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Informationen zum Dokument  BGer 9C_277/2007  Materielle Begründung
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BGer 9C_277/2007 vom 12.02.2008
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_277/2007
 
Urteil vom 12. Februar 2008
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
 
Parteien
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
D.________, 2002, Beschwerdegegnerin, handelnd durch ihre Eltern L.________ und M.________, und diese vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap, Bürglistrasse 11, 8002 Zürich.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 10. April 2007.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die am 5. April 2002 als indische Staatsangehörige geborene D.________ lebt seit 20. Juni 2004 in der Schweiz und wurde am 4. Mai 2006 von italienischen Staatsangehörigen, L.________ und M.________, adoptiert. Im selben Monat wurde sie bei der Invalidenversicherung unter Hinweis auf eine Sehbehinderung zum Leistungsbezug angemeldet. Eine am Vortag erteilte Kostengutsprache für medizinische Massnahmen widerrief die IV-Stelle des Kantons St. Gallen am 29. August 2006. Die IV-Stelle nahm weitere Abklärungen vor und lehnte das Gesuch um medizinische Massnahmen, nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens, mit Verfügung vom 17. Oktober 2006 mangels Erfüllung der versicherungsmässigen Voraussetzungen ab.
 
B.
 
Die von D.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 10. April 2007 gut, hob die Verfügung vom 17. Oktober 2006 auf und bejahte den Anspruch auf medizinische Eingliederungsmassnahmen. Des Weitern wies es die Sache zur detaillierten Leistungszusprache an die IV-Stelle zurück.
 
C.
 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.
 
Während D.________ auf Abweisung des Rechtsmittels schliessen lässt, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Der als Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne des BGG zu qualifizierende kantonale Rückweisungsentscheid vom 10. April 2007 kann unter den Voraussetzungen des Art. 93 Abs. 1 BGG angefochten werden. Gemäss Art. 93 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde gegen andere (d.h. nicht die Zuständigkeit oder Ausstandsbegehren betreffende [vgl. Art. 92 BGG]) selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide zulässig: a) wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können; oder b) wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (vgl. BGE 133 V 477, insb. E. 4.2 S. 481 f. und in BGE 133 V 504 nicht publizierte E. 1.1 [I 126/07]).
 
1.2 Der kantonale Rückweisungsentscheid verpflichtet die IV-Stelle, die medizinischen Massnahmen im Sinne von Art. 12 IVG zu übernehmen, und enthält damit eine materielle Vorgabe, an welche die IV-Stelle gebunden ist. Wäre diese falsch, hätte er für die Verwaltung einen auf der Hand liegenden nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zur Folge, wäre sie doch gezwungen, eine ihrer Ansicht nach rechtswidrige Kostengutsprache zu erlassen und könnte der darauf beruhende Endentscheid praktisch nicht angefochten und das Ergebnis nicht mehr korrigiert werden (vgl. BGE 133 V 477 E. 5.2.4 S. 484 f.). Auf die Beschwerde ist demnach einzutreten.
 
2.
 
Die Beschwerdegegnerin ist ausländischer Nationalität. Sie wurde als indische Staatsangehörige geboren. Aufgrund der Akten ist nicht klar, ob und allenfalls mit welcher zeitlicher Wirkung sie zufolge Adoption die italienische Staatsangehörigkeit erworben hat. Nach den Sachverhaltsfeststellungen im angefochtenen Entscheid ist die gesundheitliche Beeinträchtigung indessen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vor der Einreise in die Schweiz eingetreten und damit zu einem Zeitpunkt, in welchem die Beschwerdegegnerin indische Staatsangehörige war.
 
3.
 
3.1 Es steht fest und ist unbestritten, dass die Beschwerdegegnerin weder die versicherungsmässigen Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 3 lit. b IVG noch diejenigen nach Art. 8 lit. c Abs. 2 des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Italienischen Republik über Soziale Sicherheit vom 14. Dezember 1962 (SR 0.831.109.454.2) erfüllt.
 
3.2 Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin einen Anspruch auf die anbegehrten Massnahmen ableiten kann aus dem Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA; SR 0.142.112.681) bzw. aus der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (nachfolgend: Verordnung Nr. 1408/71; SR 0.831.109.268.1).
 
Die Vorinstanz bejaht dies mit der Begründung, die Beschwerdegegnerin sei Familienangehörige eines dem FZA bzw. der Verordnung Nr. 1408/71 unterstehenden Wanderarbeitnehmers und habe damit unabhängig von ihrer eigenen Staatsangehörigkeit Anspruch auf medizinische Massnahmen wie eine Schweizer Bürgerin, deren leistungsspezifische Invalidität im Ausland eingetreten sei. Die IV-Stelle verneint die Frage demgegenüber mit der Begründung, die Beschwerdegegnerin sei im Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls indische Staatsangehörige und noch nicht das Kind italienischer Eltern gewesen, weshalb das FZA bzw. die Verordnung Nr. 1408/71 keine Anwendung finde. Zudem handle es sich beim Anspruch auf medizinische Massnahmen um ein eigenes und nicht ein abgeleitetes Recht, für welches sich die nichterwerbstätige Familienangehörige nicht auf das FZA bzw. die Verordnung Nr. 1408/71 berufen könne.
 
4.
 
Gemäss Art. 2 FZA dürfen die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmässig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, bei der Anwendung dieses Abkommens gemäss den Anhängen I, II und III nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Nach Art. 8 FZA regeln die Vertragsparteien die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäss Anhang II. Im Anhang II kommen die Vertragsparteien überein, im Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit untereinander die gemeinschaftlichen Rechtsakte, auf die Bezug genommen wird, anzuwenden, wozu namentlich auch die Verordnung Nr. 1408/71 gehört. Diese Verordnung gilt gemäss ihrem Art. 2 Abs. 1 unter anderem für Arbeitnehmer und Selbstständige, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Ihr sachlicher Geltungsbereich umfasst gemäss Art. 4 alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die unter anderem Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft (Abs. 1 lit. a) sowie Leistungen bei Invalidität einschliesslich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind (Abs. 1 lit. b), erfassen. Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaates wohnen und für die diese Verordnung gilt, haben gemäss Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen der Verordnung nichts anderes vorsehen.
 
Sofern die Voraussetzungen des persönlichen und des sachlichen Geltungsbereichs der Verordnung erfüllt sind, hat somit die Beschwerdegegnerin unter den gleichen Voraussetzungen wie eine Schweizer Bürgerin Anspruch auf die anbegehrten Massnahmen, selbst wenn sie die vom Gesetz für ausländische Staatsangehörige vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt (vgl. Art. 80a IVG; BGE 131 V 390 E. 5.2 S. 397 ff. und E. 7.2 S. 401 mit Hinweisen).
 
4.1 Der persönliche Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 erstreckt sich gemäss deren Art. 2 Abs. 1 unter anderem auf Arbeitnehmer und Selbstständige, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind, sowie auf deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Dabei ist unerheblich, ob die Familienangehörigen selber auch Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind (Kahil-Wolff, La coordination européenne des systèmes nationaux de sécurité sociale, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Aufl., Basel 2007, S. 180 Rz. 36; Maria Verena Brombacher Steiner, Die soziale Sicherheit im Abkommen über die Freizügigkeit der Personen, in: Felder/Kaddous [Hrsg.], Bilaterale Abkommen Schweiz-EU, Basel 2001, S. 353 ff., 360; Urteil des EuGH vom 30. April 1996, C-308/93, Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097, Rdnr. 21). Die Beschwerdegegnerin ist seit der am 4. Mai 2006 erfolgten Adoption Tochter italienischer Staatsangehöriger und fällt demnach ab diesem Zeitpunkt - unabhängig von ihrer eigenen Staatsangehörigkeit - in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71. Dies hat hinsichtlich der anbegehrten medizinischen Massnahmen ungeachtet der Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten zu gelten (vgl. dazu BGE 133 V 320 E. 5.1-5.5 S. 324 ff.).
 
4.2 Der sachliche Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 umfasst gemäss Art. 4 alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die unter anderem Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft (Abs. 1 lit. a) sowie Leistungen bei Invalidität einschliesslich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind (Abs. 1 lit. b), erfassen. Wie das Bundesgericht in BGE 133 V 320 E. 5.6 S. 328 f. unter Hinweis auf Lehre und Rechtsprechung erkannt hat, sind die in Art. 4 der Verordnung Nr. 1408/71 enthaltenen Leistungsumschreibungen nicht nach Massgabe des innerstaatlichen Rechts, sondern nach gemeinschaftsrechtlichen Kriterien zu verstehen, was zur Folge hat, dass medizinische Sachleistungen, mit Einschluss der Vergütung von Pflegekosten, welche bei Krankheit oder Mutterschaft erbracht werden, als Leistungen im Sinne von Art. 4 Abs. 1 lit. a der Verordnung Nr. 1408/71 zu betrachten sind, unabhängig von der Art der Rechtsvorschriften, in denen diese Leistungen vorgesehen sind. Gelten demnach die zur Behandlung der Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen (Art. 13 IVG) als Leistungen bei Krankheit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 lit. a der Verordnung Nr. 1408/71, muss Gleiches für die medizinischen Massnahmen nach Art. 12 IVG gelten. Aus diesem Grunde spielt es hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs der Verordnung Nr. 1408/71 keine Rolle, ob der hier streitige Anspruch nach Art. 12 IVG (wie die Vorinstanz annimmt) oder nach Art. 13 IVG zu beurteilen ist.
 
4.3 Sind somit die Voraussetzungen des persönlichen und sachlichen Geltungsbereichs der Verordnung Nr. 1408/71 gegeben, ist gemäss deren Art. 3 Abs. 1 eine auf die Staatsangehörigkeit abstellende Ungleichbehandlung unzulässig. Wäre die Beschwerdegegnerin mit der Adoption schweizerische Staatsangehörige geworden, stünden ihr ab dem Zeitpunkt der Adoption (4. Mai 2006) medizinische Eingliederungsmassnahmen zu, selbst wenn die Invalidität vorher eingetreten wäre (BGE 111 V 110 E. 3d S. 113 f., 107 V 207 E. 1b S. 210, 106 V 160 E. 3 S. 164). Gestützt auf das in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 verankerte Diskriminierungsverbot kann sie demnach ab dem Zeitpunkt der Adoption medizinische Eingliederungsmassnahmen beanspruchen.
 
4.4 Bei dieser Sachlage hat die Vorinstanz den Anspruch auf medizinische Massnahmen grundsätzlich zu Recht bejaht. Indessen ist der vorinstanzliche Rückweisungsentscheid dahingehend zu präzisieren, dass der Anspruch erst ab 4. Mai 2006 und nur dann besteht, wenn auch die weiteren Voraussetzungen (welche noch nicht geprüft worden sind, weil die IV-Stelle das Leistungsgesuch bereits mangels Vorliegen der versicherungsmässigen Voraussetzungen abgelehnt hat) erfüllt sind.
 
5.
 
Die Gerichtskosten werden der IV-Stelle als unterliegender Partei auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat der Beschwerdegegnerin zudem eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1500.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 12. Februar 2008
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Meyer Keel Baumann
 
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