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Informationen zum Dokument  BGer 9C_238/2009  Materielle Begründung
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BGer 9C_238/2009 vom 11.09.2009
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_238/2009
 
Urteil vom 11. September 2009
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
 
Gerichtsschreiberin Dormann.
 
Parteien
 
Vorsorgestiftung X.________, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. HSG Raphael Schram,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
1. C.________, vertreten durch Rechtsanwalt Humbert Entress,
 
2. H.________, vertreten durch Rechtsanwalt Christian Jenny,
 
3. M.________,
 
4. P.________,
 
5. Erbengemeinschaft J.________, bestehend aus:
 
D.________,
 
A.________,
 
T.________,
 
3 bis 5 vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Thomas Lüthi,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Berufliche Vorsorge (Verantwortlichkeit der Stiftungsorgane),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 14. Januar 2009.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die Vorsorgestiftung X.________ (vormals Personalvorsorgestiftung Y.________) erhob am 27. Januar 2004 gegen ihre ehemaligen Stiftungsräte C.________, H.________, M.________, P.________ und J.________ Klage aus Verantwortlichkeit nach Art. 52 BVG mit dem Begehren, die Beklagten seien zu verpflichten, ihr unter solidarischer Haftung einen vom Richter gemäss Art. 42 Abs. 2 OR zu schätzenden Betrag, mindestens aber Fr. 420'000.-, zuzüglich Zins zu bezahlen. Dabei argumentierte sie u.a., der Kaufpreis für das von ihr im Juni 1994 erworbene Mehrfamilienhaus O.________ (inklusive Hobbyraum, 7 Garagen und 2 Doppelgaragen) von Fr. 2'400'000.- habe dessen Verkehrswert erheblich übertroffen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wies die Klage mit Entscheid vom 30. November 2005 ab mit der Begründung, der eingeklagte Schaden sei nicht ausgewiesen, weshalb eine Schadenersatzpflicht entfalle, ohne dass die weiteren Haftungsvoraussetzungen näher zu prüfen seien. In teilweiser Gutheissung der dagegen erhobenen Verwaltungsgerichtsbeschwerde hob das Bundesgericht mit Urteil B 11/06 vom 2. August 2007 den Entscheid vom 30. November 2005 insoweit auf, als damit die Klage auf Schadenersatz wegen Kaufs der Liegenschaft zu einem überhöhten Preis mit der Begründung, es sei kein Schaden entstanden, abgewiesen worden war. Es wies die Sache an die Vorinstanz zurück, damit sie im Sinne der Erwägungen vorgehe und über die Klage neu entscheide.
 
B.
 
Nach Einholung einer Expertise zum Verkehrswert des Mehrfamilienhauses im Zeitpunkt des Kaufs durch die Vorsorgestiftung wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Klage mit Entscheid vom 14. Januar 2009 erneut ab.
 
C.
 
Die Vorsorgestiftung X.________ erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, der Entscheid vom 14. Januar 2009 sei aufzuheben und die Beklagten seien zu verpflichten, ihr unter solidarischer Haftung Fr. 250'000.- zuzüglich Zins zu 5 % seit 27. Juni 1994 zu bezahlen; eventualiter sei festzustellen, dass ein Schaden in der Höhe von Fr. 250'000.- zuzüglich Zins vorliege und die Sache zur Prüfung der weiteren Haftungsvoraussetzungen an die Vorinstanz zurückzuweisen; subeventualiter sei die Sache zur richtigen Sachverhaltsfeststellung und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Das kantonale Gericht und die im vorinstanzlichen Verfahren Eingeklagten schliessen auf Abweisung der Beschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Stellungnahme verzichtet.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
 
2.
 
Die Vorinstanz hat die Klage erneut mit der Begründung abgewiesen, dass kein Schaden ausgewiesen sei. Prozessthema im letztinstanzlichen Verfahren bildet daher wiederum allein die Frage nach einem Schaden im Sinne von Art. 52 BVG (SR 831.40). Gegebenenfalls wäre die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es die weiteren Haftungsvoraussetzungen prüfe (Urteil B 11/06 vom 2. August 2007 E. 3.2).
 
3.
 
3.1 Als Schaden im Sinne von Art. 52 BVG gilt jede Verminderung des Stiftungsvermögens, welche nicht zur satzungskonformen Zweckverwirklichung erfolgt. Sie kann in einer Verminderung der Aktiven, einer Vermehrung der Passiven oder in entgangenem Gewinn bestehen und entspricht der Differenz zwischen dem gegenwärtigen Stand des Vermögens und dem Stand, den das Vermögen ohne das schädigende Ereignis hätte. Die Vorsorgeeinrichtung ist auch dann geschädigt, wenn sie eine Liegenschaft zu einem übersetzten Preis erwirbt. Der Schaden besteht diesfalls in der Differenz zwischen dem Kaufpreis und dem effektiven Verkehrswert der Liegenschaft (Urteil B 11/06 vom 2. August 2007 E. 5.1, mit Hinweisen). Im konkreten Fall hat das Bundesgericht bereits im Urteil B 11/06 vom 2. August 2007 entschieden, dass nur ein Schaden in diesem Sinne in Betracht fällt.
 
3.2 Die Vorinstanz hat den Kaufpreis der fraglichen Liegenschaft von Fr. 2'400'000.- nicht für übersetzt gehalten. Gestützt auf den Schätzungsbericht des W.________ vom 6. Mai 2008 hat sie festgestellt, dass der massgebende Verkehrswert im Zeitpunkt des Kaufs am 28. Juni 1994 Fr. 2'150'000.- oder eher mehr betragen habe. In der Annahme, einer Liegenschaftsschätzung hafte regelmässig ein Unsicherheitsfaktor von plus/minus 10 bis 20 % an, hat sie jedoch die Differenz zum tatsächlich bezahlten Preis als zu gering erachtet, um einen Schaden zu bejahen. Wenn mit einer Verzögerung von 14 Jahren der Verkehrswert in einer bezüglich Immobilien äusserst unsicheren Periode zur Diskussion stehe, sei eine grössere Unberechenbarkeit systemimmanent. Der Bewertungsstichtag sei nicht in eine Periode stabiler Landpreise und Renditen gefallen, sondern in die Phase eines gebremsten Zerfalls der Mietzinserträge. Beim Kaufpreis sei zudem zu berücksichtigen, dass zwei volle Jahresmietzinsen garantiert gewesen seien. Die Differenz zwischen dem geschätzten Verkehrswert und dem Kaufpreis belaufe sich auf 11,62 %, was recht nahe bei 10 % liege; hätte der Experte im Rahmen der Ertragswertschätzung nicht einen (retrospektiv ermittelten) Mietzinsabschlag vorgenommen, wofür vieles spreche, betrüge der Unterschied sogar nur 6,7 %.
 
3.3 Nach welchem Massstab eine Sache zu bewerten ist, ist eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage, während die Schätzung des tatsächlichen Wertes des Gegenstandes eine der eingeschränkten Kognition unterliegende Tatfrage darstellt (BGE 125 III 1 E. 5.a S. 6; 121 III 152 E. 3c S. 155; MARTINA FIERZ, Der Verkehrswert von Liegenschaften aus rechtlicher Sicht, 2001, S. 36 ff.), deren Beantwortung naturgemäss einen weiten Ermessensspielraum umfasst (BGE 127 III 328 E. 2d S. 331; Pra 2003 Nr. 92 S. 500, 7B.170/2002 E. 2.1). In die bundesgerichtliche Überprüfungsbefugnis fällt die vorinstanzliche Festsetzung des Verkehrswertes daher insbesondere hinsichtlich Ermessensüberschreitung, -unterschreitung oder -missbrauch, alles Formen rechtsfehlerhafter (Art. 95 BGG) Ermessensbetätigung (BGE 132 V 393 E. 3 S. 399; Urteil 9C_382/2007 vom 13. November 2007 E. 4.1).
 
3.4 Unter dem Verkehrswert ist der Verkaufswert (hypothetischer Marktpreis) zu verstehen, den eine Liegenschaft im normalen Geschäftsverkehr besitzt (BGE 120 V 10 E. 1 S. 12; Urteil P 49/05 vom 9. Juni 2006 E. 2.1, mit weiteren Hinweisen). Zu dessen Festlegung hat die Verwaltung (und im Beschwerdefall das Gericht) in der Regel einen Experten beizuziehen (vgl. BGE 132 V 93 E. 4 S. 99; FIERZ, a.a.O., S. 35). Allerdings haftet einer Verkehrswertschätzung notwendigerweise ein Unsicherheitsfaktor an. Die branchenübliche Schätzungstoleranz liegt bei rund 10 % (vgl. BGE 134 II 49 E. 11 S. 67; Urteil des Bundesstrafgerichts SK.2007.6 vom 30. Januar 2008 E. 4.2.4.4; NAEGELI/HUNGERBÜHLER, Handbuch des Liegenschaftenschätzers, 3. Aufl. 1988 S. 10 und 60; NAEGELI/WENGER, Der Liegenschaftenschätzer, 4. Aufl. 1997 S. 66). Das Bundesgericht hat denn auch die Hinzurechnung von "ca. 10 %" zum gutachterlich geschätzten Verkehrswert als nicht offensichtlich unhaltbar bezeichnet (Urteil 2P.40/2002 vom 1. Mai 2002 E. 4.2). Ein kantonales Gericht verletzt daher Bundesrecht nicht, wenn es - im Rahmen seines Ermessens - bei der Festsetzung des Verkehrswertes resp. des sich daraus ergebenden Schadens von der verlässlichen Schätzung des Experten abweicht (vgl. WALTER FELLMANN, Substanziierung und Beweis unter besonderer Berücksichtigung von Art. 42 Abs. 1 und 2 OR, in: Haftpflichtprozess 2007, 2007, S. 70 f.; mit Vorbehalt FIERZ, a.a.O., S. 35). Dafür bedarf es auch nicht weiterer Schätzungen, zumal sich der Verkehrswert nicht aus dem Durchschnitt einer unbestimmten Zahl von Expertenmeinungen ergibt.
 
3.5 Die Beschwerdeführerin bringt nichts gegen den Schätzungsbericht des W.________ vom 6. Mai 2008 vor, insbesondere macht sie nicht geltend, dass darin der Verkehrswert der Liegenschaft zu hoch geschätzt worden sei. Auch die Vorinstanz hat das Gutachten grundsätzlich für plausibel gehalten, weshalb von dessen Verlässlichkeit auszugehen ist. Allerdings hat sie nachvollziehbar begründet, weshalb sie dennoch (implizit) den Verkehrswert in der Höhe des Kaufpreises festgelegt und nicht direkt von der Expertise übernommen hat. Die diesbezüglichen Feststellungen (E. 3.2) sind nicht offensichtlich unrichtig und daher für das Bundesgericht verbindlich (E. 1). Die Abweichung von der Schätzung des Experten ist mit 11,62 % nicht übermässig (E. 3.4) und es wird weder dargelegt, noch ist ersichtlich, inwiefern sie auf einer rechtsfehlerhaften Ermessensbetätigung beruhen soll. Der Schluss, der Beschwerdeführerin sei durch den Kauf des Mehrfamilienhauses kein Schaden im Sinn von Art. 52 BVG entstanden, verletzt Bundesrecht nicht; die Beschwerde ist unbegründet.
 
4.
 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die obsiegenden Beschwerdegegner haben - soweit anwaltlich vertreten - Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 8'000.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdeführerin hat für das bundesgerichtliche Verfahren folgende Parteientschädigungen auszurichten: Fr. 2'800.- an den Beschwerdegegner 1, Fr. 2'800.- an den Beschwerdegegner 2 sowie total Fr. 2'800.- an die Beschwerdegegner 3 bis 5.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 11. September 2009
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Meyer Dormann
 
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