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Informationen zum Dokument  BGer 1P.529/2005  Materielle Begründung
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BGer 1P.529/2005 vom 06.12.2005
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1P.529/2005 /gij
 
Urteil vom 6. Dezember 2005
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Féraud, Präsident,
 
Bundesrichter Nay, Aeschlimann,
 
Gerichtsschreiber Störi.
 
Parteien
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Benedikt Landolt,
 
gegen
 
Verhöramt des Kantons Appenzell A.Rh., Rathaus, 9043 Trogen,
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh., Rathaus, 9043 Trogen.
 
Gegenstand
 
Nichteintretensverfügung,
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Rekursentscheid der Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh. vom 23. Juni 2005.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Anlässlich einer Jahrmarktstandkontrolle in Teufen beschlagnahmte die Kantonspolizei Appenzell A. Rh. am 23. Oktober 2004 beim vom X.________ geführten Stand verschiedene Spielzeugpistolen als waffenähnliche Gegenstände. Die Durchführung der Kontrolle, während derer auch Y.________, der Vater von X.________ und Inhaber der Firma "Z.________", vor Ort erschien, wurde protokollarisch festgehalten. Auf dem Protokoll sind nach dem Titel ("Protokoll über die Durchführung der Jahrmarktstandkontrolle") in Fettdruck verschiedene Rubriken aufgeführt ("Strafuntersuchung gegen", "Durchführungsort", "Durchführungszeit", "In Anwesenheit von" und "Durchführende Beamte"); in der Rubrik "Strafuntersuchung gegen" steht "X.________, geb. 09.12.1963". Anschliessend sind die beschlagnahmten Gegenstände aufgeführt. Es folgt die Unterschrift des Polizeibeamten und ein handschriftlicher, von Y.________ verfasster Protest ("Protest gegen die Beschlagnahmung der Spielzeugpistolen die nirgends in der neuen Verordnung deklariert sind und nicht als waffenähnliche Gegenstände gelten") und die Unterschrift "Y.________". Nach dem Polizerapport vom 4.November 2004 wurde sowohl Martin auch als Y.________ mündlich erläutert, dass ein Rapport erstellt und X.________ bei der zuständigen Amtsstelle verzeigt würde.
 
Mit Verfügung vom 6. Januar 2005 bestrafte das Verhöramt des Kantons Appenzell A.Rh. X.________ wegen Verstosses gegen Art. 11 Abs. 2 des Bundesgesetzes über das Gewerbe der Reisenden (BGGR; SR 943.1) in Verbindung mit Ziff. 1 lit. c des Anhangs 1 der Verordnung über das Gewerbe der Reisenden (SR 943.11) in Anwendung von Art. 14 Abs. 1 lit. e BGGR zu einer Busse von 500 Franken. Die Verfügung versandte es am 11. Januar 2005.
 
Am 12. Januar 2005 teilte die Post dem Verhöramt mit, die Verfügung habe nicht zugestellt werden können und werde von ihr bis voraussichtlich am 23. März 2005 im Auftrag des Empfängers aufbewahrt.
 
Am 6. April 2005 erhob Y.________ beim Verhöramt Einsprache. Die Strafverfügung vom 6. Januar 2005 könne so nicht akzeptiert werden. Sein Sohn sei nur Angestellter der Firma "Z.________". Die Firma bestimme, welche Artikel verkauft würden. Die Strafverfügung hätte daher an die Adresse der Firma gerichtet werden müssen, was der Polizei anlässlich der Kontrolle mitgeteilt worden sei. Was den Termin der Einsprache betreffe, so habe der Posthalter von Kriessern dem Verhöramt mitgeteilt, dass sein Sohn bis ca. Ende März in den Ferien weile, weshalb die Einsprachefrist eingehalten sei.
 
Das Verhöramt trat auf die Einsprache am 8. April 2005 wegen Verspätung nicht ein. Es erwog, nach langjähriger Bundesgerichtspraxis gelte eine Verfügung bei einem Rückhalteauftrag als am 7. Tag nach Eingang beim zuständigen Postamt als zugestellt. Die angefochtene Verfügung sei am 12. Januar 2005 beim Postamt Kriessern eingegangen und gelte daher als am 19. Januar 2005 fiktiv zugestellt. Die 14-tägige Einsprachefrist habe daher am 20. Januar 2005 begonnen und sei am 2. Februar 2005 abgelaufen. Die am 8. April 2005 bei ihm eingetroffene Einsprache sei daher verspätet gewesen.
 
Die Staatsanwaltschaft wies den Rekurs von X.________ gegen diesen Nichteintretens-Entscheid am 23. Juni 2005 ab.
 
B.
 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 29. August 2005 wegen Verletzung des Willkürverbots und des rechtlichen Gehörs beantragt X.________, diesen Entscheid der Staatsanwaltschaft aufzuheben.
 
Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde abzuweisen. In seiner Replik hält X.________ an der Beschwerde vollumfänglich fest. Die Staatsanwaltschaft beharrt in der Duplik auf ihrem Standpunkt.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Beim angefochtenen Entscheid der Staatsanwaltschaft handelt es sich um einen letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer ist durch die Abweisung seines Rekurses in seinen rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), und er macht die Verletzung verfassungsmässiger Rechte geltend (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, sodass auf die Beschwerde, unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c), einzutreten ist.
 
2.
 
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gelte eine eingeschrieben zugestellte Gerichtsurkunde als am letzten Tag der Abholfrist zugestellt. Diese Zustellfiktion rechtfertige sich, weil die Verfahrensbeteiligten nach Treu und Glauben gehalten seien, dafür zu sorgen, dass ihnen Gerichtsurkunden zugestellt werden könnten. Diese Empfangspflicht entstehe mit der Begründung des Prozessrechtsverhältnisses, was nach Art. 144 Abs. 1 der Strafprozessordnung vom 30. April 1978 (StPO) frühestens mit dem Empfang der Strafanzeige, des Polizeirapports oder der Zuführung des Festgenommenen erfolge. Ihm sei nie angezeigt worden, dass ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet worden sei. Er habe daher nicht mit der Zustellung einer Strafverfügung rechnen müssen, weshalb sich verbiete, die Zustellfiktion auf ihn anzuwenden. Die Staatsanwaltschaft sei daher in Willkür verfallen, indem sie den Nichteintretensentscheid des Verhöramtes geschützt habe.
 
2.2 Die vom Bundesgericht unter der Herrschaft des alten Postverkehrsgesetzes entwickelten Grundsätze, nach denen eine eingeschriebene Sendung als zugestellt gilt, sind unbesehen der Änderung der Rechtsgrundlagen wie bis anhin gültig (BGE 127 I 31 E. 2a/aa). Danach gilt die Sendung, wenn der Adressat anlässlich einer versuchten Zustellung nicht angetroffen und daher eine Abholungseinladung in seinen Briefkasten oder sein Postfach gelegt wird, in jenem Zeitpunkt als zugestellt, in welchem sie auf der Post abgeholt wird, jedoch spätestens am letzten Tag der siebentägigen Abholungsfrist (BGE 123 III 492 E. 1; 119 V 89 E. 4b/aa mit Hinweisen). Die Zustellfiktion soll den Zeitpunkt der Zustellung behördlicher Entscheide allgemein und verbindlich regeln. Für die verfügenden Behörden, allfällige Gegenparteien und die Rechtsmittelbehörden bedarf es einer klaren, einfachen und vor allem einheitlichen Regelung, die sich zwar an den allgemeinen Bedingungen der Zustellung orientiert, welche früher in der Postverordnung festgesetzt waren und heute in den allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten sind, die jedoch angesichts ihrer Funktion nicht durch private Absprache wie etwa einen Zurückbehaltungsauftrag abgeändert werden kann (BGE 127 I 31 E. 2b; 123 III 492 E. 1).
 
2.3 Nach der unbestrittenen Feststellung im Polizeirapport vom 4. November 2004 wurde dem Beschwerdeführer ein Exemplar des Protokolls über die Durchführung der Jahrmarktstandkontrolle ausgehändigt. Er muss sich somit die Kenntnis dessen Inhalts anrechnen lassen, und zwar gleichgültig darum, ob er es, wie im oben erwähnten Polizeirapport ausgeführt, selber unterschrieben hat, oder ob dies, wie er in der staatsrechtlichen Beschwerde behauptet, sein Vater tat. Aus dem Protokoll der Jahrmarktstandkontrolle und durch die dabei vorgenommenen Beschlagnahmungen ergibt sich die Absicht der Polizeibeamten eindeutig, den Beschwerdeführer zu verzeigen und damit gegen ihn ein Strafverfahren einzuleiten. Aus dem Protokoll ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass er oder sein Vater von den Polizeibeamten verlangt hätten, das Verfahren nicht gegen den Sohn, sondern den Vater bzw. dessen Firma zu führen. Der Beschwerdeführer kann daher nicht im Ernst behaupten, er habe 2 ½ Monate nach dem Vorfall nicht mit der Zustellung von Gerichtsurkunden rechnen müssen. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist für die Geltung der Zustellfiktion auch nach dem von ihm angeführten BGE 116 I 90 nicht entscheidend, ob dem Adressaten bereits förmlich die Eröffnung eines Verfahrens mitgeteilt wurde oder nicht, sondern ob er nach Treu und Glauben mit der Zustellung von Gerichtsurkunden rechnen musste. Dies war nach dem Ausgang der Jahrmarktstandkontrolle vom 23. Oktober 2004, nach dem im Protokoll im Fettdruck ein Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer angekündigt wird, offensichtlich der Fall. Die Willkürrüge ist unbegründet.
 
3.
 
Der Beschwerdeführer rügt, die Strafverfügung vom 6. Januar 2005 sei wegen schwerer Verfahrensfehler - insbesondere der Verletzung seines rechtlichen Gehörs - nichtig.
 
3.1 Fehlerhafte Entscheide sind nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung nichtig, wenn der ihnen anhaftende Mangel besonders schwer ist, wenn er offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und wenn zudem die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Inhaltliche Mängel einer Entscheidung führen nur ausnahmsweise zur Nichtigkeit. Als Nichtigkeitsgründe fallen vorab funktionelle und sachliche Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde sowie krasse Verfahrensfehler in Betracht (BGE 129 I 361 E. 2.1 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung).
 
3.2 Nach Art. 178 Abs. 1 StPO kann das Verhöramt bei Übertretungen, wenn der "Angeschuldigte geständig oder der Fall sonst klar" ist, "aufgrund des Polizeirapportes und nach Vornahme allfälliger weiterer Untersuchungshandlungen" eine Strafverfügung erlassen. Das Verhöramt kann damit unter gewissen Voraussetzungen in Bagatellstrafsachen in einem vereinfachten Verfahren eine Strafverfügung erlassen. Dies liegt durchaus im Interesse des Angeschuldigten, erspart ihm dieses Vorgehen doch unter Umständen erhebliche Verfahrenskosten und weitere mit dem ordentlichen Verfahren verbundene Umtriebe. Dieses in der Schweiz weit verbreitete System ist verfassungsrechtlich unbedenklich, weil die Strafverfügung auf blosse Einsprache des Angeschuldigten hin hinfällig wird, worauf das ordentliche Gerichts- und nötigenfalls das Untersuchungsverfahren aufgenommen werden muss (Art. 180 Abs. 1, Art. 181 Abs. 1 StPO). Die Strafverfügung hängt somit vom Einverständnis des Angeschuldigten ab, dieser hat es in der Hand, sie durch blosse Einsprache zu Fall zu bringen und im ordentlichen Verfahren seine von der Strafprozessordnung sowie von der Bundesverfassung und der EMRK garantierten Verfahrensrechte ohne Verlust einer Instanz vollumfänglich wahrzunehmen. Vorliegend ist nicht ersichtlich und wird auch nicht stichhaltig dargetan, inwiefern die Strafverfügung vom 6. Januar 2005 nichtig sein sollte, die Rüge ist offensichtlich unbegründet.
 
4.
 
Ist aber die Strafverfügung vom 6. Januar 2005 nicht nichtig und konnte das Verhöramt auf die Einsprache vom 6. April 2005 ohne Verfassungsverletzung wegen Verspätung nicht eintreten, so erweist sich die Beschwerde als unbegründet, ohne dass auf die weiteren, teilweise an der Sache vorbeigehenden Rügen und Ausführungen einzutreten ist. Insbesondere ist bei dieser Sachlage unerheblich, wer am 6. April 2005 Einsprache erhob und ob diese allenfalls zur Verbesserung hätte zurückgewiesen werden müssen.
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 156 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie dem Verhöramt und der Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh. schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 6. Dezember 2005
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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