VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 5P.398/2005  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 5P.398/2005 vom 23.12.2005
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
5P.398/2005 /blb
 
Urteil vom 23. Dezember 2005
 
II. Zivilabteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Raselli, Präsident,
 
Bundesrichterin Hohl, Bundesrichter Marazzi,
 
Gerichtsschreiber Zbinden.
 
Parteien
 
X.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Obergericht des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, Postfach, 8023 Zürich.
 
Gegenstand
 
Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Heimeinweisung eines Kindes),
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, vom 22. September 2005.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Mit Beschluss der Vormundschaftsbehörde V.________ vom 10. März 2005 wurde A.________ gestützt auf Art. 310 Abs. 1 ZGB in Verbindung mit Art. 314a ZGB auf unbestimmte Zeit in das Kinder- und Jugendheim "J.________" in S.________ eingewiesen. Mit Eingabe vom 28. März 2005 verlangte der Vater des Jungen, X.________, die gerichtliche Beurteilung und stellte zur Hauptsache den Antrag, es sei die Heimeinweisung des Jungen ersatzlos aufzuheben und dieser ohne jede Restriktion in seine Obhut zu übergeben. Mit Urteil vom 25. April 2005 wies der Einzelrichter für Zivil- und Strafsachen des Bezirkes Zürich das Gesuch ab und bestätigte den Beschluss der Vormundschaftsbehörde. Mit gleichentags ergangener Verfügung wies der Einzelrichter überdies das Gesuch von X.________ um unentgeltliche Prozessführung und um Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes ab.
 
B.
 
Dagegen gelangte X.________ mit kantonaler Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich mit den Anträgen, das Urteil des Einzelrichters ersatzlos aufzuheben und seinen Sohn ohne jede Restriktion in seine Obhut zu übergeben. Eventualiter beantragte er die Anordnung eines Obergutachtens über die Unterbringung seines Sohnes; überdies seien die vollständigen Akten der Vormundschaftsbehörde und des Jugendsekretariates K.________ beizuziehen. Ferner ersuchte er um Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung seit dem 28. April 2005 und um Bestellung eines amtlichen Rechtsbeistands. Die Vormundschaftsbehörde reichte am 9. Juni 2005 ihre Berufungsantwort ein, welche X.________ nicht vor dem Beschluss in der Sache zugestellt wurde. Am 22. September 2005 wies das Obergericht die Berufung ab, bestätigte das erstinstanzliche Urteil und gab überdies dem Gesuch von X.________ um unentgeltliche Prozessführung für das Berufungsverfahren nicht statt.
 
C.
 
Gegen diesen Beschluss hat X.________ beim Bundesgericht sowohl staatsrechtliche Beschwerde als auch eidgenössische Berufung eingereicht. Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragt er, den angefochtenen Beschluss aufzuheben, der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu erteilen und ihm für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Überdies stellt er den Antrag, das Verfahren bis zum Entscheid über die Berufung zu sistieren. Er macht geltend, in Verletzung von Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK sei ihm die Berufungsantwort erst mit dem angefochtenen Beschluss zugestellt worden. Das Obergericht hat auf Vernehmlassung verzichtet.
 
D.
 
Dem Beschwerdeführer wurde am 2. November 2005 mitgeteilt, über die Reihenfolge der Behandlung entscheide die Referentin bzw. der Referent des Bundesgerichts. Unter Hinweis auf Art. 54 Abs. 2 Satz 2 OG wurde er überdies dahingehend informiert, durch zulässige Berufung werde der Eintritt der Rechtskraft des angefochtenen Beschlusses im Umfang der Berufungsanträge von Gesetzes wegen gehemmt.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Wird in der gleichen Sache sowohl Berufung als auch staatsrechtliche Beschwerde erhoben, so ist in der Regel zuerst über die staatsrechtliche Beschwerde zu befinden, und der Entscheid über die Berufung ist auszusetzen (Art. 57 Abs. 5 OG). Im vorliegenden Fall besteht kein Anlass, anders zu verfahren.
 
1.2 Nach der Rechtsmittelbelehrung des Obergerichts kann der angefochtene Beschluss nicht mit kantonaler Nichtigkeitsbeschwerde beim Kassationsgericht des Kantons Zürich angefochten werden (§ 284 Ziff. 6 ZPO/ZH; angefochtener Beschluss V E. 2). Die staatsrechtliche Beschwerde richtet sich somit gegen einen kantonal letztinstanzlichen Beschluss (Art. 86 Abs. 1 OG). Die Rügen der Verletzung von Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK sind der staatsrechtlichen Beschwerde zugänglich und können mit keinem anderen Rechtsmittel beim Bundesgericht vorgetragen werden (Art. 84 Abs. 1 lit. a und 84 Abs. 2 OG). Der Beschwerdeführer ist überdies durch den angefochtenen Beschluss in seinen persönlichen Rechten betroffen (Art. 88 OG). Auf die staatsrechtliche Beschwerde ist daher einzutreten.
 
2.
 
2.1 Nebst Art. 29 Abs. 2 BV verbürgt auch das Recht auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK das rechtliche Gehör (Urteil 5P.256/2002 vom 4. September 2002, E. 2.1). Umfang und Tragweite des Anspruchs gemäss Art. 29 Abs. 2 BV sind anhand der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK auszulegen (Urteil 1P.730/2001 vom 31. Januar 2002, E. 2.1; 5P.18/2005 vom 15. März 2005, E. 4.2).
 
2.2 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich in seiner Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK verschiedentlich mit der Frage der Zustellung von Aktenstücken befasst. In einem Fall, in dem das Bundesgericht über eine Berufung erkannt hatte, ohne zuvor dem Berufungskläger Kenntnis von den Bemerkungen der Vorinstanz gegeben zu haben, hat er entschieden, der in Art. 6 Ziff. 1 EMRK enthaltene Anspruch auf ein faires Verfahren verleihe den Parteien das Recht, von sämtlichen dem Gericht eingereichten Eingaben oder Vernehmlassungen Kenntnis zu erhalten und zu diesen Stellung zu nehmen. Unerheblich sei, dass die Vernehmlassung der Vorinstanz an das Bundesgericht weder Tatsachen noch Begründungen enthalte, die nicht bereits im angefochtenen Urteil aufgeführt gewesen seien. Es obliege den Parteien, zu entscheiden, ob sie zu einer Eingabe Bemerkungen anbringen oder nicht. Der Gerichtshof bejahte daher eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Urteil des EGMR i.S. N.-H. gegen Schweiz vom 18. Februar 1997, Ziff. 24, 29, in: Recueil CourEDH 1997-I S. 101; VPB 61/1997 Nr. 108 S. 961). Diese Rechtsprechung ist später im Wesentlichen bestätigt worden (Urteil des EGMR i.S. R. gegen Schweiz vom 28. Juni 2001, in: VPB 65/2001, S. 1347 Nr. 129). Eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK erblickte der Gerichtshof sodann in einem weiteren, die Schweiz betreffenden Fall, in dem der Rekurrent weder von der Stellungnahme der Vorinstanz noch von jener der Gegenpartei Kenntnis erhalten hatte; dabei hob er zusätzlich hervor, auf den möglichen tatsächlichen Einfluss von Bemerkungen der Parteien auf das Urteil komme es nicht an (Urteil des EGMR i.S. Z. gegen Schweiz vom 21. Februar 2002, Ziff. 33 und 38, in: VPB 66/2002 S. 1307 Nr. 113). Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat sich der Praxis des Gerichtshofs angeschlossen (Urteil H 213 1998 vom 1. Februar 1999, E. 1a, auszugsweise in: SZIER 1999 S. 553), ebenso das Bundesgericht (Urteile 5P.446/2003, 5P.18/2004, je vom 2. März 2004 sowie 5P.314/2004 vom 1. November 2004). Diese ist in einem weiteren, die Schweiz betreffenden Fall vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erneut in Erinnerung gerufen worden (Urteil C. gegen Schweiz vom 12. Juli 2005; [Requête Nr. 7020/02]; 5P.232/2005 vom 11. August 2005, E. 3.1).
 
2.3 Das Obergericht behauptet nicht, dass dem Beschwerdeführer die Berufungsantwort vor dem Beschluss in der Sache zugestellt worden ist, und Entsprechendes lässt sich auch nicht den Akten entnehmen. Damit aber wurde der Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör bzw. auf ein faires Verfahren (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK), wie er in E. 2.2 hiervor erörtert worden ist, verletzt. Eine Heilung des Mangels im Rahmen der staatsrechtlichen Beschwerde ist nicht möglich (zu den Heilungsvoraussetzungen im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde: BGE 126 I 68 E. 2 S. 72), weshalb die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Beschluss aufzuheben ist. Dies gilt für den eigentlichen Hauptpunkt, die Heimeinweisung, aber auch für den Entscheid über das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung. Da diese vom Obergericht wegen Aussichtslosigkeit des Prozessstandpunktes verweigert worden ist, entfällt mit der Aufhebung des Entscheides im Hauptpunkt die Grundlage, um den Prozessstandpunkt des Beschwerdeführers als aussichtslos zu qualifizieren. Es ist daher logisch, dass die staatsrechtliche Beschwerde auch mit Bezug auf die unentgeltliche Prozessführung gutzuheissen und der angefochtene Entscheid insoweit aufzuheben ist.
 
3.
 
Da dem Kanton keine Gerichtskosten auferlegt werden können, ist von einer Gerichtsgebühr abzusehen (Art. 156 Abs. 2 OG). Der Beschwerdeführer ist nicht anwaltlich vertreten und hat auch sonst keine Auslagen ausgewiesen (BGE 109 Ia 5 E. 5 S. 11; 113 Ib 353 E. 6b S. 357). Daher erübrigt sich eine Entschädigung.
 
4.
 
Der Beschwerdeführer hat keinen Anwalt mit der Wahrung seiner Interessen beauftragt; überdies hat er auch keine Gerichtskosten zu tragen; das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, und der Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, vom 22. September 2005 wird aufgehoben.
 
2.
 
Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 23. Dezember 2005
 
Im Namen der II. Zivilabteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).