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Informationen zum Dokument  BGer P 40/2004  Materielle Begründung
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BGer P 40/2004 vom 17.08.2005
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
P 40/04
 
Urteil vom 17. August 2005
 
II. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiberin Bollinger
 
Parteien
 
S.________, 1948,Beschwerdeführer, vertreten durch Herrn lic. iur. Georg Biedermann, Praxis für Sozialversicherungsrecht, Ruhtalstrasse 14, 8400 Winterthur,
 
gegen
 
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
 
(Entscheid vom 11. Mai 2004)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1948 geborene S.________ war seit 1968 als Maurer bei der Firma T.________ AG tätig. Ab 1. Januar 1999 bezog er Taggelder der Arbeitslosenversicherung. Mit Verfügung vom 21. September 2001 sprach ihm die Invalidenversicherung wegen langandauernder Krankheit rückwirkend ab 1. August 1997 eine halbe Härtefallrente bei einem Invaliditätsgrad von 43 % zu. Am 29. Januar 2002 meldete er sich zum Bezug von Ergänzungsleistungen an. Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen führte erwerbliche Abklärungen durch und zog medizinische Akten der Invalidenversicherung bei. Sie ermittelte die anrechenbaren Einnahmen, bei welchen ein hypothetisches Erwerbseinkommen berücksichtigt wurde, und die anerkannten Ausgaben. Am 28. August 2003 sprach sie S.________ für die Monate März und April 2001 Ergänzungsleistungen zu, während sie für die Folgezeit einen Anspruch verneinte, da ein Einnahmenüberschuss bestehe. Mit Einspracheentscheid vom 23. Oktober 2003 hielt sie daran fest.
 
B.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen am 11. Mai 2004 ab.
 
C.
 
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen. Er beantragt die Feststellung seines Anspruchs auf Ergänzungsleistungen ab 1. März 2001 und die Verpflichtung der Sozialversicherungsanstalt, rückwirkend ab 1. März 2001 die Ergänzungsleistungen ohne Einbezug eines hypothetischen Einkommens zu berechnen. Eventuell sei die Sache zurückzuweisen, damit das kantonale Gericht über die Vermittlungsfähigkeit neu entscheide.
 
Die Sozialversicherungsanstalt schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).
 
2.
 
Das kantonale Gericht hat die massgebenden gesetzlichen Bestimmungen über die bei der Prüfung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen anrechenbaren Einnahmen (Art. 3c ELG), insbesondere über die Einkünfte und Vermögenswerte, auf die verzichtet worden ist (Art. 3c Abs. 1 lit. g ELG), sowie die rechtlichen Grundlagen für die Anrechnung eines Erwerbseinkommens von Teilinvaliden (Art. 3a Abs. 7 lit. c ELG in Verbindung mit Art. 14a Abs. 2 lit. a ELV und Art. 3b Abs. 1 lit. a ELG) zutreffend dargelegt. Richtig ist auch, dass entsprechend der Zielsetzung der EL bei der Prüfung, ob die Restarbeitsfähigkeit wirtschaftlich genutzt werden kann, auch invaliditätsfremde Faktoren, welche die Realisierung eines Einkommens verhindern oder erschweren, zu berücksichtigen sind. Dazu gehören sämtliche objektiven und subjektiven Besonderheiten wie etwa Alter, Gesundheitszustand, Sprachkenntnisse, Ausbildung, bisherige Tätigkeit, konkrete Arbeitsmarktlage sowie eine allfällige Dauer der Abwesenheit vom Berufsleben (BGE 117 V 290 Erw. 3a; AHI 2001 S. 133 Erw. 1b mit Hinweisen). Korrekt ist weiter, dass es teilinvaliden Versicherten vermutungsweise möglich und zumutbar ist, die in Art. 14a ELV festgelegten Grenzbeträge zu erzielen und dass der Ansprecher diese gesetzliche Vermutung durch den Beweis des Gegenteils umstossen kann (BGE 117 V 204 Erw. 2a). Darauf wird verwiesen.
 
3.
 
Zu prüfen ist, ob dem Beschwerdeführer die Erzielung eines hypothetischen Einkommens zugemutet werden kann.
 
3.1 Aus den Akten geht hervor, dass der Versicherte seit Februar 1968 als (angelernter) Maurer erwerbstätig war. Am 23. August 1996 erlitt er einen Arbeitsunfall, bei dem er sich eine Fraktur eines Lendenwirbelkörpers (LWK4) zuzog. Bis im Jahre 1998 unternahm er verschiedene erfolglose Arbeitsversuche; seither hat er nicht mehr gearbeitet und zeitweilig (bis zur Erschöpfung des Leistungsanspruchs am 28. Februar 2001) Taggelder der Arbeitslosenversicherung bezogen. Eine von der Invalidenversicherung veranlasste medizinische Begutachtung in der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) vom 26. August 2000 ergab als Diagnosen mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit zum einen ein chronisches Lumbovertebralsyndrom bei/mit Status nach LWK4-Kompressionsfraktur im August 1996, leichter Wirbelsäulenfehlform (Flachrücken lumbal), lumbospondylogener Schmerzausstrahlung beidseits, ausgeprägter Symptomausweitung bei psychosozialer Problemkonstellation (Scheidung, Arbeitslosigkeit) und vor allem konsekutiver Schmerzverarbeitungsstörung, zum andern eine depressive Episode, gegenwärtig leichten Grades, vorwiegend reaktiv bedingt (Arbeitslosigkeit, Scheidung). Die Gutachter führten aus, in Berufen mit leichter bis mittelschwerer, wechselbelastender Tätigkeit mit Hebebelastungen bis maximal 15 kg und ohne Arbeiten in Zwangspositionen (vornübergeneigt, überkopf oder mit repetitiven Stereotypien) bestehe eine mindestens 80 %ige Arbeitsfähigkeit. Die soziale Problematik (unter anderem aus der Ehescheidung folgende Alimentenzahlungen) stelle ein nicht zu unterschätzendes Rehabilitationshindernis dar. In einer "Akten- und Gesprächsnotiz" vom 10. März 2003 hielt der zuständige Sachbearbeiter des Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums (RAV) fest, die Wiedereingliederung einer Person in den Arbeitsmarkt, die - wie dies auf den Beschwerdeführer zutreffe - für sich selber keine Chance mehr sehe, könne praktisch ausgeschlossen werden. Hausarzt Dr. med. G.________, Allgemeine Medizin FMH, führte am 28. März 2003 aus, der Gesundheitszustand habe sich verschlechtert. Der Beschwerdeführer könnte sicherlich eine leichtere Arbeit verrichten, doch sei eine solche kaum zu finden. Aufgrund des langjährigen somatoformen chronischen Schmerzsyndroms sei ungewiss, ob er in der Lage wäre, eine Arbeit über längere Zeit auszuführen (Beiblatt zum Verlaufsbericht vom 2. April 2003).
 
3.2 Unbestrittenerweise wäre dem Beschwerdeführer aus medizinischer Sicht eine Teilzeitarbeit in einer angepassten Tätigkeit möglich und zumutbar (MEDAS-Gutachten vom 26. August 2000; Beiblatt zum Verlaufsbericht des Hausarztes vom 2. April 2003). Gleichwohl hat sich der Versicherte seit Erschöpfung des Leistungsanspruchs aus der Arbeitslosenversicherung Ende Februar 2001 nie mehr schriftlich um Arbeit bemüht. Er gab an, seine Bewerbungen nicht dokumentiert zu haben, da er keine Arbeitslosentaggelder mehr bezogen habe und
 
daher zu solchen Aufzeichnungen nicht mehr verpflichtet gewesen sei. Gleichzeitig erklärte er aber auf dem RAV, sich überhaupt nicht gesund zu fühlen, auch keine leichten Arbeiten verrichten zu können und für sich keine Chance im Erwerbsleben mehr zu sehen. Vor diesem Hintergrund sind an der Ernsthaftigkeit der Stellensuche erhebliche Zweifel angebracht.
 
3.3 Zu prüfen ist, ob der Versicherte in der Lage wäre, seine verbliebene Arbeitsfähigkeit wirtschaftlich zu verwerten. An sich zu Recht bringt er vor, dass es bei den derzeitigen angespannten Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt für Teilinvalide schwierig ist, die in Art. 14a Abs. 2 ELV festgelegten hypothetischen Einkommensgrenzbeträge tatsächlich zu erzielen. Gleichwohl kann die Situation insgesamt nicht als derart bezeichnet werden, dass sie die Realisierung solcher Einkünfte praktisch verunmöglichen würde. Dies gilt im Fall des Beschwerdeführers umso mehr, als er sich bereits seit 1968 in der Schweiz aufhält und eine aussergewöhnliche berufliche Konstanz aufweisen kann (er war von 1968 bis 1998 beim gleichen Arbeitgeber tätig). Die geringe Schulbildung (acht Jahre Primarschule in Italien) und der fehlende Berufsabschluss stellen unstreitig ebenfalls ein gewisses Hindernis auf dem Arbeitsmarkt dar. Leichte Hilfsarbeiten werden dadurch aber - zumindest nach einer gewissen Anlernzeit - nicht verunmöglicht. Auch die relativ lange Arbeitsabstinenz und die geltend gemachten beschränkten Deutschkenntnisse verunmöglichen eine Wiedereingliederung in die Arbeitswelt nicht. Zum einen kann der längeren Abwesenheit vom Berufsleben mit einer gewissen Anpassungsperiode Rechnung getragen werden (AHI 2001 S. 134 Erw. 2b). Zum andern spricht der Versicherte, der 13 Jahre lang mit einer Schweizerin verheiratet war, ein etwas gebrochenes, aber durchaus gut verständliches Deutsch (psychiatrisches Untergutachten vom 29. August 2000). Schliesslich ist nicht entscheidend, dass ihn das RAV als vermittlungsunfähig erachtete (BGE 109 V 29; Urteil K. vom 3. März 2004, P 55/03), zumal die diesbezügliche Einschätzung im Wesentlichen auf der Aussage des Versicherten gründet, er sehe für sich selbst auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr. Obwohl bei der Prüfung, ob ein hypothetisches Einkommen anzurechnen ist, die Zielsetzungen der EL (Sicherung einer angemessenen Deckung des Existenzbedarfs bedürftiger Rentnerinnen und Rentner der AHV und IV) zu berücksichtigen sind und subjektive Faktoren einbezogen werden müssen (Erw. 2 hievor), kann doch nicht allein entscheidend sein, wie die versicherte Person ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt sieht. Eine solche Selbsteinschätzung vermag die gesetzliche Vermutungsfolge des Art. 14a Abs. 2 ELV nicht umzustossen.
 
3.4 In Berücksichtigung der gesamten Aktenlage wurde die Vermutung des Art. 14a Abs. 2 ELV damit nicht rechtsgenüglich (BGE 126 V 360 Erw. 5b mit Hinweisen) widerlegt. Das kantonale Gericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass es dem Beschwerdeführer im Rahmen seiner Schadenminderungspflicht (BGE 115 V 53, 114 V 285 Erw. 3, 111 V 239 Erw. 2a) bei Aufbietung allen guten Willens auch bei nicht ausgeglichener Arbeitsmarktlage möglich wäre, eine leichte Hilfsarbeit zu finden und ein hypothetisches Einkommen zu erzielen.
 
4.
 
4.1 Nicht streitig, aber von Amtes wegen zu prüfen ist die Höhe des anzurechnenden hypothetischen Einkommens. Zutreffend erwägt das kantonale Gericht, dass mangels konkreter Angaben - analog zur Ermittlung des Invalideneinkommens - Tabellenlöhne beigezogen werden können. Dies gilt insbesondere dann, wenn die betroffene Person - wie vorliegend - keiner oder keiner ihr zumutbaren Tätigkeit nachgeht (vgl. BGE 126 V 76 Erw. 3b/bb; Urteil S. vom 27. Februar 2004, P 64/03). Indessen ist bei der Berechnung der Ergänzungsleistung als Bedarfsleistung praxisgemäss von der konkreten Arbeitsmarktlage unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles auszugehen. Massgebend ist somit die konkrete persönliche Situation sowie der Arbeitsmarkt im fraglichen Zeitpunkt in der Nähe des Wohnortes der betreffenden Person (AHI 2001 S. 136 Erw. 2d). Die hypothetische Frage, in welcher Höhe die versicherte Person Erwerbseinkünfte erzielen könnte, lässt in der Regel weder ein schematisches Abstellen auf statistische Durchschnittswerte noch mehr oder weniger gesicherte Erfahrungsannahmen zu. Solche Annahmen mögen zwar für einen Grossteil der Versicherten zutreffen, sagen aber nichts über das beruflich-erwerbliche Leistungsvermögen im konkreten Fall aus, wie es bei der Berechnung von Ergänzungsleistungen berücksichtigt werden muss (Urteil S. vom 27. Februar 2004, P 64/03, Erw. 3.3.2, zusammenfassend publiziert in HAVE 2004 S. 127). Soweit die Vorinstanz ohne Einbezug dieser Faktoren einen starren Maximalabzug von 40 % vom Tabellenlohn festsetzt - wovon 20 % generell und die restlichen 20 % unter Berücksichtigung der besonderen Nachteile des Versicherten abzuziehen seien - und in diesem Rahmen losgelöst von den regionalen wirtschaftlichen Besonderheiten das hypothetische Einkommen bestimmt, steht dieses Vorgehen im Widerspruch zur bundesgerichtlichen Praxis. Es sind aber keine Gründe ersichtlich (und ergeben sich auch nicht aus den vorinstanzlichen Erwägungen), welche zu einer Überprüfung der höchstrichterlichen Praxis Anlass gegeben würden.
 
4.2 Aus den Akten geht nicht hervor, welches Einkommen Männer mit dem Ausbildungsprofil des Versicherten im massgeblichen Zeitpunkt hätten erzielen können. Die Sozialversicherungsanstalt, an welche die Sache zurückzuweisen ist, wird ausgehend vom Angebot an offenen geeigneten Stellen für Personen, welche die persönlichen und beruflichen Voraussetzungen des Beschwerdeführers erfüllen, und den dabei erzielbaren Einkommen - welche etwa durch Beizug der regionalen Werte der LSE ermittelt werden können (vgl. Urteil S. vom 17. Februar 2004, P 64/03, Erw. 3.3.2 mit Hinweis) - über den Anspruch auf Ergänzungsleistungen im Sinne der Erwägungen neu zu befinden haben.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 11. Mai 2004 und der Einspracheentscheid der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen vom 23. Oktober 2003 aufgehoben und die Sache wird an die Sozialversicherungsanstalt zurückgewiesen, damit diese, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf Ergänzungsleistungen neu verfüge.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen. Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 17. August 2005
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der II. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
 
i.V.
 
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