung der sich aus Art. 41 OR ergebenden Grundsätze, gegen eine geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnorm, die aus der gesamten schweizerischen Rechtsordnung stammen kann, klar verstossen und dadurch das Strafverfahren veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat (BGE 120 Ia 147 E. 3b S. 155; 119 Ia 332 E. 1b S. 334; 116 Ia 162 E. 2e S. 175).
 
4.2 Das Obergericht stützte die teilweise Kostenauflage auf die unbestritten gebliebenen Sachfeststellungen des Untersuchungsrichteramtes ab. Durch die Verletzung der Buchführungs- und Aufbewahrungspflicht gemäss Art. 957 OR habe der Beschwerdeführer schuldhaft und durch eine erhebliche Verletzung von Rechtspflichten (§ 277 Abs. 1 StPO/LU) Anlass zum Strafverfahren gegeben bzw. dessen Durchführung erschwert. Deshalb rechtfertige sich eine teilweise Kostenauflage.
 
Im Lichte der vorgenannten Rechtsprechung ist dieses Vorgehen in keiner Art und Weise zu beanstanden. Die nur teilweise Vergütung der Anwaltskosten gestützt auf eine Verletzung von Art. 957 OR verstösst nicht gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung im Sinne von Art. 6 Ziff. 2 EMRK und Art. 32 Abs. 1 BV.
 
5.
 
Schliesslich rügt der Beschwerdeführer eine unverhältnismässige, d h. willkürliche Kostenauflage im Sinne von Art. 9 BV.
 
5.1 Gemäss § 277 Abs. 1 StPO/LU werden dem Angeschuldigten trotz Einstellung des Verfahrens die Kosten ganz oder teilweise überbunden, soweit er das Verfahren durch eine schuldhafte und erhebliche Verletzung von Rechtspflichten verursacht hat.
 
5.2 Unter Berücksichtigung des dem Obergericht durch diese Bestimmung eingeräumten weiten Ermessens bei der Entschädigung der Parteikosten kann nicht gesagt werden, der Entscheid vom 10. November 2004 beruhe auf einer Würdigung der Umstände, die schlechterdings unhaltbar und mithin willkürlich sei. Diese Rüge ist somit unbegründet.
 
6.
 
Nach dem Gesagten ist die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Gerichtskosten (Art. 156 Abs. 1 OG). Parteientschädigungen werden keine ausgerichtet (Art. 159 Abs. 2 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Luzern, Kriminal- und Anklagekommission, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 28. Juni 2005
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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