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Informationen zum Dokument  BGer 2C_716/2007  Materielle Begründung
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BGer 2C_716/2007 vom 12.03.2008
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
2C_716/2007
 
Urteil vom 12. März 2008
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Merkli, Präsident,
 
Bundesrichter Hungerbühler, Karlen,
 
Gerichtsschreiber Klopfenstein.
 
Parteien
 
X.________,
 
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Franz Hollinger,
 
gegen
 
Kantonales Ausländeramt St. Gallen,
 
Oberer Graben 32, 9001 St. Gallen,
 
Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen, Oberer Graben 32, 9001 St. Gallen.
 
Gegenstand
 
Familiennachzug,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 5. November 2007.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die türkische Staatsangehörige X.________ (geb. 1962) lebt seit 1979 in der Schweiz. Seit 1990 ist sie im Besitz der Niederlassungsbewilligung. Aus erster Ehe hat sie zwei Kinder (geb. 1985 und 1987), die derzeit bei ihr leben. Sie bezieht eine Rente der Eidgenössischen Invalidenversicherung und Ergänzungsleistungen.
 
Der türkische Staatsangehörige Y.________ (geb. 1962) war vom 27. Februar 2000 bis zum 8. Juli 2004 mit der Schweizer Bürgerin Z.________ verheiratet und damals im Besitz einer Aufenthaltsbewilligung. Zusammen mit einer ersten (türkischen) Ehefrau hat er drei Kinder, wovon eines kurz vor der Heirat mit Z.________, ein anderes während der Ehe mit dieser gezeugt worden war. Nach der Scheidung von Z.________ verweigerte das Migrationsamt des Kantons Aargau die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung von Y.________. Eine hiegegen erhobene Beschwerde wies das Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau am 24. März 2006 ab . Am 27. Juni 2006 heiratete Y.________ dann seine Landsfrau X.________, welche für ihren Ehemann umgehend - am 18. Juli 2006 - ein Familiennachzugsgesuch stellte.
 
B.
 
Mit Verfügung vom 5. Juni 2007 wies das Ausländeramt des Kantons St. Gallen das Familiennachzugsgesuch für Y.________ ab, im Wesentlichen mit der Begründung, die Gesuchstellerin X.________ verfüge nicht über genügend finanzielle Mittel, weshalb im Falle des Nachzuges ihres Ehemannes die Gefahr einer fortgesetzten und erheblichen Fürsorgeabhängigkeit bestehe.
 
Ein hiegegen erhobener Rekurs beim kantonalen Justiz- und Polizeidepartement blieb erfolglos, und mit Urteil vom 5. November 2007 wies das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen die gegen den Departementsentscheid vom 13. August 2007 erhobene Beschwerde ebenfalls ab. Gleichzeitig verweigerte das Verwaltungsgericht X.________ die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung und auferlegte ihr die Gerichtskosten von Fr. 2'000.--. Auf deren Erhebung verzichtete das Gericht indessen "zufolge voraussichtlicher Uneinbringlichkeit" (Ziff. 3 des Urteilsdispositivs).
 
C.
 
Mit Eingabe vom 13. Dezember 2007 führt X.________ beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den Anträgen, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 5. November 2007 aufzuheben und das Familiennachzugsgesuch gutzuheissen, eventuell die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Gleichzeitig wird für beide Instanzen um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ersucht; eventuell sei das Verwaltungsgericht anzuweisen, der Beschwerdeführerin das prozessuale Armenrecht zu gewähren.
 
Das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Denselben Antrag stellen das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen und das Bundesamt für Migration.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Gemäss Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten auf dem Gebiet des Ausländerrechts unzulässig gegen Entscheide betreffend Bewilligungen, auf die weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht einen Anspruch einräumt.
 
1.2 Zwar ist am 1. Januar 2008 das Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG, SR 142.20) in Kraft getreten, doch bestimmt dessen Art. 126 Abs. 1, dass auf Gesuche, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingereicht worden sind, das bisherige Recht anwendbar bleibt. Das vorliegend streitige Gesuch wurde vor Inkrafttreten des Ausländergesetzes gestellt und beurteilt sich daher noch nach dem inzwischen aufgehobenen Bundesgesetz vom 26. Mai 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) und seinen Ausführungserlassen.
 
1.3 Gemäss Art. 17 Abs. 2 ANAG (in der Fassung vom 23. März 1990) hat der Ehegatte eines in der Schweiz niedergelassenen Ausländers Anspruch auf Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, solange die Ehegatten zusammen wohnen.
 
Die Beschwerdeführerin, welche über die Niederlassungsbewilligung verfügt, besitzt nach dem Gesagten einen grundsätzlichen Anspruch auf Nachzug ihres Ehemannes, mit dem sie künftig zusammen zu wohnen beabsichtigt. Ein analoger Anspruch besteht zudem aufgrund von Art. 8 EMRK: Diese Konventionsbestimmung garantiert den Schutz des (Privat- und) Familienlebens, wenn nahe Angehörige über ein gefestigtes Anwesenheitsrecht in der Schweiz verfügen und die familiäre Beziehung tatsächlich gelebt wird und intakt ist (statt vieler: BGE 130 II 281 E. 3.1 S. 285 f.).
 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist daher zulässig und die Beschwerdeführerin hierzu legitimiert (Art. 89 Abs. 1 BGG).
 
1.4 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, dieser sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG (Art. 105 Abs. 2 bzw. Art. 97 Abs. 1 BGG).
 
2.
 
2.1 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 119 Ib 81 E. 2d S. 87; 122 II 1E. 3c S. 8 f.) darf der Familiennachzug verweigert werden, wenn der Gesuchsteller bzw. die nachzuziehenden Personen umgehend wieder ausgewiesen werden dürften, d.h. wenn ein Ausweisungsgrund im Sinne von Art. 10 Abs. 1 ANAG besteht wie beispielsweise Fürsorgebedürftigkeit nach Art. 10 Abs. 1 lit. d ANAG. Voraussetzung für eine Verweigerung des Nachzugs ist in diesem Fall, dass konkret die Gefahr einer fortgesetzten und erheblichen Fürsorgeabhängigkeit besteht; blosse finanzielle Bedenken genügen nicht (BGE 125 II 633 E. 3c S. 641). Sozialversicherungsleistungen wie Invalidenrenten und Ergänzungsleistungen, auf welche die invalide Beschwerdeführerin einen gesetzlichen Anspruch hat (vgl. Art. 2 Abs. 1 i.V. mit Art. 4 Abs. 1 lit. c sowie Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes vom 6. Oktober 2006 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung [ELG; SR 831.30] zählen nach gefestigter bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht zu den Fürsorgeleistungen im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. d ANAG (Urteile 2A.397/2001 vom 17. Januar 2002 E. 4, 2A.495/2005 vom 13. Januar 2005 E. 2.2 mit Hinweisen, publ. in: Praxis 2005 Nr. 143; 2P.101/2006 vom 6. Mai 2006 E. 2.2.6, 2A. 639/2006 vom 1. Februar 2007 E. 2.2).
 
Für die Beurteilung der Gefahr der Fürsorgeabhängigkeit ist von den aktuellen Verhältnissen auszugehen; die wahrscheinliche finanzielle Entwicklung ist aber auf längere Sicht abzuwägen. Weiter darf nicht einfach auf das Einkommen des hier anwesenden Familienangehörigen abgestellt werden, sondern es sind die finanziellen Möglichkeiten aller Familienmitglieder über eine längere Sicht abzuwägen (BGE 122 II 1 E. 3c S. 8). Das Einkommen des Angehörigen, der an die Lebenshaltungskosten der Familie beitragen soll, ist daran zu messen, ob und in welchem Umfang es tatsächlich realisierbar ist. In diesem Sinne müssen die Erwerbsmöglichkeit und das damit verbundene Einkommen konkret belegt und mit gewisser Wahrscheinlichkeit sowie, soweit möglich, auf mehr als nur kurze Frist erhärtet sein, um Berücksichtigung zu finden (Urteile 2A.122/2007 vom 11. Juli 2007 E. 3.5 sowie 2A.119/1995 vom 24. August 1995 E. 6 b/aa).
 
2.2 Die kantonalen Behörden verweigern der Beschwerdeführerin den Nachzug ihres Ehemannes vorab wegen konkret drohender dauernder Fürsorgeabhängigkeit und begründen dies im Wesentlichen mit folgender Berechnung: Die invalide Beschwerdeführerin verfüge bloss über eine monatliche IV-Rente von Fr. 1'822.-- sowie über Ergänzungsleistungen von Fr. 456.--, d.h. gesamthaft über Fr. 2'278.-- pro Monat, während der Grundbedarf bei Nachzug des Ehemannes sich auf Fr. 3'816.-- belaufe, was einen monatlichen Fehlbetrag von Fr. 1'538.-- ergebe. Die Beschwerdeführerin hält dieser Berechnungsweise entgegen, sie werde heute von ihren bei ihr lebenden erwachsenen Kindern unterstützt und könne zusätzlich mit einem Erwerbseinkommen des Ehemannes rechnen. Die Vorinstanz erachtet die behaupteten Beitragsleistungen der Kinder nicht als nachgewiesen und jedenfalls nicht als gesichert; die behaupteten bisherigen freiwilligen Leistungen der Kinder, welche bei Bezug einer günstigeren bzw. kleineren Wohnung aus dieser ausziehen würden, könnten aufgrund ihres geringen eigenen Einkommens gestützt auf Art. 328 ZGB nämlich nicht durchgesetzt werden. Sodann fielen bei einem Nachzug des Ehemannes die bisherigen Ergänzungsleistungen dahin, während andererseits offen bleibe, ob der Ehemann überhaupt fähig und willens sei, zu arbeiten. Die diesbezügliche Bestätigung einer Offerte für einen Arbeitsvertrag stamme von einer Firma, über die inzwischen der Konkurs eröffnet worden sei; zudem gehe aus den Akten hervor (Intern: vgl. in Act. 8, markiert), dass der Ehemann im Kanton Aargau ein Verfahren bei den Behörden der Invalidenversicherung anhängig gemacht habe und gesundheitlich beeinträchtigt sei.
 
2.3 Die Beschwerdeführerin bringt nichts vor, was diese Argumentation des Verwaltungsgerichts grundlegend zu entkräften vermöchte. Gemäss ihren eigenen Erklärungen war Y.________ seit dem Jahre 2002 längere Zeit arbeitslos und hernach fürsorgeabhängig. Dass er in psychischer Hinsicht erheblich beeinträchtigt ist, geht auch aus einem Bericht der Psychiatrischen Klinik A.________ über seine Zuweisung am 1. April 2003 wegen "akuter Suizidalität" hervor. Da Y.________ gemäss dem erwähnten Bericht "nur sehr schlecht Deutsch" spricht, hat er so oder anders keine guten Aussichten, sich im hiesigen Arbeitsmarkt zu integrieren. Im Übrigen müsste er ein allfälliges Erwerbseinkommen korrekterweise auch zur Erfüllung seiner Unterhaltspflichten gegenüber den in der Türkei lebenden zurückgelassenen minderjährigen Kindern (vgl. vorne "A.") verwenden. Unter den dargelegten Umständen besteht ein nicht unerhebliches Risiko, dass die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann bei einem Nachzug des letzteren ihren Lebensbedarf nicht voll aus eigenen Mitteln decken und damit auf Sozialhilfe angewiesen sein könnten. Die Beschwerdeführerin selber sieht sich bezeichnenderweise denn auch veranlasst, mangels eigener Mittel schon für das vorliegende Rechtsmittelverfahren das prozessuale Armenrecht zu beanspruchen.
 
2.4 Bezüglich der Würdigung der finanziellen Verhältnisse mag eine gewisse Unsicherheit bestehen (beispielsweise betreffend Unterstützungsmöglichkeiten durch die erwachsenen Kinder von X.________). Diese wird jedoch aufgewogen durch folgenden Umstand: Y.________ war vor seiner jetzigen Ehe vom 27. Januar 2000 bis zum 8. Juli 2004 mit einer Schweizerin verheiratet und erhielt gestützt darauf eine Aufenthaltsbewilligung. Während dieser Ehe zeugte er mit seiner früheren türkischen Ehefrau zwei (weitere) Kinder. Nach erfolgter Scheidung von der Schweizerin wurde ihm die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung im Kanton Aargau verweigert, wogegen er erfolglos rekurrierte; es wurde ihm eine Frist zum Verlassen der Schweiz angesetzt, worauf er kurzfristig eine neue Ehe mit der heutigen Beschwerdeführerin einging (vgl. vorne "A."). Die erwähnten Umstände lassen zunächst den Schluss zu, dass es sich bei der früheren Ehe mit der Schweizerin um eine Scheinehe gehandelt hat, die dem Zweck dienen sollte, Y.________ hier ein Aufenthaltsrecht zu verschaffen (dazu BGE 128 II 145 E. 2.1 S. 151). Y.________ muss sich zudem gefallen lassen, dass auch hinter seine Motivation zum Abschluss der jetzigen Ehe mit X.________ ein Fragezeichen gesetzt wird. Jedenfalls darf sein früheres rechtsmissbräuchliches Vorgehen wenn nicht als Ausweisungsgrund, so doch als Verstoss gegen die öffentliche Ordnung gewertet werden (vgl. Urteile 2A.483/1999 vom 17. Dezember 1999, E. 5b, 2A.275/2005 vom 17. Oktober 2005, E. 4.2), was einem Nachzugsanspruch gemäss Art. 17 ANAG ebenfalls entgegenstehen und vorliegend mitberücksichtigt werden kann. Der angefochtene Entscheid erweist sich bei Berücksichtigung der dargelegten Umstände als bundesrechtskonform.
 
3.
 
Die Beschwerde ist nach dem Gesagten abzuweisen.
 
Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG); ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung kann mangels ernsthafter Erfolgsaussichten der Beschwerde nicht entsprochen werden (vgl. Art. 64 Abs. 1 BGG). Aus den in E. 2 dargelegten Gründen durfte auch das Verwaltungsgericht der Beschwerdeführerin das prozessuale Armenrecht verweigern; ein Verstoss gegen Art. 29 Abs. 3 BV liegt nicht vor.
 
Der wirtschaftlichen Situation der Beschwerdeführerin wird vorliegend bei der Bemessung der Gerichtskosten Rechnung getragen.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Migration schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 12. März 2008
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Merkli Klopfenstein
 
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