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Informationen zum Dokument  BGer 8C_479/2007  Materielle Begründung
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BGer 8C_479/2007 vom 04.01.2008
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_479/2007
 
Urteil vom 4. Januar 2008
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Widmer, Leuzinger,
 
Gerichtsschreiber Jancar.
 
Parteien
 
Zürich Versicherungs-Gesellschaft, Postfach,
 
8085 Zürich,
 
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Adelrich Friedli, Stationsstrasse 66a, 8907 Wettswil,
 
gegen
 
S.________,
 
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Manfred Dähler, Poststrasse 12, 9000 St. Gallen.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 14. August 2007.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1944 geborene S.________ war als Schwesternhilfe im Alters- und Pflegeheim R.________ angestellt und damit bei der Zürich Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend Zürich) unfallversichert. Am 11. Juli 1989 erlitt sie bei einem Sturz mit dem Fahrrad eine schwere bi-hemisphärische Hirnkontusion nach stumpfem Schädel-Hirntrauma. Mit Verfügung vom 15. Januar 1993 sprach ihr die Zürich für die Folgen dieses Unfalls ab 1. Januar 1992 eine Hilflosenentschädigung bei leichter Hilflosigkeit zu. Die dagegen erhobene Einsprache wies sie mit unangefochten in Rechtskraft erwachsenem Entscheid vom 8. März 1993 ab. Mit Verfügung vom 18. Juni 1999 wies die Zürich den Antrag auf Zusprechung einer Hilflosenentschädigung bei mittlerer Hilflosigkeit ab. Auf Einsprache hin bejahte sie den Anspruch der Versicherten auf eine Hilflosenentschädigung bei mittlerer Hilflosigkeit ab 1. Januar 1999 (Entscheid vom 31. Januar 2000). Auf Grund einer Anmeldung durch den betreuenden Psychiater Dr. med. I.________ wurde die Versicherte seit Herbst 2003 in der Regel an fünf halben Tagen pro Woche in der ambulanten Tagesklinik der Psychiatrischen Klinik W.________ betreut. Zur Abklärung der Verhältnisse holte die Zürich diverse Arztberichte ein. Dr. med. T.________, Oberarzt Allgemeinpsychiatrie, Tagesklinik W.________, stellte im Bericht vom 23. März 2006 folgende Diagnosen: organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung nach Velounfall mit Schädel-Hirntrauma (1989; ICD-10: F07.8), rezidivierende mittelschwere bis schwere depressive Störung ohne psychotische Symptome (ICD-10: F33.1), anamnestisch posttraumatische Epilepsie mit gemischten Grand-Mal-Anfällen und komplex partiellen Anfällen mit ausgeprägter epileptischer Wesensveränderung, chronische Kopfschmerzen. Mit Verfügung vom 21. Juni 2006 stellte die Zürich die bisher ausgerichtete Hilflosenentschädigung bei mittlerer Hilflosigkeit auf den 1. August 2006 ein. Auf Einsprache hin eröffnete sie der Versicherten mit Schreiben vom 6. Juli 2006, sie setze ihr Frist bis 6. September 2006, um einen Bericht ihres Hausarztes beizubringen, inwiefern und in welchem Mass sie in den sechs alltäglichen Lebensverrichtungen dauernder Dritthilfe oder der persönlichen Überwachung bedürfe. Ohne ihren Gegenbericht werde sie die Einsprache ohne weiteres abweisen; dasselbe gelte für den Fall, dass sich der Hausarzt mit den relevanten Tatsachen nicht auseinandersetze. Mit Entscheid vom 29. September 2006 wies die Zürich die Einsprache ab.
 
B.
 
Hiegegen erhob die Versicherte beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Beschwerde. Sie legte neu Berichte des Dr. med. T.________ vom 27. und 28. November 2006 auf. Die Zürich reichte einen Bericht ihres Vertrauensarztes Dr. med. M.________, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, sowie der Frau L.________, Fachsupport Medizin, vom 2./5. Februar 2007 ein. Mit Entscheid vom 14. August 2007 hiess das kantonale Gericht die Beschwerde gut und hob den Einspracheentscheid vom 29. September 2006 auf.
 
C.
 
Mit Beschwerde beantragt die Zürich, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei festzustellen, dass die Versicherte ab 1. August 2006 keinen Anspruch mehr auf Hilflosenentschädigung habe; eventuell sei die Sache an sie zur Vornahme weiterer Abklärungen betreffend Kausalität von hilflosenentschädigungsrelevanten Gesundheitsstörungen und allfälligem Grad der Hilflosigkeit zurückzuweisen; der Beschwerde sei in dem Sinne aufschiebende Wirkung zu erteilen, dass die Hilflosenentschädigung ab 1. August 2006 bis zum Entscheid des Bundesgerichts eingestellt bleibe.
 
Die Versicherte schliesst auf vollumfängliche Abweisung der Beschwerde und des Gesuchs um Erteilung der aufschiebenden Wirkung. Ferner ersucht sie um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung für das letztinstanzliche Verfahren. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Weil die angefochtene Entscheidung nach dem Datum des Inkrafttretens des Bundesgesetzes über das Bundesgericht (BGG; SR 173.110), dem 1. Januar 2007 (AS 2006 1243), ergangen ist, untersteht die Beschwerde dem neuen Recht (Art. 132 Abs. 1 BGG).
 
1.2 Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. Es kann die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).
 
Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
 
2.
 
Streitig und zu prüfen ist, ob die seit 1. Januar 1999 bei mittlerer Hilflosigkeit ausgerichtete Hilflosenentschädigung auf den 1. August 2006 aufzuheben ist.
 
2.1 Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff der Hilflosigkeit (Art. 9 ATSG), den Anspruch auf Hilflosenentschädigung und die für deren Höhe wesentliche Unterscheidung dreier Hilflosigkeitsgrade (Art. 26 UVG in der seit 1. Januar 2003 geltenden Fassung; Art. 38 Abs. 1 UVV; BGE 127 V 113 E. 1d S. 115; vgl. auch SVR 2004 AHV Nr. 19 S. 61 E. 2, H 150/03) sowie die Revision der Hilflosenentschädigung (Art. 17 Abs. 2 ATSG; Art. 22 in Verbindung mit Art. 27 Satz 2 UVG, je in der seit 1. Januar 2003 geltenden Fassung; vgl. BGE 130 V 343 E. 3.5 Ingress und 3.5.1 S. 349 f.; 117 V 398 f. E. 3) und die dabei zu vergleichenden Sachverhalte (vgl. BGE 130 V 71 E. 3. S. 73 ff., 343 E. 3.5.2 S. 351; Urteil U 325/06 vom 27. August 2007, E. 2.1) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt zu Art. 67 Abs. 2 ATSG (Wegfall des Anspruchs bei Aufenthalt in einer Heilanstalt; vgl. Art. 26 Abs. 2 UVG in der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung), zu dem im Sozialversicherungsrecht geltenden Untersuchungsgrundsatz (BGE 130 V 64 E. 5.2.5 S. 68 f.), zum Beweiswert von Arztberichten (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352; SVR 2007 UV Nr. 33 S. 111 E. 4.2, U 571/06) sowie zum Wegfall des ursächlichen Zusammenhangs und damit des Leistungsanspruchs der versicherten Person und zu den sich dabei stellenden Beweisfragen (BGE 117 V 261 E. 3b S. 264; RKUV 2000 Nr. U 363 S. 45 E. 2 mit Hinweis). Darauf wird verwiesen.
 
2.2
 
2.2.1 Zu ergänzen ist, dass nach Art. 82 Abs. 1 erster Satz ATSG materielle Bestimmungen dieses Gesetzes unter anderem auf die bei seinem Inkrafttreten laufenden Leistungen nicht anwendbar sind. Da die Beschwerdeführerin die Hilflosenentschädigung am 1. Januar 2003 (Inkrafttreten des ATSG) bezog, sind der Beurteilung - entgegen der vorinstanzlichen Auffassung (E. 3.1 hievor) - an sich die davor geltenden rechtlichen Bestimmungen zu Grunde zu legen. Doch zeitigt diese übergangsrechtliche Lage keinerlei materiellrechtliche Folgen, weil der Gesetzgeber mit Art. 9 ATSG die bisherige Definition der Hilflosigkeit übernommen hat (vgl. BBl 1991 II 249; SVR 2005 IV Nr. 4 S. 14 E. 2, I 127/04; Urteil I 815/03 vom 1. April 2004, publiziert in: ZBJV 2004 S. 747 und HAVE 2004 S. 241; Urteil U 595/06 vom 19. Juni 2007, E. 2.2) und alt Art. 22 Abs. 1 in Verbindung mit alt Art. 27 Satz 2 UVG sowie Art. 17 ATSG, welcher neu die Revision der Hilflosenentschädigung regelt, inhaltlich übereinstimmen (vgl. Urteil 8C_189/2007 vom 25. Juni 2007, E. 3).
 
2.2.2 Die Rechtsprechung differenziert zwischen direkter und indirekter Dritthilfe, welche sich - anders als die in Art. 38 UVV verwendeten Begriffe "Pflege" und "Überwachung" - auf die sechs massgeblichen alltäglichen Lebensverrichtungen (Ankleiden, Auskleiden; Aufstehen, Absitzen, Abliegen; Essen; Körperpflege; Verrichtung der Notdurft; Fortbewegung [im oder ausser Haus], Kontaktaufnahme) bezieht (BGE 127 V 94 E. 3c S. 97 mit Hinweisen; Urteil I 678/03 vom 12. Februar 2004, E. 1). Danach kann die benötigte Hilfe nicht nur in direkter Dritthilfe, sondern auch bloss in Form einer Überwachung der versicherten Person bei Vornahme der relevanten Lebensverrichtungen bestehen, indem etwa die Drittperson sie auffordert, eine Lebensverrichtung vorzunehmen, die sie wegen ihres psychischen Zustandes ohne besondere Aufforderung nicht vornehmen würde (indirekte Dritthilfe; nicht publ. E. 5.1 des Urteils BGE 133 V 472; BGE 121 V 88 E. 3c S. 91, 107 V 145 E. 1c S. 149 und 136 E. 1b S. 139, 106 V 157 f., 105 V 52 E. 4a S. 56).
 
3.
 
3.1 Die Vorinstanz hat in sorgfältiger Würdigung der medizinischen Unterlagen mit einlässlicher Begründung zutreffend erwogen, dass im massgebenden Zeitraum keine wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustandes der Versicherten eingetreten ist, die zu einer Verminderung der Hilflosigkeit geführt hat. Gestützt hierauf hat sie richtig erkannt, dass die Versicherte auch über den 1. August 2006 hinaus Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung für eine Hilflosigkeit mittleren Grades hat. Es wird auf die entsprechenden vorinstanzlichen Erwägungen verwiesen (Art. 109 Abs. 3 BGG).
 
3.2 Sämtliche Einwendungen der Beschwerdeführerin vermögen zu keinem anderen Ergebnis zu führen.
 
3.2.1 Soweit sie erneut geltend macht, der Sachverhalt sei bezüglich der für die Ausrichtung einer Hilflosenentschädigung relevanten gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht rechtsgenüglich abgeklärt, kann dem auf Grund der medizinischen Aktenlage nicht gefolgt werden.
 
3.2.2 Letztinstanzlich bringt die Zürich erstmals vor, die gesundheitlichen Beeinträchtigungen seien nicht auf die unfallbedingte organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung (ICD-10: F07.8), sondern auf die anhaltenden rezidivierenden depressiven Störungen (ICD-10: F33.1) zurückzuführen. An einer ausgeprägten depressiven Symptomatik habe die Versicherte persönlichkeitsbedingt schon vor dem Unfall gelitten. Insoweit durch den Unfall allenfalls eine vorübergehende Verschlimmerung eingetreten sei, sei per Anfang August 2006 längst vom Erreichen des Status quo sine (hiezu vgl. RKUV 1994 Nr. U 206 S. 326, E. 3b; Urteil 8C_439/2007 vom 24. Oktober 2007, E. 3.1) auszugehen.
 
Die seitens der Zürich im Vergleich mit dem Jahr 2000 (Bejahung des Anspruchs auf eine Hilflosenentschädigung bei mittlerer Hilflosigkeit) vorgenommene unterschiedliche Beurteilung des natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen den anhaltenden Gesundheitsstörungen der Versicherten und dem Unfall vom 11. Juli 1989 ist medizinisch nicht belegt und damit nicht stichhaltig. Vielmehr führte Dr. med. T.________ im Bericht vom 27. November 2006 aus, sie leide seit dem schweren Schädel-Hirntrauma im Jahre 1989 an einer posttraumatischen Epilepsie, die mit einer ausgeprägten epileptischen Wesensveränderung, schwerer chronischer Depressivität und chronischen Kopfschmerzen einhergehe. Gestützt hierauf ist erstellt, dass die über den 1. August 2006 hinaus andauernden Gesundheitsstörungen zumindest teilweise auf den Unfall vom 11. Juli 1989 zurückzuführen sind. Dies genügt für die weitere Bejahung der natürlichen Kausalität (BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181 mit Hinweisen).
 
3.3 Eine weitere medizinische Begutachtung ist nicht durchzuführen, da hievon keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 131 I 153 E. 3 S. 157, 124 V 90 E. 4b S. 94; SVR 2005 MV Nr. 1 S. 1 E. 2.3, M 1/02). Dieser käme unter den gegebenen Umständen nur der Charakter einer "second opinion" zu, auf deren Einholung kein Anspruch besteht (SVR 2007 UV Nr. 33 S. 111 E. 4.2; erwähntes Urteil 8C_439/2007, E. 4.2).
 
4.
 
Da die Beschwerde offensichtlich unbegründet ist, wird sie im Verfahren nach Art. 109 Abs. 2 lit. a BGG erledigt. Das Gesuch um aufschiebende Wirkung wird mit dem Entscheid in der Hauptsache gegenstandslos (Urteil 8C_375/2007 vom 28. September 2007, E. 3). Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG; BGE 8C_158/2007 vom 13. November 2007, E. 5.5). Der obsiegenden Versicherten steht eine Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 4. Januar 2008
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
i.V. Widmer Jancar
 
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