VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer I 552/2005  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer I 552/2005 vom 23.12.2005
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 552/05
 
Urteil vom 23. Dezember 2005
 
III. Kammer
 
Besetzung
 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Seiler; Gerichtsschreiberin Schüpfer
 
Parteien
 
S.________, 1956, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Daniele Marco Cortiula, Untermüli 11, 6300 Zug,
 
gegen
 
IV-Stelle Zug, Baarerstrasse 11, 6304 Zug, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Zug
 
(Entscheid vom 30. Juni 2005)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1956 in Bosnien-Herzegowina geborene, als Hilfsarbeiter auf dem Bau und im Geleisebau tätige S.________ meldete sich am 6. Dezember 1999 wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nach einem Herzinfarkt am 28. Dezember 1998 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Zug nahm unter anderem verschiedene medizinische Berichte zu den Akten und gab bei der MEDAS ein Gutachten in Auftrag, welches am 18. Juni 2001 erstattet wurde. Mit Verfügung vom 22. Mai 2002 verneinte die IV-Stelle einen Rentenanspruch, da der von ihr ermittelte Invaliditätsgrad 28 % betrage. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug hiess die dagegen erhobene Beschwerde insofern gut, als es die Sache mit Entscheid vom 27. Februar 2003 zu ergänzender Sachverhaltsabklärung, konkret einer psychiatrischen Begutachtung, an die Verwaltung zurückwies. Gestützt auf das Gutachten des Dr. med. I.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 7. Oktober 2003 sprach die IV-Stelle S.________ bei einem Invaliditätsgrad von 53 % ab Dezember 1999 eine halbe Invalidenrente nebst Zusatzrente für die Ehegattin zu (Verfügungen vom 20. August und 9. September 2004). Auf Einsprache hin hielt sie daran fest (Einspracheentscheid vom 9. Dezember 2004).
 
B.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug ermittelte auf Beschwerde hin einen Invaliditätsgrad von 56 % und wies diese ab (Entscheid vom 30. Juni 2005).
 
C.
 
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, es sei ihm in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides ab 1. Januar 2004 eine Dreiviertelsrente auszurichten.
 
Die IV-Stelle und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Invalidenrente.
 
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen über die Begriffe der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG) und der Invalidität (Art. 8 ATSG), den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG, je in der bis 31. Dezember 2003 und ab 1. Januar 2004 geltenden Fassung), die Invaliditätsbemessung nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG; BGE 128 V 32 Erw. 4a) sowie die Grundsätze über die Aufgaben des Arztes (BGE 115 V 134, vgl. auch 105 V 158 Erw. 1 in fine) und den Beweiswert eines Arztberichtes (BGE 125 V 352 Erw. 3) zutreffend dargelegt. Es wird darauf verwiesen. Das Gleiche gilt für den Umstand, dass bei der Prüfung eines schon vor dem In-Kraft-Treten des ATSG auf den 1. Januar 2003 entstandenen Anspruchs auf eine Rente der Invalidenversicherung die allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln heranzuziehen sind, gemäss welchen grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten. Demzufolge ist ab einem eventuellen Rentenbeginn bis Ende 2003 die Anspruchsberechtigung unter dem Gesichtspunkt der bis dahin geltenden Fassung des IVG, ab 1. Januar 2004 bis zum Erlass des Einspracheentscheides unter jenem der 4. IV-Revision zu beurteilen (vgl. BGE 130 V 445 Erw. 1 mit Hinweisen).
 
2.
 
2.1 Einig sind sich die Parteien, dass der Beginn der Arbeitsunfähigkeit auf den 28. Dezember 1998 fällt, als der Beschwerdeführer einen Herzinfarkt erlitt. Danach hat er seine Arbeit nicht wieder aufgenommen. Die Arbeitsfähigkeit in der ursprünglichen Tätigkeit als Hilfsarbeiter bei einer Bauunternehmung wird von den meisten den Versicherten in der Folge behandelnden oder untersuchenden Ärzten als nicht mehr gegeben erachtet. Diese Einschätzung wird auch von den Spezialisten der MEDAS geteilt. Damit wurde der Rentenbeginn in Anwendung von Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG zu Recht auf Dezember 1999 festgesetzt.
 
2.2 In somatischer Hinsicht schätzen die Fachärzte der MEDAS den Beschwerdeführer gemäss Gutachten vom 18. Juni 2001 als zu 80 % arbeitsfähig, soweit es sich um eine leichte wechselbelastende Tätigkeit handelt, die nicht in gehäuft vorgeneigter oder abgedrehter Haltung ausgeübt werden muss. Für den Zeitpunkt des Rentenbeginns liegen Arztberichte des Dr. med. B.________, Kardiologie FMH, vom 12. November 1999 und des Dr. med. D.________, Physikalische Medizin FMH, spez. Rheumaerkrankungen, vom 4. Januar 2000 und 2. September 1999 vor. Beide attestieren für körperlich leichte oder sitzende Tätigkeiten eine 100%ige Arbeitsfähigkeit.
 
2.3 Die Einschränkung in der Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers liegt primär im psychischen Bereich. Davon geht auch der rechtskräftig gewordene Rückweisungsentscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 27. Februar 2003 aus. In seinem Gutachten vom 7. Oktober 2003, welches den rechtssprechungsgemässen Kriterien eines beweiskräftigen Gutachtens entspricht (BGE 125 V 353 Erw. 3b/bb), und darüber hinaus auch vom Beschwerdeführer nicht in Zweifel gezogen wird, stellt Dr. med. I.________ die Diagnosen einer somatoformen Schmerzstörung mit stark hypochondrischen Zügen auf der Grundlage einer einfachen Persönlichkeitsstruktur mit asozialen und depressiven Zügen (Dysthymie). Er erachtet aus psychiatrischer Sicht "bei einigermassen gutem Willen und entsprechender Motivation" ein 50 %-Pensum mit je hälftig verkürzter Arbeitszeit und verminderter Leistung als zumutbar und terminiert den Beginn dieser Einschränkung auf März 1999. Da sich seither keine wesentlichen Veränderungen ergeben haben, gelten diese Sachverhaltsfeststellungen auch für den Zeitpunkt des möglichen Rentenbeginns im Dezember 1999.
 
2.3.1 Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit können in gleicher Weise wie körperliche Gesundheitsschäden eine Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 ATSG bewirken. Nicht als Folgen eines psychischen Gesundheitsschadens und damit invalidenversicherungsrechtlich nicht als relevant gelten Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit, welche die versicherte Person bei Aufbietung allen guten Willens, die verbleibende Leistungsfähigkeit zu verwerten, abwenden könnte; das Mass des Forderbaren wird dabei weitgehend objektiv bestimmt (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 Erw. 2b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 127 V 298 Erw. 4c in fine). Die Annahme eines psychischen Gesundheitsschadens, so auch einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, setzt zunächst eine fachärztlich (psychiatrisch) gestellte Diagnose nach einem wissenschaftlich anerkannten Klassifikationssystem voraus (BGE 130 V 398 ff. Erw. 5.3 und Erw. 6). Wie jede andere psychische Beeinträchtigung begründet indes auch eine diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung als solche noch keine Invalidität. Vielmehr besteht eine Vermutung, dass die somatoforme Schmerzstörung oder ihre Folgen mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar sind. Bestimmte Umstände, welche die Schmerzbewältigung intensiv und konstant behindern, können den Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess unzumutbar machen, weil die versicherte Person alsdann nicht über die für den Umgang mit den Schmerzen notwendigen Ressourcen verfügt. Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, entscheidet sich im Einzelfall anhand verschiedener Kriterien. Im Vordergrund steht die Feststellung einer psychischen Komorbidität von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer. Massgebend sein können auch weitere Faktoren, so: chronische körperliche Begleiterkrankungen; ein mehrjähriger, chronifizierter Krankheitsverlauf mit unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne länger dauernde Rückbildung; ein sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens; ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr beeinflussbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn; "Flucht in die Krankheit"); das Scheitern einer konsequent durchgeführten ambulanten oder stationären Behandlung (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) trotz kooperativer Haltung der versicherten Person (BGE 130 V 352). Je mehr dieser Kriterien zutreffen und je ausgeprägter sich die entsprechenden Befunde darstellen, desto eher sind - ausnahmsweise - die Voraussetzungen für eine zumutbare Willensanstrengung zu verneinen (BGE 131 V 49 Erw. 1.2 mit Hinweisen).
 
2.3.2 Beim Beschwerdeführer liegen psychische Komorbiditäten in Form von hypochondrischen Zügen auf der Grundlage einer einfachen Persönlichkeitsstruktur und vor allem einer Dysthymie vor. Psychiatrische Therapien zeigten keinen Erfolg und die somatoforme Schmerzstörung hatte sich im Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. med. I.________ schon lange chronifiziert. Andererseits muss beim Beschwerdeführer von einem sekundären Krankheitsgewinn ausgegangen werden, welcher indessen nicht ganz im Vordergrund steht und es vertretbar erscheinen lässt, die psychische Gesundheitsstörung als - teilweise - invalidisierend zu betrachten.
 
3.
 
Damit ist der Invaliditätsgrad ab Dezember 1999 unter Berücksichtigung der von Dr. med. I.________ attestierten 50%igen Arbeitsfähigkeit zu ermitteln.
 
3.1 Die Verwaltung hat das Valideneinkommen mit Fr. 51'486.- beziffert. Das entspricht dem Mittel des vom langjährigen Arbeitgeber (X.________ AG) in den Jahren 1997 und 1998 bezahlten Lohnes, welches mit dem Nominallohnindex für das Bauhauptgewerbe für das Jahr 1999 hochgerechnet wurde. Die Vorinstanz ist vom Lohn von Fr. 3985.- x 13, also Fr. 51'805.- ausgegangen, wie es den Angaben der Arbeitgeberin im Fragebogen für Arbeitgeber vom 21. Januar 2000 für das Jahr 1999 entspricht.
 
Entgegen den Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde war der Beschwerdeführer in den letzten Jahren vor seinem Herzinfarkt zwar im Geleisebau tätig, indessen nie Arbeitnehmer der SBB. In Bezug auf weitere geltend gemachte Lohnbestandteile, wie Entschädigung für Überstunden, Naturallohn und Boni, ist auf Art. 25 IVV (je in der bis 31. Dezember 2002 und ab 1. Januar 2003 geltenden Fassung) hinzuweisen, welcher die beiden massgeblichen hypothetischen Vergleichseinkommen zur Bestimmung des Invaliditätsgrades mit den AHV-rechtlichen beitragspflichtigen Einkünften aus unselbstständiger oder selbstständiger Erwerbstätigkeit parallelisiert. Für die Invaliditätsbemessung sind also grundsätzlich nur Einkünfte zu berücksichtigen, welche der AHV-rechtlichen Beitragspflicht unterliegen würden. Damit kann für die Ermittlung der in der Vergangenheit erzielten Erwerbseinkommen auf die Angaben im IK-Auszug abgestellt werden. Dieser zeigt beim Beschwerdeführer in den Jahren 1992 bis 1998 leicht schwankende Werte zwischen minimal Fr. 49'168.- (1993) und maximal Fr. 53'417.- (1995). Es ist nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz die Angaben der Arbeitgeberin über den mutmasslichen Lohn des Beschwerdeführers im Zeitpunkt des Rentenbeginns heranzieht. Hingegen kann nicht alleine auf das finanziell beste Jahr, 1995, abgestellt werden, wie dies der Beschwerdeführer fordert. Schliesslich hatte er auch in den Folgejahren 1996 bis 1998 wieder weniger verdient. Damit ist das Valideneinkommen zu Recht auf Fr. 51'805.- festgesetzt worden.
 
3.2 Da der Beschwerdeführer keinerlei Erwerbstätigkeit mehr nachgeht, hat die Vorinstanz für die Bemessung des Invalideneinkommens zu Recht auf die statistischen Durchschnittswerte gemäss den Schweizerischen Lohnstrukturerhebungen (LSE) abgestellt. Die Parteien sind sich einig, dass der Ausgangswert Fr. 26'804.- beträgt. Differenzen bestehen einzig über den davon in Anwendung der Rechtsprechung gemäss BGE 126 V 75 ff. zu machenden Abzug. Diesbezüglich kann umfassend auf die ausführliche und differenzierte Darstellung im angefochtenen Entscheid verwiesen werden. Insbesondere berücksichtigt die Kritik in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht, dass das Gesetz (Art. 16 ATSG resp. bis Ende 2002 Art. 28 Abs. 2 IVG) explizit einen ausgeglichenen Arbeitsmarkt voraussetzt. Eventuelle Schwierigkeiten beim Finden einer geeigneten Arbeitsstelle betreffen nicht die Invalidenversicherung, sondern sind durch die Arbeitslosenversicherung zu entschädigen. Es hat beim Abzug im Rahmen von 15 % und damit bei einem Invalideneinkommen von Fr. 22'783.- sein Bewenden. Der Invaliditätsgrad entspricht 56 %, was ab 1. Dezember 1999 Anspruch auf eine halbe Invalidenrente gibt. Da sich seither weder die gesundheitlichen, noch die erwerblichen Verhältnisse geändert haben, hat das kantonale Gericht eine Rentenerhöhung auf den 1. Januar 2004 zu Recht abgelehnt.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug, der Ausgleichskasse des Kantons Zug und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 23. Dezember 2005
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Die Präsidentin der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).