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Informationen zum Dokument  BGer 9C_582/2007  Materielle Begründung
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BGer 9C_582/2007 vom 18.02.2008
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_582/2007
 
Urteil vom 18. Februar 2008
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
 
Gerichtsschreiber Maillard.
 
Parteien
 
F.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Dr. Peter Hollinger, Marktgasse 16, 3800 Interlaken,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 3. Juli 2007.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1953 geborene F.________ bezieht seit Februar 1985 eine halbe Rente der Invalidenversicherung. Nachdem sie im Rahmen eines am 21. Juni 2006 mit der zuständigen Ausgleichskasse geführten Telefongespräches erwähnt hatte, dass sie am 5. März 1989 einen Sohn geboren hatte, sprach ihr die IV-Stelle Bern mit Verfügung vom 26. Juni 2006 rückwirkend ab Juni 2001 eine Kinderrente zu. Einspracheweise verlangte F.________ die Nachzahlung der Kinderrente ab Geburt ihres Sohnes, was die IV-Stelle mit Einspracheentscheid vom 29. Dezember 2006 infolge Verjährung der mehr als fünf Jahre ausstehenden Leistungen ablehnte.
 
B.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die hiegegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 3. Juli 2007 ab.
 
C.
 
F.________ lässt Beschwerde führen und beantragen, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die IV-Stelle zu verpflichten, ihr ab 5. März 1989, eventuell ab gerichtlich zu bestimmendem Zeitpunkt, für ihren Sohn X.________ eine Kinderrente auszurichten.
 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann nach Art. 95 lit. a BGG die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin ausgehend von der am 21. Juni 2006 erfolgten Anmeldung weiter als fünf Jahre zurück Anspruch auf Nachzahlung der Kinderrente hat. Das kantonale Gericht hat die zur Beurteilung dieser Streitfrage einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt.
 
3.
 
3.1 Es ist unbestritten, dass die eine Rente der Invalidenversicherung beziehende Beschwerdeführerin seit dem Zeitpunkt der Geburt ihres Sohnes Anspruch auf eine Kinderrente hat (Art. 35 Abs. 1 IVG) und ihr diese ab März 1989 ausgerichtet worden wäre, wenn sie sich rechtzeitig gemeldet hätte. Meldet sich eine Versicherte mehr als zwölf Monate nach Entstehen des Anspruchs, so werden die Leistungen in Abweichung von Art. 24 Abs. 1 ATSG lediglich für die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate ausgerichtet (Abs. 2 Satz 1 des auf Ende 2007 aufgehobenen [hier aber noch anwendbaren] Art. 48 IVG). Weitergehende Nachzahlungen werden erbracht, wenn die Versicherte den anspruchsbegründenden Sachverhalt nicht kennen konnte und die Anmeldung innert zwölf Monaten nach Kenntnisnahme vornimmt (Satz 2 der genannten Bestimmung). Dass in der Invalidenversicherung Anspruch auf eine Kinderrente besteht, ergibt sich direkt aus Art. 35 IVG und ist der breiten Öffentlichkeit bekannt. Aus einer allfälligen Rechtsunkenntnis könnte die Beschwerdeführerin daher kaum etwas zu ihren Gunsten ableiten (BGE 124 V 215 E. 2b/aa S. 220 mit Hinweisen). Da indessen auch die IV-Stelle den offenkundigen Anspruch übersehen hat, darf praxisgemäss nicht von einer verspäteten Anmeldung ausgegangen werden (vgl. Rz. 2042 des Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH]), weshalb die Nachzahlungen zu Recht nicht auf zwölf Monate beschränkt worden sind.
 
3.2 Der Anspruch auf Nachzahlung von ausstehenden Leistungen erlischt fünf Jahre nach Ende des Monats, für den sie geschuldet waren (Art. 24 Abs. 1 ATSG i.V.m. Abs. 1 des auf Ende 2007 aufgehobenen Art. 48 IVG). Gemäss BGE 121 V 195 E. 5d S. 202 in fine unterliegt die Nachzahlung von Leistungen auch dann einer absoluten Verwirkungsfrist von fünf Jahren, wenn die Verwaltung einen hinreichend substantiiert geltend gemachten Leistungsanspruch - aus welchen Gründen auch immer - übersehen hat. Diese noch unter der Herrschaft von aArt. 46 Abs. 1 AHVG, aArt. 48 Abs. 1 IVG und aArt. 14 MVG entwickelte Rechtsprechung wurde unter anderem damit begründet, bei Sozialversicherungsleistungen handle es sich typischerweise um periodische Geldleistungen, welche einen aktuellen Unterhaltsbedarf abdecken sollten (BGE 121 V 195 E. 5c S. 201). An dieser Rechtsprechung hielt das Bundesgericht trotz der Kritik eines Teils der Lehre (Ueli Kieser, Bemerkungen, in: AJP 1995 S. 1619 f.; Thomas Locher, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 2. Aufl., Bern 1997, S. 335 Rz. 7; Ueli Kieser, Die Eingliederungsmassnahmen als Gegenstand von Anmeldung, Abklärung und Verfügung, in: Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], Rechtsfragen der Eingliederung Behinderter, St. Gallen 2000, S. 117 ff., S. 125) auch unter der Herrschaft des ATSG fest, da dieselben Gründe, welche im Allgemeinen für die Einführung von Verjährungs- bzw. Verwirkungsbestimmungen sprachen, grundsätzlich auch für rechtzeitig angemeldete Ansprüche gelten (Urteil vom 23. November 2007, M 12/06, E. 5.3 mit Hinweisen).
 
3.3 Ob die IV-Stelle im hier zu beurteilenden Fall ihre Informations-, Auskunfts- und Beratungspflicht verletzt hat, wie die Beschwerdeführerin durchaus nicht unberechtigt geltend macht, kann letztlich - wie vom kantonalen Gericht richtig erkannt - offen bleiben. Unterbleibt eine (behördliche) Auskunft entgegen gesetzlicher Vorschrift oder obwohl sie nach den im Einzelfall gegebenen Umständen geboten war, hat dies die Rechtsprechung zwar der Erteilung einer unrichtigen Auskunft gleichgestellt (BGE 131 V 472 E. 5 S. 480 mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung kommt es indessen - wie bereits in E. 2 dargelegt - auf die Gründe, aus welchen die Verwaltung trotz rechtzeitiger Anmeldung die in Frage kommende Leistung nicht zugesprochen hat, nicht an; der Anspruch auf jede Leistung erlischt für einen Zeitpunkt, der weiter als fünf Jahre (ab einer späteren Anmeldung) zurückliegt (BGE 121 V 195 E. 5d S. 202). Dies hat auch dann zu gelten, wenn die versicherte Person infolge Unterlassung der Information durch die Behörde von der rechtzeitigen Anmeldung abgehalten wurde. Es sind keine Gründe ersichtlich, die beiden vergleichbaren Sachverhalte - von der Verwaltung gänzlich übersehener Leistungsanspruch einerseits und infolge Verletzung der Informationspflicht unterbliebene rechtzeitige Anmeldung anderseits - hinsichtlich der Verwirkung des Nachzahlungsanspruchs unterschiedlich zu behandeln.
 
3.4 Es bleibt somit dabei, dass die Nachzahlung von Leistungen auch dann, wenn die Verwaltung fehlerhaft eine Information nicht vorgenommen hat, einer absoluten Verwirkungsfrist von fünf Jahren unterliegt, welche rückwärts ab dem Zeitpunkt der Anmeldung berechnet wird. Nachdem diese hier am 21. Juni 2006 erfolgte, fällt nach dem Gesagten eine Nachzahlung der Kinderrente weiter als Juni 2001 zurück ausser Betracht. Auch wenn dieses Ergebnis aus Sicht der Beschwerdeführerin als stossend erscheinen mag, deckt es sich doch mit dem dargelegten Sinn und Zweck der absoluten zeitlichen Befristung von Nachzahlungen (E. 3.2).
 
4.
 
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin als unterliegender Partei auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 18. Februar 2008
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Meyer Maillard
 
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