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Informationen zum Dokument  BGer 1P.550/2005  Materielle Begründung
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BGer 1P.550/2005 vom 10.11.2005
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1P.550/2005 /gij
 
Urteil vom 10. November 2005
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Féraud, Präsident,
 
Bundesrichter Nay, Aeschlimann,
 
Gerichtsschreiber Störi.
 
Parteien
 
X.________, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
Generalprokurator des Kantons Bern, Hochschulstrasse 17, Postfach 7475, 3001 Bern,
 
Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, Hochschulstrasse 17, Postfach 7475, 3001 Bern.
 
Gegenstand
 
Strafverfahren; Bussenumwandlung,
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer, vom 20. Juli 2005.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der Gerichtspräsident 1 des Gerichtskreises XI Interlaken-Oberhasli wandelte mit Verfügung vom 11. März 2005 die X.________ mit Urteil vom 18. Dezember 2003 wegen Hausfriedensbruchs und Sachbeschädigung auferlegte Busse von 500 Franken in 16 Tage Haft um. Die Verfügung liess er X.________ polizeilich an die Adresse "Hotel Y.________" zustellen. Der Gemeindeverwalter von Z.________ sandte die Empfangsbestätigung mit folgender, auf der Rückseite angebrachter Notiz ans Gericht zurück: "Niemand erreichbar. In Briefkasten gelegt. 16.3.05 (Stempel und Unterschrift)". Im Begleitschreiben führt der Gemeindeverwalter aus, die Urkunde sei am 16. März 2005 verschlossen und adressiert in den Briefkasten des Hotels Y.________ gelegt worden.
 
Mit Eingabe vom 31. März 2005 an den Gerichtspräsidenten 1 des Gerichtskreises XI Interlaken-Oberhasli erklärte X.________, sie appelliere gegen diese ungeheuerliche und willkürliche Verfügung, die sie am 21. März 2005 vor ihrer Wohnungstüre gefunden habe.
 
Am 20. Juli 2005 trat die 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern auf die Appellation nicht ein. Sie befand, die angefochtene Verfügung sei X.________ am 16. März 2005 rechtsgültig zugestellt worden, weshalb die 10-tägige Appellationsfrist nicht gewahrt sei.
 
B.
 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 1. September 2005 wegen Verletzung der Rechtsgleichheit und von Treu und Glauben beantragt X.________ unter anderem, das Urteil der 2. Strafkammer sei in allen Punkten aufzuheben und es sei festzustellen, dass sie innert Frist appelliert habe.
 
Das Obergericht verzichtet auf Vernehmlassung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Beim angefochtenen Entscheid der Strafkammer handelt es sich um einen letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Die Beschwerdeführerin ist durch das Nichteintreten auf ihre Appellation in ihren rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), und sie macht die Verletzung verfassungsmässiger Rechte geltend (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG).
 
1.2 Die Strafkammer ist auf die Appellation wegen Verspätung nicht eingetreten. Gegenstand des staatsrechtlichen Beschwerdeverfahrens ist daher einzig, ob sie dies ohne Verfassungsverletzung tun konnte.
 
1.3 Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, sodass auf die Beschwerde, unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c), einzutreten ist.
 
2.
 
2.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Strafkammer sei davon ausgegangen, dass ihr die Verfügung vom 11. März 2005 am 16. März 2005 zugestellt worden sei, als sie vom Gemeindeverwalter von Z.________ in den Briefkasten des Hotels Y.________ geworfen wurde. Dies verstosse gegen Treu und Glauben. Sie habe keinen Zugang zum Hotelbriefkasten. Das Hotel sei zu dieser Zeit geschlossen und die Hoteleigentümer abwesend gewesen. Sie habe als Sozialhilfebezügerin in diesem Hotel ein Notdomizil und verfüge nicht über einen eigenen Briefkasten. Die Appellationsfrist habe daher nicht am 17. März 2005 zu laufen begonnen, wie die Strafkammer angenommen habe, sondern am 22. März 2005, nachdem sie das Urteil am 21. März 2005 empfangen habe. Entgegen der Auffassung der Strafkammer habe sie daher die Appellationsfrist gewahrt.
 
2.2 Nach Art. 88 des bernischen Gesetzes über das Strafverfahren vom 15. März 1995 (StrV) erfolgt die Zustellung von schriftlichen Mitteilungen grundsätzlich durch die Post (Abs. 1). Soweit dies zweckmässig erscheint, kann sie durch die Polizei erfolgen (Abs. 2). Ist die Adressatin oder der Adressat nicht anwesend, ist die Mitteilung verschlossen, adressiert und gegen Quittung Angehörigen oder Familiengenossen zu übergeben. Wird keine solche Person angetroffen, ist die Mitteilung verschlossen und adressiert in den Briefkasten zu legen oder an die Wohnungstüre zu heften (Abs. 3). Die Zustellung gilt auch dann als erfolgt, wenn die Adressatin oder der Adressat sie verhindert (Abs. 4).
 
3.
 
Fraglich ist einzig, ob die Strafkammer den Einwurf der Gerichtsurkunde in den Hotelbriefkasten durch den Gemeindeverwalter von Z.________ vom 16. März 2005 ohne Verfassungsverletzung als rechtsgültige Zustellung im Sinne der angeführten Bestimmungen anerkennen durfte.
 
3.1 Nach den unbestritten gebliebenen Ausführungen der Beschwerdeführerin wohnte sie zur Zeit der umstrittenen Zustellung in einem von der Sozialfürsorge finanzierten Notdomizil im Hotel Y.________. Dass sie unter diesen Umständen nicht über einen eigenen Briefkasten verfügte und auch keinen Zugang zum Hotelbriefkasten hatte, ist nahe liegend und ihr nicht vorzuwerfen. Es wäre für den Hotelier wohl auch unter dem Gesichtspunkt der Wahrung des Postgeheimnisses sehr problematisch, einzelnen Hotelgästen einen Schlüssel zum Hotelbriefkasten auszuhändigen. Unter diesen Umständen hat der Gemeindeverwalter die Gerichtsurkunde, indem er sie, als das Hotel geschlossen und die Hoteleigentümer abwesend waren, in den Hotelbriefkasten warf, offensichtlich nicht in den Herrschaftsbereich der Beschwerdeführerin gebracht und diese damit nicht rechtsgültig am 16. März 2005 zugestellt.
 
3.2 Der Gerichtspräsident 1 erachtete im Verfahren, das zur Bussenumwandlung führte, zudem die Abgabe einer für die Beschwerdeführerin bestimmten Gerichtsurkunde im Hotel Y.________ nicht als fristauslösende Zustellung. So wurde seine Verfügung vom 14. Februar 2005, mit welcher er der Beschwerdeführerin eine 10-tägige Frist zur Einreichung von Belegen ansetzte, durch den Gemeindeverwalter am 18. Februar 2005 im Hotel Y.________ abgegeben. Die Beschwerdeführerin reichte diese am 1. März 2005 ein mit der Erklärung, sie habe die Verfügung am 19. Februar 2005 erhalten und damit mit ihrer Eingabe vom 1. März 2005 die 10-Tages-Frist gewahrt. Wäre der 18. Februar 2005 Zustelldatum gewesen, hätte die am 1. März 2005 der Post übergebene Eingabe der Beschwerdeführerin als verspätet erklärt werden müssen; indem der Gerichtspräsident 1 diese ohne weiteres zu den Akten nahm, hat er implizit deren Rechtzeitigkeit anerkannt. Damit durfte aber die Beschwerdeführerin darauf vertrauen, dass sie auch ohne eigenen Briefkasten für das Gericht erreichbar war und als Zustellungsdatum der Tag gilt, an welchem ihr die Urkunde von den Hotelbetreibern übergeben wird. Der angefochtene Entscheid verletzt daher Treu und Glauben, die Rüge ist begründet.
 
4.
 
Kosten sind bei diesem Ausgang des Verfahrens keine zu erheben (Art. 156 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern vom 20. Juli 2005 aufgehoben.
 
2.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin sowie dem Generalprokurator und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 10. November 2005
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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