VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer I 412/2005  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer I 412/2005 vom 28.09.2005
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 412/05
 
Urteil vom 28. September 2005
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiber Traub
 
Parteien
 
M.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Herrn I.________,
 
gegen
 
IV-Stelle Nidwalden, Stansstaderstrasse 54, 6371 Stans, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden, Abteilung Versicherungsgericht, Stans
 
(Entscheid vom 14. April 2005)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1958 geborene, seit 1990 als Bauarbeiter und Kranführer tätige M.________ meldete sich am 30. September 2002 unter Hinweis auf Schmerzen im Bereich von Ellbogen, Nacken, Rücken und Knien zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des Kantons Nidwalden sprach ihm mit Wirkung ab 1. Juni 2003 eine Viertelsrente aufgrund eines Invaliditätsgrades von 41 Prozent zu (mit Einspracheentscheid vom 20. September 2004 bestätigte Verfügung vom 4. Mai 2004).
 
B.
 
Das Versicherungsgericht des Kantons Nidwalden wies die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde, in welcher die Ausrichtung einer ganzen Invalidenrente anbegehrt wurde, ab (Entscheid vom 14. April 2005).
 
C.
 
M.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und erneuert das im kantonalen Beschwerdeverfahren gestellte Rechtsbegehren.
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Letztinstanzlich strittig ist die Frage, in welchem Ausmass der Beschwerdeführer im massgebenden Zeitraum bis zum Einspracheentscheid vom 20. September 2004 (vgl. BGE 116 V 248 Erw. 1a) noch arbeitsfähig war und welchen Einfluss die entsprechende Einschränkung auf den Invaliditätsgrad zeitigte. Spätere medizinische Berichte sind nur miteinzubeziehen, soweit sie Rückschlüsse auf den zeitlich massgebenden Sachverhalt zulassen (vgl. BGE 121 V 366 Erw. 1b, 99 V 102).
 
1.2 Das kantonale Gericht hat in formell-, materiell- und beweisrechtlicher Hinsicht die für die Beurteilung der strittigen Fragen massgeblichen Grundlagen zutreffend dargelegt. Es wird auf die Erwägungen des angefochtenen Entscheids verwiesen.
 
2.
 
2.1 Nach dem rheumatologischen Gutachten des Dr. W.________, Sarnen, vom 15. September 2003 leidet der Beschwerdeführer an therapierefraktären, chronischen Schulterschmerzen, nachdem er mehrfach gestürzt war und sich eine Verletzung der Supraspinatusssehne zugezogen hatte. Zudem liege ein chronisches unspezifisches zervikobrachiales Schmerzsyndrom vor sowie ein Verdacht auf eine Neuropathie im Bereich der Ellbogen. Weiter lasse sich ein chronisches lumbospondylogenes Syndrom feststellen, schliesslich eine diskrete Arthrose beider Knie und rezidivierende Schmerzen der Fusssohlen. Der Sachverständige schloss - unter Berücksichtigung der früheren Untersuchungsbefunde und mit eingehender Begründung - auf eine Arbeitsfähigkeit von 80 Prozent hinsichtlich einer leichten, möglichst wechselbelastenden Tätigkeit ohne Notwendigkeit einer häufig vorgeneigten oder abgedrehten Haltung oder von Verrichtungen an und über der Schulterhorizontalen.
 
Der Rheumatologe ging davon aus, dass nicht alle Beschwerden auf objektivierbare Befunde zurückgeführt werden könnten. Es besteht denn auch ein psychisches Leiden, welches die organischen Beschwerden überlagert. Der Rheumatologe stellte wegen der bereits erfolgten Chronifizierung mit Hinweisen auf eine Schmerzfixation eine schlechte Prognose; mit Blick auf den bisher völlig therapierefraktären Therapieverlauf zweifle er an der Möglichkeit einer wesentlichen Verbesserung des Gesundheitszustandes durch körperzentrierte Behandlungen. Die ungünstige prognostische Einschätzung wird im Bericht des Psychiaters Dr. A.________, geteilt (Bericht vom 14. November 2003). Neben einer Schmerzverarbeitungsstörung habe der Fall auch eine depressive Dimension. "Nach dem Krankheitsverständnis eines Psychiaters" liege "damit eine 50%ige AUF vor und nach den Weisungen der IV-Versicherung eine 100%ige Arbeitsfähigkeit". Eine berufliche Eingliederung sei wegen des Krankheitsverständnisses des Versicherten zwar schwer zu erreichen, aber aus psychiatrischer Sicht grundsätzlich zumutbar. Diese ärztliche Beurteilung weist insofern eine Begründungslücke auf, als - ganz ohne Ausführungen zu den zentralen Gesichtspunkten von Krankheitsbegriff und Zumutbarkeit (dazu nunmehr BGE 131 V 49, 130 V 352 und 396) - mit dem einfachen Hinweis auf die Verwaltungsweisungen eine vollumfängliche Arbeitsfähigkeit postuliert wird (vgl. auch die diesbezüglich kritische interne Stellungnahme des IV-Arztes vom 9. Dezember 2003). Im Weitern widerspricht die im Einspracheentscheid enthaltene generelle Aussage des Inhalts, eine somatoforme Schmerzstörung vermöge allein die Arbeitsfähigkeit nicht zu beeinflussen, der vorstehend zitierten Rechtsprechung und verkennt überdies die von Dr. A.________ festgehaltene "depressive Dimension" im Sinne einer Komorbidität zur somatoformen Schmerzstörung. Jedoch wird aus der Gesamtheit der psychiatrischen Einschätzungen hinreichend deutlich, dass die einschlägigen Diagnosen nicht zu einer zusätzlichen Arbeitsunfähigkeit führen. Aus dem Bericht des behandelnden Psychiaters Dr. C.________, vom 7. Juli 2004 geht hervor, dass neben der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung in Gestalt einer Dysthymie ein der Depression ähnlicher Befund sowie eine Persönlichkeitsstörung mit histrionischen Zügen vorliegen. Die Wahl der Diagnose "Dysthymie" deutet darauf hin, dass die depressive Symptomatik im Sommer 2004 nicht so schwer war, dass sie zwangsläufig die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen musste. Weiter wird - im Anschluss an die Feststellung einer Persönlichkeitsstörung - nicht dargetan, inwiefern die Persönlichkeit seit der Zeit, als der Versicherte noch voll leistungsfähig war, erwerblich relevanten Veränderungen unterworfen gewesen sein könnte. Zudem wurde die depressive Störung - und damit wohl auch die damit zusammenhängende Fixierung auf die Schmerzsymptomatik - als noch besserungsfähig betrachtet. Schliesslich stellte Dr. C.________ seine Einschätzung, die Arbeitsfähigkeit betrage aus psychiatrischer Sicht aktuell 50 Prozent, unter den Vorbehalt einer "adäquaten Abklärung", gab ihr also keinen abschliessenden Charakter.
 
2.2 Selbst wenn der lite pendente eingereichte Bericht des Medizinischen Zentrums X.________ vom 6. Juni 2005 noch zu berücksichtigen wäre (vgl. aber BGE 127 V 353), gemäss welchem sich "eine psychometrisch bestätigte schwere Depression bei neuropsychologisch deutlichen Einschränkungen im Bereiche Langzeitgedächtnis" entwickelt habe und somit keine Arbeitsfähigkeit mehr vorliege, so liesse sich im Rahmen des vorliegenden Verfahrens daraus noch nichts zugunsten des Beschwerdeführers ableiten: Die nach Beendigung des Verwaltungsverfahrens eingetretene Verschlechterung des Gesundheitszustandes muss hier ausser Acht bleiben (Erw. 1.1 hievor). Die vorinstanzliche Beweiswürdigung, wonach über die somatisch begründete Beeinträchtigung hinaus keine klar definierbare psychogene Leistungseinschränkung vorliege, welche einem Gesundheitsschaden im Sinne der Gesetzgebung gleichkäme, erweist sich daher im Ergebnis als haltbar, soweit der Zeitraum bis zum Erlass des Einspracheentscheids betrachtet wird. Ergeben die medizinischen Akten insgesamt ein schlüssiges Bild der Sachlage hinsichtlich der Zeit bis zur Beendigung des Verwaltungsverfahrens, besteht für die beantragte polydisziplinäre Begutachtung insoweit kein Anlass.
 
2.3
 
2.3.1 Der erwähnte psychiatrische Bericht des Medizinischen Zentrums X.________ deutet indes auf eine zwischenzeitlich eingetretene Verstärkung der Depression hin. Diese Tatbestandsentwicklung wird näher auf ihre Leistungserheblichkeit hin zu überprüfen sein. Da die psychische Dynamik in einem engen Zusammenhang mit dem organischen Leiden steht, erscheint die Einholung einer interdisziplinären Expertise diesbezüglich durchaus angezeigt. Eine eingehende Untersuchung und neue Einschätzung des Beschwerdekomplexes ist auch mit Blick auf die Feststellungen des Orthopäden Dr. S.________, nötig. Im Bericht vom 8. November 2004, für dessen Massgeblichkeit bereits im hier interessierenden Zeitraum allerdings keine klaren Hinweise bestehen, kommt zum Ausdruck, dass "in einer gut angepassten Tätigkeit von einer dauernden Arbeitsunfähigkeit von mindestens 50 % ausgegangen werden" könne. Die Arbeit sei auf einen halben Tag zu beschränken; alternativ ergebe sich eine verminderte Leistungsfähigkeit aufgrund der Notwendigkeit, im Rahmen einer Arbeit von "zwei mal drei Stunden" eine längere Pause einzuschalten. Es rechtfertigt sich daher, die Akten an die IV-Stelle zu weiterer Abklärung und neuer Verfügung für die Zeit nach Erlass der angefochtenen Verfügung bzw. des Einspracheentscheides zu überweisen.
 
2.3.2 Im Übrigen beruht die Annahme der Vorinstanz, die Schlussfolgerung des Orthopäden stehe in Einklang mit der rheumatologischen Stellungnahme des Dr. W.________ (vgl. S. 13 Erw. 5b des angefochtenen Entscheids), auf einem Versehen. Das kantonale Gericht ging davon aus, Dr. S.________ attestiere dem Beschwerdeführer "eine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit in einer gut angepassten Arbeit von mindestens 50 %". Tatsächlich aber hat der Orthopäde - wie oben zitiert - eine Arbeitsunfähigkeit von "mindestens" 50 Prozent angenommen. Damit besteht kein Raum, diese Einschätzung (über den Zeitraum bis September 2004 hinaus) als mit derjenigen des Rheumatologen (Arbeitsfähigkeit von 80 Prozent in angepassten Tätigkeiten) vereinbar zu betrachten.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die Akten werden an die IV-Stelle des Kantons Nidwalden überwiesen, damit sie im Sinne der Erw. 2.3 verfahre.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden, Abteilung Versicherungsgericht, und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 28. September 2005
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).