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Informationen zum Dokument  BGer I 374/2005  Materielle Begründung
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BGer I 374/2005 vom 18.10.2005
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 374/05
 
Urteil vom 18. Oktober 2005
 
II. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiberin Polla
 
Parteien
 
B.________, 1958, Beschwerdeführer, vertreten durch Herrn Pollux L. Kaldis, Sozialversicherungs- und Ausländerrecht, Solistrasse 2a, 8180 Bülach,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
 
(Entscheid vom 15. März 2005)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1958 geborene, als Hilfsarbeiter auf dem Bau tätig gewesene B.________ leidet gemäss Diagnose des Hausarztes Dr. med. W.________, FMH Allgemeine Medizin, an einer paramedianen Diskushernie L4/L5 (Bericht vom 28. August 2000). Am 15. Juni 2000 meldete er sich unter Hinweis auf starke Kopf- und Rückenbeschwerden bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen in beruflicher und medizinischer Hinsicht verneinte die IV-Stelle des Kantons Aargau mit Verfügung vom 6. Dezember 2001 bei einem Invaliditätsgrad von 14 % einen Anspruch auf Invalidenrente, da B.________ für eine körperlich leichte, wechselbelastende Tätigkeit vollständig arbeitsfähig sei. Aufgrund einer zwischenzeitlich durch den Hausarzt in die Wege geleiteten psychiatrischen Behandlung hob sie die Verfügung zwecks weiterer Sachverhaltsabklärungen auf (Verfügung vom 13. Dezember 2001). Gestützt auf den hierauf eingegangenen Bericht der Frau Dr. med. F.________, Spezialärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 24. Januar 2003, gemäss welchem der Versicherte aufgrund einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome (ICD-10: F32.2) seit Mai 1999 100 % arbeitsunfähig ist, sprach die IV-Stelle B.________ mit Verfügung vom 25. Mai 2004 ab 1. Dezember 2002 eine ganze Invalidenrente (nebst Kinderrente) zu. Daran hielt sie auf Einsprache hin - mit welcher eine ganze Invalidenrente ab Juni 2000 beantragt wurde - fest (Einspracheentscheid vom 26. August 2004).
 
B.
 
Die hiegegen erhobene Beschwerde mit dem Rechtsbegehren um Rückweisung der Sache zwecks weiterer medizinischer Abklärungen bezüglich des Krankheitsbeginns, hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 15. März 2005 in dem Sinne gut, dass es den Einspracheentscheid aufhob und die Sache an die IV-Stelle zurückwies, damit sie nach Einholung eines polydisziplinären medizinischen Gutachtens über den Anspruch neu verfüge.
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt B.________ beantragen, es sei der kantonale Gerichtsentscheid insofern abzuändern, als ihm die ganze Invalidenrente ab 1. Dezember 2002 zu belassen und einzig der Beginn der Arbeitsunfähigkeit neu abzuklären sei.
 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Im Rahmen der vorliegenden Leistungsstreitigkeit über Beginn und Umfang des Rentenanspruchs ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).
 
1.2 Das kantonale Gericht hat in Anwendung des am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) und unter Berücksichtigung der ab 1. Januar 2004 geltenden Änderungen des IVG (4. IV-Revision, AS 2003 3837; BGE 130 V 332 Erw. 2.2 und 2.3) die Bestimmungen über die Begriffe der Erwerbsunfähigkeit und Invalidität (Art. 7 und 8 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG) sowie über die Ermittlung des Invaliditätsgrades (Art. 16 ATSG) und den Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 IVG) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die Hinweise zur Aufgabe des Arztes und der Ärztin bei der Invaliditätsbemessung und zur praxisgemässen Bedeutung ärztlicher Auskünfte im Rahmen der Invaliditätsschätzung (BGE 125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen; vgl. auch AHI 2002 S. 70 Erw. 4b/cc) sowie zur Beweiswürdigung (BGE 125 V 352 Erw. 3a). Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass die Prüfung eines allfälligen schon vor dem 1. Januar 2003 entstandenen Anspruchs auf eine Rente der Invalidenversicherung für die Zeit bis 31. Dezember 2002 aufgrund der bisherigen und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen erfolgt (BGE 130 V 445).
 
2.
 
2.1 Was insbesondere die geistigen Gesundheitsschädigungen betrifft, ist mit der Vorinstanz zu betonen, dass das Vorliegen eines fachärztlich diagnostizierten psychischen Leidens mit Krankheitswert aus rechtlicher Sicht wohl Voraussetzung, nicht aber hinreichende Basis für die Annahme einer invalidisierenden Einschränkung der Arbeitsfähigkeit ist; ausschlaggebend ist vielmehr, ob die psychiatrischen Befunde nach Einschätzung des Arztes eine derartige Schwere aufweisen, dass dem Versicherten die Verwertung seiner Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt bei objektiver Betrachtung - und unter Ausschluss von Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, die auf aggravatorisches Verhalten zurückzuführen sind - sozial-praktisch nicht mehr zumutbar oder dies für die Gesellschaft gar untragbar ist (BGE 130 V 353 ff. Erw. 2.2.3 mit Hinweis auf Urteil S. vom 17. Februar 2003 [I 667/01] Erw. 3; BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 Erw. 2b mit Hinweisen).
 
2.2 Frau Dr. med. F.________ hielt zur Frage der Arbeitsfähigkeit fest, die verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit sowie die um die somatischen und psychischen Beschwerden kreisenden Gedanken verunmöglichten die Ausübung der bisherigen Tätigkeit als Hilfsmechaniker seit Mai 1999, wobei ihm auch keine andere Tätigkeit mehr zumutbar sei. Was diese retrospektive ärztliche Einschätzung der Arbeitsfähigkeit des seit 31. Januar 2002 bei der Psychiaterin in Behandlung stehenden Beschwerdeführers betrifft, wies Dr. med. L.________, Interner Medizinischer Dienst der IV, am 18. Dezember 2003 zu Recht darauf hin, dass es schwierig sein dürfte, eine verlässliche rückblickende Beurteilung hinsichtlich der Entwicklung einer psychischen Störung abzugeben, zumal sich in den vorgängigen medizinischen Berichten keinerlei Hinweis auf eine psychische Störung mit Krankheitswert findet. Der Hausarzt Dr. med. W.________ schätzte in seinem Bericht vom 28. August 2000 zwar die Arbeitsfähigkeit (auch bezüglich einer Verweisungstätigkeit) auf unter 50 %, gab hiefür aber invalidenversicherungsrechtlich unbeachtliche sprachliche und schulische Defizite an. Aufgrund der in somatischer Hinsicht aufgetretenen Schmerzausweitung auf Halswirbelsäule und Arme meldete er den Versicherten anfangs 2001 zur Kontrolle im Spital A.________ und gestützt auf dessen Empfehlung zur Rehabilitation in der Klinik R.________ an (Bericht vom 22. Februar 2001). Die Symptomausweitung wurde denn auch in beiden Kliniken bestätigt, wobei die Diagnose eines Chronischen Panvertebralsyndroms mit Symptomausweitung bei lumbospondylogener Komponente beidseits (rechts mehr als links), einer Wirbelsäulenfehlhaltung (Shift nach links) und einer Diskusprotrusion L4/L5 mit Verlegung der lateralen Recessus und Wurzelverkürzung L5 beidseits gestellt wurde (Bericht der Klinik R.________ vom 16. Juli 2001). Trotz Einzelgesprächen mit dem internen Psychologen erwähnten die Ärzte aber keine psychische Komponente. Einzig im gleichentags von der Klinik R.________ an den Hausarzt verfassten Bericht wird ein subdepressives Zustandsbild - allerdings ohne nähere Ausführungen hiezu - angegeben. Daraus erhellt, dass die von Frau Dr. med. F.________ nicht näher begründete, Jahre später abgegebene Schätzung der Arbeitsfähigkeit nicht überzeugt. Zudem hat das kantonale Gericht hinsichtlich der von ihr diagnostizierten schweren depressiven Episode zutreffend erwogen, dass eine 100 %-ige Arbeitsfähigkeit mit Blick auf die in Erw. 2.1 zitierte Rechtsprechung auch insoweit nicht nachvollziehbar ist, als die Ärztin von einer "depressiven Episode", also von einem vorübergehenden Zustand ausgeht, indessen aber nicht begründet, warum dem Versicherten generell keinerlei Erwerbstätigkeit mehr zumutbar sein sollte.
 
Unter diesen Umständen ist eine abschliessende, schlüssige Beurteilung des medizinischen Sachverhalts und der Arbeitsunfähigkeit nicht möglich. Die Vorinstanz hat daher die Sache zu Recht zur weiteren polydisziplinären Abklärung in somatischer und psychiatrischer Hinsicht an die Verwaltung zurückgewiesen, da damit auch zur gesamten, sich aus der Wechselwirkung von körperlichen und geistigen Krankheitsbefunden ergebenden Arbeitsunfähigkeit Stellung genommen werden kann.
 
3.
 
Anzufügen bleibt, dass die blosse Möglichkeit einer Schlechterstellung der beschwerdeführenden Partei infolge Aufhebung des angefochtenen Entscheids oder der angefochtenen Verfügung verbunden mit Rückweisung zu ergänzender Sachverhaltsfeststellung sowie zu neuer Beurteilung der Sache gemäss ständiger Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts nicht als reformatio in peius gilt (ARV 1995 Nr. 23 S. 138 Erw. 3a mit Hinweis auf ZAK 1988 S. 615 Erw. 2b; Urteil P. vom 15. Mai 2000 [I 226/99], Erw. 4).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 18. Oktober 2005
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der II. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
 
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