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Informationen zum Dokument  BGer 1P.380/2005  Materielle Begründung
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BGer 1P.380/2005 vom 08.09.2005
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1P.380/2005 /ggs
 
Urteil vom 8. September 2005
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Féraud, Präsident,
 
Bundesrichter Aeschlimann, Eusebio,
 
Gerichtsschreiberin Scherrer.
 
Parteien
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch
 
Y.________,
 
gegen
 
Staat St. Gallen, 9000 St. Gallen, vertreten durch Staatsanwalt Dr. Thomas Hansjakob, Schützengasse 1, 9001 St. Gallen,
 
Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, Klosterhof 1, 9001 St. Gallen.
 
Gegenstand
 
Art. 9 und 10 BV (Rechtsmittelfrist und Wiederherstellung der Frist),
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid
 
des Kantonsgerichts St. Gallen, Strafkammer, vom 17. Mai 2005.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
X.________ wurde mit Urteil des Kreisgerichtes St. Gallen vom 24. September 2004 des Betrugs sowie der mehrfachen Hehlerei für schuldig erklärt und zu einer Gefängnisstrafe von zwölf Monaten verurteilt. Gegen diesen Entscheid liess der Verurteilte mit Eingabe vom 26. November 2004 Berufung ans Kantonsgericht St. Gallen erheben.
 
B.
 
Am 15. Dezember 2004 wurde den Parteien vom Kantonsgericht mitgeteilt, im Berufungsverfahren werde vorab die Frage geklärt, ob die Berufung rechtzeitig erfolgt sei. Der Vertreter des Angeklagten, Y.________, erklärte hierauf sinngemäss, er habe mit seiner Tochter, welche in Bern Jura studiere, unter anderem am Abend des 26. November 2004 diesen Fall diskutiert. Soweit er sich erinnere, sei auch ein Geschäftspartner anwesend gewesen, welcher das Gespräch über die zu beachtende Frist respektive den massgeblichen Posteinwurf mitverfolgt habe. Er, Y.________, habe sodann die Berufungserklärung geschrieben, worauf seine Tochter diese zur Post gebracht habe. Sie habe den Brief beim "Treffpunkt" östlich des Hauptbahnhofs St. Gallen eingeworfen. Ihr Zug sei um 24.02 Uhr nach Herisau abgefahren, weshalb der Brief vor 24.00 Uhr der Post übergeben worden sei. Eine Nachschau habe ergeben, dass der fragliche Briefkasten im Unterschied zu den übrigen Briefkästen im Hauptbahnhof nicht durchgehend geleert werde, sondern am Samstag überhaupt nicht und am Sonntag um 18 Uhr.
 
C.
 
Auf Anfrage des Kantonsgerichts hin teilte das Briefzentrum St. Gallen mit Schreiben vom 16. März 2005 mit, die letzte Leerung des betreffenden Briefkastens erfolge werktags um 19.30 Uhr. An Samstagen fänden Leerungen jeweils um 10.05, 15.20 und 17.00 Uhr und an Sonntagen um 13.50, 16.40 und 18.00 Uhr statt. Falls ein Brief am Freitag, 26. November 2004, kurz vor Mitternacht eingeworfen worden sei, müsste er am Samstag gestempelt worden sein.
 
D.
 
Das Kantonsgericht St. Gallen entschied am 17. Mai 2005, auf die Berufung nicht einzutreten. Das Wiederherstellungsgesuch wurde abgewiesen.
 
Dagegen erhebt X.________ mit Eingabe vom 22. Juni 2005 staatsrechtliche Beschwerde. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids wegen willkürlicher Sachverhaltsfeststellung und willkürlicher Rechtsanwendung.
 
Das Kantonsgericht St. Gallen und die Staatsanwaltschaft verzichten auf eine Vernehmlassung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Beim angefochtenen Entscheid des Kantonsgerichts handelt es sich um einen kantonal letztinstanzlichen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer ist durch das Nichteintreten auf seine Berufung und die Abweisung seines Wiedereinsetzungsgesuches in seinen rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), weshalb er befugt ist, die Verletzung verfassungsmässiger Rechte zu rügen. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, so dass grundsätzlich auf die Beschwerde einzutreten ist.
 
2.
 
Der Beschwerdeführer rügt, wenn das Kantonsgericht zum Ergebnis gelange, dass die Berufungserklärung erst am Sonntag, dem 28. November 2004 der Post übergeben worden sei, stelle es auf verschiedene "nicht haltbare oder zumindest nicht rechtmässig überprüfte Annahmen" ab. Er erachtet die Sachverhaltsfeststellung gestützt auf die Beweiswürdigung als willkürlich.
 
2.1 Willkürlich ist ein Entscheid nicht schon dann, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern erst dann, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (statt vieler BGE 127 I 60 E. 5a S. 70 mit Hinweisen). Willkür in der Tatsachenfeststellung ist nicht nur gegeben, wenn entscheiderhebliche tatsächliche Feststellungen offensichtlich falsch sind. Ebenso unhaltbar ist es, wenn eine Behörde Sachverhaltselementen Rechnung trägt, die keinerlei Bedeutung haben, oder entscheidende Tatsachen ausser Acht lässt (BGE 100 Ia 305 E. 3b S. 307). Auf dem Gebiet der Beweiswürdigung steht den kantonalen Instanzen ein weiter Ermessensspielraum zu. Willkür in der Beweiswürdigung liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen. Dabei genügt es nicht, wenn sich der angefochtene Entscheid lediglich in der Begründung als unhaltbar erweist; eine Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er auch im Ergebnis verfassungswidrig ist (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41; 124 IV 86 E. 2a S. 88, je mit Hinweisen).
 
2.2 Gemäss Art. 239 Abs. 1 des Strafprozessgesetzes vom 1. Juli 1999 (StPO/SG, sGS 962.1) ist die Berufungserklärung dem Kantonsgericht innert vierzehn Tagen seit Zustellung des angefochtenen Entscheids einzureichen. Unbestritten ist, dass die Frist für die Berufungserklärung im vorliegenden Fall am 26. November 2004 abgelaufen ist, da der damals noch nicht vertretene Angeschuldigte das Urteil am 12. November 2004 entgegengenommen hatte. Die Frist ist eingehalten, wenn die Prozesshandlung bis 24 Uhr des letzten Tages erfolgt. Wird eine Eingabe oder ein Zahlungsauftrag bis dahin der schweizerischen Post übergeben, so gilt die Frist als eingehalten (Art. 84 Abs. 2 des Gerichtsgesetzes vom 2. April 1987 [GerG/SG; sGS 941.1]). Wird die Eingabe der schweizerischen Post übergeben, genügt der rechtzeitige Einwurf in einen Briefkasten (BGE 109 Ia 183 E. 3a S. 184). Eine eingeschriebene Zustellung ist nicht erforderlich; sie hat aber den faktischen Vorteil, dass dadurch der Beweis für die rechtzeitige Aufgabe erleichtert werden kann. Die sich aus dem Poststempel ergebende Vermutung ist indessen widerlegbar. Kann der Beweis für die Rechtzeitigkeit nicht mit dem Poststempel erbracht werden, trägt der Betroffene das Beweisrisiko für die effektive Postaufgabe (Niklaus Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, Bern 2005, S. 673, mit Hinweis auf BGE 98 I 247 E. 2 S. 249; siehe auch BGE 109 Ia 183 E. 3b S. 184 f.; Urteil 2A.500/2001 vom 30. Januar 2002 E. 2b, publ. in StR 57/2002 S. 668; 2A.635/1998 vom 15. April 1999 E. 2b).
 
2.3 Die kriminaltechnische Auswertung ergab, dass die fragliche Eingabe mit der Zeitangabe "28.11.04-20" abgestempelt worden war. Das Kantonsgericht führt aus, nach Auskunft des Briefzentrums werde der Briefkasten montags bis freitags jeweils um 19.30 Uhr zum letzten Mal geleert. Es fänden aber auch am Wochenende Leerungen statt, nämlich samstags um 10.05, 15.20 und 17.00 Uhr sowie am Sonntag um 13.50, 16.40 und 18.00 Uhr. Falls der Brief am Freitag, 26. November 2004 in den Briefkasten geworfen worden sei, müsste er folglich den Stempel vom 27. November 2004 tragen. Das Briefzentrum schliesse aus der tatsächlichen Zeitangabe des Stempels, dass der Brief erst am Sonntag nach 19.00 Uhr eingeworfen worden sei, denn die Stempel würden erst um 19.00 Uhr auf 20.00 Uhr umgestellt. Das Kantonsgericht erachtet die Überlegungen des Briefzentrums als nachvollziehbar und sieht keinen Anlass, davon abzuweichen. Da sonntags keine Post zugestellt werde, könne der Beschwerdeführer nichts zu seinen Gunsten ableiten, wenn auf dem Briefkasten für Samstag keine Zeit für die letzte Leerung angegeben werde. Im Ergebnis sei davon auszugehen, dass die Berufungserklärung erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist der Post übergeben worden sei. Bei dieser Ausgangslage erübrigten sich weitere Beweisabnahmen wie etwa die Befragung der Tochter des Vertreters, welche das Schreiben eingeworfen habe. Selbst wenn diese die Angaben des Angeklagten oder ihres Vaters stützen würde, würde dies nach Meinung des Kantonsgerichtes nichts am Beweisergebnis ändern, welches sich wesentlich auf den Bericht des Briefzentrums abstütze.
 
2.4 Diese Beweiswürdigung ist angesichts der Umstände nicht zu beanstanden. Wie gesehen (E. 2.2), trägt der Beschwerdeführer das Beweisrisiko für die rechtzeitige Postaufgabe. Es wäre dem Vertreter des Beschwerdeführers beispielsweise möglich gewesen, auf dem Couvert zwei Zeugen unterschriftlich bestätigen zu lassen, dass die Eingabe am 26. November 2004 vor 24 Uhr in den Briefkasten geworfen worden sei (siehe dazu etwa den Sachverhalt in BGE 109 Ia 183 E. 3 S. 184). Dem Kantonsgericht ist denn auch nicht vorzuwerfen, dass es auf die Einvernahme der Tochter des Vertreters verzichtet hat, hätte doch deren alleinige Aussage, sie habe die Eingabe rechtzeitig eingeworfen, noch nichts am gegenteiligen Beweisergebnis aufgrund des Poststempels geändert. Auch wenn der Beschwerdeführer im Verfahren vor Bundesgericht aufzeigt, dass bei vier von ihm getätigten Versuchen ein Brief mit Verspätung gestempelt wurde (Einwurf am Samstag, Stempel vom Dienstag), und er daraus schliesst, dass Leerung und Stempelung der Post nicht immer nach Plan verlaufen, vermag dies die Beweiswürdigung des Kantonsgerichtes nicht als willkürlich erscheinen zu lassen. Dabei kann offen bleiben, ob es sich bei der Beweisführung des Beschwerdeführers vor Bundesgericht um ein zulässiges Novum handelt.
 
3.
 
Das Kantonsgericht hat das Wiederherstellungsgesuch des Beschwerdeführers abgewiesen. Der Beschwerdeführer rügt, das Kantonsgericht habe die massgebliche Gesetzesbestimmung angesichts des auf dem Spiel stehenden Rechtes der persönlichen Freiheit und der möglichen massiven Folgen des Entscheids willkürlich angewendet.
 
3.1 Der Anspruch auf Wiederherstellung einer versäumten Frist bestimmt sich in erster Linie nach dem einschlägigen kantonalen Verfahrensrecht. Art. 85 Abs. 1 GerG/SG sieht vor, dass eine Frist wiederhergestellt wird, wenn der Säumige ein unverschuldetes Hindernis als Ursache der Säumnis glaubhaft macht. Das Kantonsgericht hat sich bei seiner Auslegung der zitierten Bestimmung an der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 35 OG orientiert, wonach sich der Rechtsuchende Fehler seines Anwaltes oder dessen Hilfspersonen ohne weiteres anrechnen lassen muss: Bei einer vom Anwalt verschuldeten Säumnis ist nach ständiger Praxis des Bundesgerichts eine Wiederherstellung der Frist ausgeschlossen (BGE 119 II 86 E. 2a S. 87 mit Hinweisen; Urteil 1P.1/2005 vom 31. März 2005 E. 4.3; 1P.151/2002 vom 28. Mai 2002 E. 1.2). Diese Handhabung entspricht der Praxis in verschiedenen Kantonen (Urteil 1P.1/2005 vom 31. März 2005, E. 4.3). Rechnet das Kantonsgericht dem Beschwerdeführer das Verhalten seines Vertreters an und kommt zum Schluss, es sei nicht dargetan, inwiefern die Berufungsfrist schuldlos verpasst worden sei, ist dies im Lichte der zitierten Rechtsprechung nicht willkürlich.
 
3.2 Gestützt auf Art. 85 Abs. 2 GerG/SG kann der Richter die Wiederherstellung der Frist anordnen, wenn den Säumigen ein leichtes Verschulden trifft oder wenn der Verfahrensgegner zustimmt. Nach den allgemeinen bundesrechtlichen Verfahrensbestimmungen kann nur auf Wiederherstellung erkannt werden, wenn die Säumnis auf ein "unverschuldetes Hindernis", also auf die Unmöglichkeit, rechtzeitig zu handeln, zurückzuführen ist (Art. 35 Abs. 1 OG, Art. 24 VwVG, Art. 13 Abs. 1 BZP). Ursprünglich ging das Bundesgericht sogar davon aus, dass nur bei objektiver Unmöglichkeit des Handelns eine Wiederherstellung in Frage kommen könne (BGE 60 II 353). Diese Rechtsprechung wurde zwar in BGE 76 I 355 als zu eng bezeichnet, doch blieb der bei der Anwendung der Wiederherstellungsvorschriften angelegte Massstab weiterhin sehr streng (vgl. Entscheid 1A.487/1987 vom 11. Januar 1988 E. 2 und die dort zitierte Rechtsprechung, publ. in Praxis 77/1988 Nr. 152 [nicht publ. in BGE 114 Ib 56]). Die Wiederherstellung ist auch nach heutiger bundesgerichtlicher Praxis nur bei klarer Schuldlosigkeit des Gesuchstellers und seines Vertreters zu gewähren (Urteil 1P.123/2005 vom 14. Juni 2005 E. 1.2 mit Hinweis auf BGE 119 Ib 86, Entscheide 1P.151/2002 vom 28. Mai 2002 mit Hinweisen, B 107/01 vom 23. Juli 2003, publ. in SZS 2004 S. 470). Das Kantonsgericht führt aus, es sei weder ersichtlich noch dargelegt, inwiefern vorliegend von einem leichten Verschulden auszugehen sei. Auch im bundesgerichtlichen Verfahren bringt der Beschwerdeführer nichts vor, was das Versäumnis seines Vertreters als leichtes Verschulden erscheinen liesse, weshalb der Entscheid des Kantonsgerichtes auch in diesem Punkt nicht willkürlich ist. Verfahrensgegner war im vorliegenden Fall die Staatsanwaltschaft, welche sich gegen eine Wiederherstellung ausgesprochen hatte. Entgegen der Meinung des Beschwerdeführers war der Staatsanwalt keineswegs gehalten, einer Wiederherstellung zuzustimmen. Eine solche Pflicht lässt sich weder aus dem Gebot von Treu und Glauben noch aus dem Willkürverbot ableiten.
 
4.
 
Zusammenfassend ergibt sich, dass die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen ist. Entsprechend dem Ausgang des bundesgerichtlichen Verfahrens sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG). Parteientschädigung ist keine zuzusprechen (Art. 159 Abs. 2 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Staat und dem Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 8. September 2005
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
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