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Informationen zum Dokument  BGer C 63/2005  Materielle Begründung
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BGer C 63/2005 vom 21.12.2005
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
C 63/05
 
Urteil vom 21. Dezember 2005
 
III. Kammer
 
Besetzung
 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Seiler; Gerichtsschreiberin Berger Götz
 
Parteien
 
Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich, Brunngasse 6, 8400 Winterthur, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
F.________, 1975, Beschwerdegegner, vertreten
 
durch die Gewerkschaft Unia, Sekretariat Uster, Bahnhofstrasse 23, 8610 Uster
 
Vorinstanz
 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
 
(Entscheid vom 28. Dezember 2004)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1975 geborene F.________ war vom 10. Mai bis 30. September 2003 für die G.________ GmbH als Bodenleger tätig. Mit Schreiben vom 7. November 2003 liess er gegenüber seiner ehemaligen Arbeitgeberin eine Lohnforderung von Fr. 2424.60 geltend machen, weil er den gesamtarbeitsvertraglich festgesetzten Mindestlohn nicht erhalten habe. Am 11. Februar 2004 reichte er beim Gericht Y.________ eine Lohnklage ein. Da sich dieses Gericht im weiteren Verlauf als nicht zuständig erachtete, leitete er am 28. Mai 2004 Klage für ausstehende Lohnzahlungen in der Höhe von Fr. 6491.55 zuzüglich Zins zu 5 % seit 6. Mai 2004 beim Friedensrichteramt X.________ ein. Zwischenzeitlich war am ... 2004 (Veröffentlichung im Schweizerischen Handelsamtsblatt: ... 2004) über die G.________ GmbH der Konkurs eröffnet worden. Nach dem am 11. Juni 2004 erfolgten Rückzug der Lohnklage durch F.________ schrieb das Friedensrichteramt X.________ das arbeitsrechtliche Verfahren ab.
 
F.________ stellte am 9. August 2004 bei der Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich Antrag auf Insolvenzentschädigung für Lohnausstände im Betrag von Fr. 6080.70. Die Kasse lehnte das Begehren mit der Begründung ab, der Versicherte sei seiner Schadenminderungspflicht nicht in genügendem Mass nachgekommen (Verfügung vom 25. August 2004). Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 12. Oktober 2004).
 
B.
 
Dagegen liess F.________ Beschwerde führen mit dem Antrag, der Anspruch auf Insolvenzentschädigung sei zu bejahen. In Gutheissung der Beschwerde hob das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich den Einspracheentscheid auf und wies die Sache an die Verwaltung zurück, damit diese über den Anspruch auf Insolvenzentschädigung neu verfüge (Entscheid vom 28. Dezember 2004).
 
C.
 
Die Arbeitslosenkasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und stellt das Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben.
 
F.________ lässt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen. Das Staatssekretariat für Wirtschaft verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts stellt der Rückweisungsentscheid einer kantonalen Rekursinstanz eine im Sinne von Art. 128 in Verbindung mit Art. 97 Abs. 1 OG und Art. 5 VwVG mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidgenössische Versicherungsgericht anfechtbare Endverfügung dar. Anfechtbar ist grundsätzlich nur das Dispositiv, nicht aber die Begründung eines Entscheides. Verweist indessen das Dispositiv eines Rückweisungsentscheides ausdrücklich auf die Erwägungen, werden diese zu dessen Bestandteil und haben, soweit sie zum Streitgegenstand gehören, an der formellen Rechtskraft teil. Dementsprechend sind die Motive, auf die das Dispositiv verweist, für die Behörde, an die die Sache zurückgewiesen wird, bei Nichtanfechtung verbindlich. Beziehen sich diese Erwägungen auf den Streitgegenstand, ist somit auch deren Anfechtbarkeit zu bejahen (BGE 120 V 237 Erw. 1a mit Hinweis). Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird daher eingetreten.
 
2.
 
2.1 Im vorinstanzlichen Entscheid werden die Bestimmungen und Grundsätze zum Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 51 Abs. 1 AVIG) sowie zu den Pflichten des Arbeitnehmers im Konkurs- oder Pfändungsverfahren (Art. 55 Abs. 1 AVIG; BGE 114 V 59 Erw. 3d; ARV 2002 S. 62 ff. [Urteil C. vom 4. September 2001, C 91/01] und S. 190 ff. [Urteil N. vom 12. April 2002, C 367/01], 1999 Nr. 24 S. 140 ff.) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Da die per 1. Juli 2003 in Kraft getretene Änderung von Art. 52 Abs. 1 AVIG zum Umfang der Insolvenzentschädigung einzig die Anspruchsberechtigung für allfällige Lohnforderungen für Arbeitsleistungen nach der Konkurseröffnung betrifft und solche Ansprüche vorliegend nicht zur Diskussion stehen, kann offen gelassen werden, ob Art. 52 Abs. 1 AVIG übergangsrechtlich in der alten oder neuen Fassung zur Anwendung gelangt.
 
Zu ergänzen ist, dass auf den 1. Januar 2003 das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten ist, welches im Hinblick darauf, dass die Verfügung (25. August 2004) und der Einspracheentscheid (12. Oktober 2004) nach diesem Zeitpunkt ergangen sind, und sich auch der massgebende Sachverhalt nach In-Kraft-Treten des ATSG verwirklicht hat, auf den vorliegenden Fall grundsätzlich anwendbar ist. Bezüglich der hier streitigen Frage nach einer Verletzung der Schadenminderungspflicht enthält das ATSG - mit Ausnahme von Art. 21 Abs. 4 - indessen keine Bestimmungen (vgl. Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, S. 17 N 34).
 
2.2 Art. 55 Abs. 1 AVIG, wonach der Arbeitnehmer im Konkurs- oder Pfändungsverfahren alles unternehmen muss, um seine Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber zu wahren, bezieht sich dem Wortlaut nach auf das Konkurs- und Pfändungsverfahren. Diese Bestimmung bildet jedoch Ausdruck der allgemeinen Schadenminderungspflicht, welche auch dann Platz greift, wenn das Arbeitsverhältnis vor der Konkurseröffnung aufgelöst wird (BGE 114 V 60 Erw. 4; ARV 1999 Nr. 24 S. 140 ff.). Sie obliegt der versicherten Person in reduziertem Umfang schon vor der Auflösung des Arbeitsverhältnisses, wenn der Arbeitgeber der Lohnzahlungspflicht nicht oder nur teilweise nachkommt und mit einem Lohnverlust zu rechnen ist (ARV 2002 Nr. 30 S. 190 [Urteil N. vom 12. April 2002, C 367/01]).
 
3.
 
3.1 Der Beschwerdegegner hat mit der ehemaligen Arbeitgeberin am 27. März 2003 einen Arbeitsvertrag abgeschlossen. Darin wurde ein Bruttolohn von Fr. 22.50 pro Stunde vereinbart. Es steht auf Grund der Akten fest und ist unbestritten, dass die ehemalige Arbeitgeberin ihren Lohnzahlungspflichten im Grundsatz nachgekommen ist. Erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses erlangte der Beschwerdegegner Kenntnis davon, dass ihm allenfalls auf Grund der als allgemeinverbindlich erklärten Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages für das Industrie- und Unterlagsbodengewerbe Kanton Zürich und Umgebung ein höherer Stundenlohn zugestanden hätte. Dementsprechend gelangte er nach Erhalt der Lohnschlussabrechnung vom 13. Oktober 2003 mit Schreiben vom 7. November 2003 an die G.________ GmbH und forderte sie zu einer Nachzahlung von Fr. 2424.60 innert zehn Tagen auf. Es ist der Vorinstanz beizupflichten, dass der Beschwerdegegner mit Blick auf die regelmässige Begleichung des individuell vereinbarten Lohnes durch die damalige Arbeitgeberin während der Dauer des Arbeitsverhältnisses und unmittelbar danach keine Veranlassung haben musste, an der Zahlungsfähigkeit der G.________ GmbH zu zweifeln. Da er unter den gegebenen Umständen nicht mit einem Lohnverlust rechnen musste, konnte er - ohne die Schadenminderungspflicht zu verletzen - bis zum 11. Februar 2004 mit einer Lohnklage zuwarten, um vorgängig eine gütliche Einigung mit der G.________ GmbH zu suchen. Nachdem trotz mehrerer Telefonate zwischen seiner Rechtsvertreterin und der G.________ GmbH in der Zeit zwischen Ende November 2003 und Januar 2004 eine einvernehmliche Lösung nicht erzielt werden konnte, war der Versicherte gezwungen, gerichtliche Schritte einzuleiten. Der Erfüllung der Schadenminderungspflicht steht dabei nicht entgegen, dass die Lohnklage zunächst bei der unzuständigen Behörde (Gericht Y.________) eingereicht wurde, wie auch die Arbeitslosenkasse einräumt. Die Schadenminderungspflicht muss vielmehr als eingehalten gelten, wenn die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer innert angemessener Zeit die zweckmässigen Schritte zur Geltendmachung der ausstehenden Löhne unternimmt. Es kann von der versicherten Person jedoch nicht gefordert werden, dass sie sich dabei aus juristischer Sicht fehlerlos verhält (Urteil H. vom 16. August 2005, C 111/05, Erw. 3.5). Der Beschwerdegegner gelangte nach dem gerichtlichen Unzuständigkeitsentscheid vom 7. April 2004 mit Schreiben vom 6. Mai 2004 noch einmal an die G.________ GmbH und forderte direkt eine Nachzahlung von Fr. 5614.-, bevor er am 28. Mai 2004 beim Friedensrichteramt X.________ Klage über eine arbeitsrechtliche Forderung von Fr. 6491.55 anhängig machen liess. Bei diesem Verlauf kann dem Versicherten nicht vorgeworfen werden, er sei untätig geblieben. Die vorliegende Konstellation unterscheidet sich vom Sachverhalt, wie er dem in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erwähnten Urteil S. vom 17. April 2003, C 323/02, zu Grunde liegt, insbesondere dadurch, dass der Beschwerdegegner den individuell vereinbarten Lohn regelmässig bezogen hat und nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses (nebst einer Nachforderung für zusätzliche Arbeitszeit und Zulagen) lediglich die Lohndifferenz zum gesamtarbeitsvertraglich festgelegten Mindestgehalt geltend machte, während dort ganze Monatslöhne nicht ausbezahlt worden waren. Speziell zu berücksichtigen ist hier, dass der Beschwerdegegner auf Grund der besonderen Umstände keinerlei Anlass hatte, an der Zahlungsfähigkeit der ehemaligen Arbeitgeberin zu zweifeln. Deshalb können ihm die auf eine gütliche Einigung angelegte Vorgehensweise und die damit verbundene Verzögerung der gerichtlichen Schritte (Anhebung der Lohnklagen beim Gericht Y.________ vom 11. Februar 2004 und beim Friedensrichteramt X.________ vom 28. Mai 2004) nicht zum Nachteil gereichen.
 
3.2 Der Beschwerdegegner hat seine Schadenminderungspflicht nicht verletzt. Damit ist allerdings noch nicht beantwortet, ob auch die weiteren Voraussetzungen, welche zum Bezug einer Insolvenzentschädigung berechtigen, erfüllt sind, und, bejahendenfalls, in welcher Höhe Insolvenzentschädigung auszurichten ist. Die Vorinstanz hat die Angelegenheit daher zu Recht an die Arbeitslosenkasse zurückgewiesen, damit sie über den Anspruch auf Insolvenzentschädigung neu verfüge.
 
4.
 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses entsprechend steht dem obsiegenden Versicherten eine Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 2 OG).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, dem Amt für Wirtschaft und Arbeit, Arbeitslosenversicherung, Zürich, und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
 
Luzern, 21. Dezember 2005
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Die Präsidentin der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
 
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