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Informationen zum Dokument  BGer 9C_796/2007  Materielle Begründung
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BGer 9C_796/2007 vom 20.05.2008
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_796/2007
 
Urteil vom 20. Mai 2008
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
 
Gerichtsschreiberin Dormann.
 
Parteien
 
V.________, 1985, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwältin Marianne Wehrli, Kaistenbergstrasse 4, 5070 Frick,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau, Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 25. September 2007.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1985 geborene V.________ wurde von ihrem Vater im Juni 2000 wegen einer psychosomatischen Erkrankung bei der Invalidenversicherung angemeldet, worauf ihr die IV-Stelle des Kantons Aargau insbesondere medizinische Massnahmen und Sonderschulbeiträge zusprach. Ab August 2003 besuchte V.________ die Tageshandelsschule für Schulabgänger bei den Schulen L.________. Für das Schulgeld - vorerst des ersten Semesters - erteilte die IV-Stelle mit Verfügung vom 22. Oktober 2003 Kostengutsprache. In der Folge brach V.________ den Lehrgang ab und trat in das zweite Semester des 10. Schuljahres über. Am 9. August 2004 begann V.________ erneut den Handelsschullehrgang bei den Schulen L.________, wofür sie am 27. August 2004 bei der IV-Stelle ein Kostengutsprachegesuch stellte. Im Januar 2005 schloss sie einen Lehrvertrag als Coiffeuse mit Lehrbeginn am 2. August 2005 ab. Den Handelsschullehrgang beendete sie am 2. Juli 2005 unter Verzicht auf die Prüfung für das Bürofachdiplom. Mit Verfügung vom 19. Juli 2005 lehnte die IV-Stelle das Kostengutsprachegesuch ab, was sie mit Einspracheentscheid vom 4. Oktober 2006 bestätigte. Zur Begründung führte sie an, es habe sich bei der Handelsschule nicht um eine geeignete Massnahme gehandelt.
 
B.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 25. September 2007 ab.
 
C.
 
V.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit den Rechtsbegehren, der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 27. September 2007 sei aufzuheben; es seien ihr die Kosten für den vom 9. August 2004 bis zum 2. Juli 2005 besuchten einjährigen Handelsschullehrgang bei den Schulen L.________, im Betrag von Fr. 14'203.30 zurückzuerstatten und für den gleichen Zeitraum das gesetzliche Taggeld auszurichten; eventualiter sei die Sache zur weiteren Abklärung und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Versicherungsgericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
 
2.
 
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf Übernahme der Kosten des Handelsschullehrgangs in den Schulen L.________ vom 9. August 2004 bis 2. Juli 2005 im Rahmen von Art. 16 Abs. 1 IVG und Art. 5 IVV hat.
 
3.
 
3.1 Versicherte, die noch nicht erwerbstätig waren und denen infolge Invalidität bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung in wesentlichem Umfange zusätzliche Kosten entstehen, haben Anspruch auf Ersatz dieser Kosten, sofern die Ausbildung den Fähigkeiten des Versicherten entspricht (Art. 16 Abs. 1 IVG).
 
Als erstmalige berufliche Ausbildung gilt jede Berufslehre oder Anlehre sowie, nach Abschluss der Volks- oder Sonderschule, der Besuch einer Mittel-, Fach- oder Hochschule und die berufliche Vorbereitung auf eine Hilfsarbeit oder auf die Tätigkeit in einer geschützten Werkstätte (Art. 5 Abs. 1 IVV). Einem Versicherten entstehen aus der erstmaligen beruflichen Ausbildung oder Weiterbildung in wesentlichem Umfange zusätzliche Kosten, wenn seine Aufwendungen für die Ausbildung wegen der Invalidität jährlich um 400 Franken höher sind, als sie ohne Invalidität gewesen wären (Art. 5 Abs. 2 IVV). Die zusätzlichen Kosten werden ermittelt, indem die Kosten der Ausbildung des Invaliden den mutmasslichen Aufwendungen gegenübergestellt werden, die bei der Ausbildung eines Gesunden zur Erreichung des gleichen beruflichen Zieles notwendig wären (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 IVV).
 
3.2 Als invalid im Sinne von Art. 16 IVG gilt, wer aufgrund einer bleibenden oder längere Zeit dauernden gesundheitlichen Beeinträchtigung (vgl. Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 ATSG) bei der Ausbildung erhebliche Mehrkosten (vgl. Art. 5 Abs. 2 IVV) auf sich nehmen muss (BGE 114 V 29 E. 1b S. 30; Urteil I 659/06 vom 22. Februar 2007). Das Anspruchserfordernis der Einfachheit und Zweckmässigkeit der beruflichen Massnahme bezieht sich auf die Art der Verwirklichung der Ausbildung und nicht auf das Ausbildungsniveau (BGE 106 V 165 E. 2 S. 167 unten; Urteil I 529/01 vom 19. März 2002 E. 1b). Die Frage, ob die Ausbildung den Fähigkeiten einer versicherten Person entspricht, ist wie jene nach der Einfachheit und Zweckmässigkeit der Massnahme (vgl. BGE 124 V 108 E. 2a S. 110 mit Hinweisen; Urteil I 529/01 vom 19. März 2002 E. 1a) hinsichtlich des beruflichen Eingliederungsziels prognostisch im Zeitpunkt vor Durchführung der fraglichen Vorkehr zu beurteilen (vgl. die medizinische Massnahmen betreffenden Urteile 9C_109/2008 vom 18. April 2008 E. 3.2, 8C_192/2007 vom 22. Oktober 2007 E. 2.3.3).
 
Für die Beurteilung der Invalidität sind Verwaltung und Gerichte auf Unterlagen angewiesen, die der Arzt und gegebenenfalls auch andere Fachleute zur Verfügung zu stellen haben. Auch wenn eine erstmalige berufliche Ausbildung nach Art. 16 Abs. 1 IVG in Frage steht, hat der Arzt den Gesundheitszustand zu diagnostizieren und zu dem sich daraus ergebenden Ausmass der Einschränkung Stellung zu nehmen. Solche ärztliche Auskünfte sind auch dann erforderlich, wenn die versicherte Person aus eigener Initiative einen Lehrgang begonnen hat und dafür die Invalidenversicherung in Anspruch nehmen will (nicht veröffentlichtes Urteil des EVG vom 4. Oktober 1993 [I 51/93] E. 1c).
 
4.
 
4.1 Die Vorinstanz verneint bereits das Vorliegen einer Invalidität im Sinne von Art. 16 Abs. 1 IVG. Die Beschwerdeführerin habe nicht dargelegt, welchen Beruf sie im Gesundheitsfalle hätte ergreifen wollen und inwiefern behinderungsbedingt der Kreis der ihren Neigungen und ihrer Eignung nach möglichen Berufe eingeengt sei. Ausserdem habe sie schon vor einer Diagnosestellung die erste Primarklasse wiederholen müssen und in der ersten Sekundarklasse sei es zur Leistungsverweigerung gekommen. Die Sonderschulbedürftigkeit der Beschwerdeführerin sei im Jahr 2001 ausgewiesen gewesen. In der anschliessend besuchten Privatschule habe sie eine spezielle Förderung erhalten, und das letzte Schuljahr sei gar als Sonderschuljahr anerkannt worden. Aus den Akten, insbesondere aus den Berichten des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons Aargau vom 14. April 2000 und des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie vom 29. Januar/15. Februar 2001, gehe jedoch nicht hervor, dass die Leistungsschwäche in der Schule mit der gesundheitlichen Problematik zusammenhänge. Es sei überwiegend wahrscheinlich, dass die Beschwerdeführerin unabhängig von gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht über die intellektuellen Ressourcen, welche für eine Handelsschulbildung nötig seien, verfüge. Sie habe nicht behinderungsbedingt auf eine geplante Ausbildung verzichten müssen und aus diesem Grund Mehrkosten einer Ersatzausbildung generiert.
 
Die vorinstanzliche Feststellung, wonach aus den psychiatrischen Berichten nicht hervor gehe, dass die Leistungsschwäche in der Schule mit der gesundheitlichen Problematik zusammenhänge, mag fraglich erscheinen. Ob sie offensichtlich unrichtig ist, kann jedoch offen bleiben, da die Vorinstanz letztlich aus anderen Gründen den Anspruch verneint hat.
 
4.2 Weiter hat die Vorinstanz festgestellt, der Besuch der Handelsschule entspreche nicht den schulischen und intellektuellen Fähigkeiten der Beschwerdeführerin. Ihre Sonderschulbedürftigkeit sei rechtskräftig anerkannt. Sie habe sich denn auch vor Beginn der Handelsschule um eine Lehrstelle im Detailhandel bemüht. Sie absolviere eine Lehre als Coiffeuse und sei den dortigen Anforderungen offensichtlich gewachsen. Das Eingliederungsziel hätte durch den Besuch der Handelsschule nicht erreicht werden können.
 
Der Beschwerdeführerin ist beizupflichten, dass bei der gebotenen prognostischen Beurteilung der Verzicht auf die Bürofachdiplomprüfung und die Absolvierung einer Lehre als Coiffeuse ausser Acht zu lassen sind. Daraus ergibt sich indessen nichts zu ihren Gunsten. Der Sonderschulbesuch 2002/2003, der Abbruch des im August 2003 begonnenen Handelsschullehrgangs und die damals erzielten ungenügenden Leistungen stehen fest. Diese für die erneute Eignungsbeurteilung (Art. 8 Abs. 1 IVG) erheblichen Tatsachen waren im August 2004 zu berücksichtigen, was die Beschwerdeführerin übrigens - zu Recht - nicht in Abrede stellt. Auf dieser Grundlage erscheinen die vorinstanzlichen Feststellungen zu den Fähigkeiten in Bezug auf den Handelsschullehrgang jedenfalls nicht offensichtlich unrichtig, was auch nicht geltend gemacht wird. Auch soweit die Beschwerdeführerin vorbringt, die IV-Stelle habe bereits für den Lehrgang mit Beginn im August 2003 Kostengutsprache erteilt, weiter habe sie die damals angekündigte Verlaufskontrolle nicht durchgeführt und schliesslich hätte sie die Eignung früher überprüfen können, kann sie nichts zu ihren Gunsten ableiten. Sie legt nicht substantiiert dar, dass die Voraussetzungen für einen Anspruch gestützt auf Treu und Glauben erfüllt seien. Der angefochtene Entscheid ist daher rechtens.
 
5.
 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 20. Mai 2008
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Meyer Dormann
 
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