VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 9C_665/2010  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 9C_665/2010 vom 25.11.2010
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_665/2010
 
Urteil vom 25. November 2010
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
 
Gerichtsschreiber Schmutz.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
R.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Michael Grimmer,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
 
vom 3. Juni 2010.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
A.a Nach einer Auseinandersetzung mit einem Arbeitskollegen am 17. Februar 2003 wurde die Pflegefachfrau R.________, geboren 1964, arbeitsunfähig und ist seit 1. Juli 2004 stellenlos. Am 4. Juni 2004 meldete sie sich unter Angabe eines psychischen Leidens bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle veranlasste ein Verlaufsgutachten der Frau Dr. med. A.________, FMH für Psychiatrie und Psychotherapie (vom 30. Januar 2006). Die Expertin kam zum Schluss, sie könne den Grad der Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit nicht genau in Prozenten angeben. Eine Arbeitsunfähigkeit könne sie nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit attestieren. Eine mögliche Teil-Arbeitsunfähigkeit aufgrund des psychischen Leidens sei von geringerem Umfang. Gestützt darauf verneinte die IV-Stelle des Kantons Zürich mit Verfügung vom 6. April 2006 und Einspracheentscheid vom 30. Oktober 2006 einen Leistungsanspruch.
 
A.b Da die Verwaltung im Verfahren vor kantonaler Instanz eine Neubegutachtung in Aussicht stellte, hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die von der Versicherten angehobene Beschwerde mit Entscheid vom 28. Februar 2007 in diesem Sinne gut.
 
A.c R.________ bestand darauf, dass die Begutachtung nicht - wie ihr von der IV-Stelle angekündigt - in X.________, sondern in Y.________ stattfinde, da sie nur beschränkt reisefähig sei. Die Verwaltung beauftragte in der Folge Dr. med. B.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, mit der Erstellung einer Expertise (vom 27. Juni 2007). Er kam zum Schluss, dass die Versicherte in der angestammten Tätigkeit einer Krankenschwester arbeitsunfähig sei; sie sei auch nicht in der Lage, einer anderen Erwerbstätigkeit nachzugehen.
 
A.d Da für die IV-Stelle noch Unklarheiten bestanden, beharrte sie auf einer zusätzlichen Begutachtung durch die MEDAS. R.________ wandte erneut ein, sie sei nur beschränkt reisefähig. Zudem brachte sie vor, gemäss den behandelnden Ärzten sei eine weitere Begutachtung für sie eine gesundheitliche Belastung, die ihr nicht zuzumuten sei; gestützt auf das Gutachten des Dr. med. B.________ sei ihr umgehend eine ganze Invalidenrente zuzusprechen; es sei gar nicht notwendig, weitere Abklärungen durchzuführen.
 
A.e Mit Zwischenverfügung vom 24. Oktober 2007 hielt die IV-Stelle an der Begutachtung (nunmehr in Y.________ durch das Zentrum O.________) fest.
 
A.f Auf die dagegen eingereichte Beschwerde trat das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 30. November 2007 nicht ein, weil der Anordnung einer Begutachtung durch die Verwaltung nach der Rechtsprechung (BGE 132 V 93 E. 5 S. 100 f.) kein Verfügungscharakter zukomme und es bei der Zwischenverfügung an einer selbstständigen Anfechtbarkeit fehle; die Frage der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit der angeordneten Exploration könne darum gar nicht materiell entschieden werden.
 
A.g Mit Schreiben vom 21. Juli 2008 forderte die IV-Stelle R.________ auf, sich nun mit der Begutachtung einverstanden zu erklären, da sonst aufgrund der Akten entschieden und das Leistungsgesuch abgewiesen werden müsse. Die Versicherte liess erneut erklären, es sei ihr aus medizinischen Gründen nicht möglich, der geforderten Begutachtung nachzukommen. Mit Verfügung vom 31. Oktober 2008 hielt die IV-Stelle fest, es werde infolge verweigerter Mitwirkung aufgrund der Akten entschieden und das Leistungsbegehren abgewiesen.
 
B.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 3. Juni 2010 ab.
 
C.
 
R.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, es seien die gesetzlichen Leistungen zu gewähren, insbesondere sei ihr eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.
 
Mit Schreiben vom 7. September 2010 beantragt sie zudem die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung und Bestellung eines unentgeltlichen Prozessbeistandes.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Pflicht der Versicherungsträger zur Abklärung des Sachverhalts (Art. 43 Abs. 1 ATSG) und die Mitwirkungspflicht der versicherten Personen bei ärztlichen oder fachlichen Untersuchungen (Art. 43 Abs. 2 ATSG) sowie die Befugnis der Versicherer, bei unentschuldbarer Verletzung der Mitwirkungspflichten aufgrund der Akten zu verfügen oder die Erhebungen einzustellen und Nichteintreten zu beschliessen, und das dabei zu beobachtende Vorgehen (Art. 43 Abs. 3 ATSG), richtig wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.
 
2.
 
Beim Erlass der Verfügung vom 31. Oktober 2008 ging die Beschwerdegegnerin davon aus, infolge der unterbliebenen Mitwirkung der Beschwerdeführerin sei der von ihr geltend gemachte Leistungsanspruch nicht ausgewiesen. Diese stellte und stellt sich demgegenüber auf den Standpunkt, es könne und müsse auf das Gutachten des Dr. med. B.________ und die Beurteilungen der behandelnden Ärzte abgestellt werden; eine neue Begutachtung sei nicht notwendig und ihr nicht zumutbar; nur schon das Reden über den inkriminierenden Vorfall am Arbeitsplatz bringe die Gefahr einer Retraumatisierung mit sich.
 
3.
 
Abgesehen davon, dass die Einholung eines entbehrlichen Zweitgutachtens eine unzulässige Verfahrensverzögerung darstellen kann (vgl. die Urteile 8C_622/2009 vom 3. Dezember 2009 und I 671/00 vom 21. August 2001 E. 5a), erkannte das Bundesgericht im Urteil U 571/06 vom 29. Mai 2007, dass die versicherte Person nicht verpflichtet ist, sich einer weiteren Begutachtung zu unterziehen, wenn der Sachverhalt bereits hinreichend geklärt ist; die Weigerung, sich der Zweitbegutachtung zu unterziehen, gereicht der versicherten Person nicht zum Nachteil, wenn die weitere Begutachtung entbehrlich ist (SVR 2007 UV Nr. 33 S. 111, U 571/06 E. 4). Die Verfahrensgrundsätze des ATSG verleihen dem Versicherungsträger nicht das Recht, eine "second opinion" zum bereits in einem Gutachten festgestellten Sachverhalt einzuholen, wenn ihm dieser nicht gefällt (BGE 136 V 156 E. 3.3 S. 158).
 
4.
 
Die Notwendigkeit zur Anordnung einer weiteren Abklärung haben für Verwaltung und Vorinstanz Unklarheiten gegeben, welche nach dem Gutachten des Dr. med. B.________ vom 27. Juni 2007 noch bestanden haben:
 
4.1 Entgegen der Beschwerdeführerin hat die Vorinstanz nicht aktenwidrig und willkürlich angenommen, Dr. med. B.________ habe nicht sämtliche medizinischen Akten beigezogen, sondern sie hat lediglich festgestellt, dieser habe von den Vorakten offenbar nur die Expertisen der Frau Dr. med. A.________ (vom 28. Januar 2004 und 30. Januar 2006) verwertet, nicht aber die Berichte der behandelnden Ärzte.
 
4.2 Wenn die Vorinstanz auf den Umstand hinweist, dass der Gutachter in jeder Tätigkeit volle Arbeitsunfähigkeit attestierte, nachdem der behandelnde Psychiater Dr. med. C.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, ein halbes Jahr zuvor am 1. Dezember 2006 lediglich eine Arbeitsfähigkeit von 50 % in leidensangepassten Tätigkeiten angegeben hatte, lässt dies nicht darauf schliessen, dass sie den späteren Bericht des Dr. med. C.________ vom 8. Oktober 2007 in willkürlicher Weise schlichtweg ignoriert habe. Sie hat im Gegenteil auf den betreffenden Bericht verwiesen und dazu festgehalten (E. 3.7), laut diesem habe sich das gesundheitliche Befinden der Beschwerdeführerin, ausgelöst durch die Belastungen der Begutachtung durch Dr. med. B.________, im Mai 2007 deutlich verschlechtert.
 
4.3 Auch hat die Vorinstanz in Erwägung 4.3 einlässlich und korrekt begründet, warum die Beschwerdegegnerin auf die Beurteilungen des Hausarztes Dr. med. D.________, Arzt für Allgemeine Medizin FMH, und des behandelnden Psychiaters Dr. med. C.________ nicht abgestellt hat. So hat der Hausarzt wiederholt eine reduzierte bis annähernd inexistente Reisefähigkeit attestiert, was mit der Tatsache nicht in Einklang zu bringen ist, dass die Beschwerdeführerin immer wieder Reisen über knapp tausend Kilometer nach Bosnien bewältigt. Dazu wird in der Beschwerde nichts ausgeführt.
 
4.4 Auch verlangt die von Dr. med. C.________ diagnostizierte chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung (Bericht vom 8. März 2008) als auslösenden Faktor ein traumatisierendes Ereignis von aussergewöhnlicher Schwere (Urteil 9C_865/2009 vom 3. Dezember 2009 E. 3.2 mit Hinweisen), etwa die Verwicklung in kriegerische Ereignisse mit dem Erleben unmittelbar drohender Todesgefahr sowie existenzbedrohende Lager- und Foltererlebnisse. Nach der Umschreibung (ICD-10 F43.1) entsteht die posttraumatische Belastungsstörung als eine Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation mit aussergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmass, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Prädisponierende Faktoren können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf erschweren, aber sie sind nicht ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären (und auch nicht notwendig). Von einer solchen Gegebenheit ist die Auseinandersetzung am Arbeitsplatz - auch so wie von der Beschwerdeführerin geschildert - weit entfernt. Selbst der Hausarzt hat das gleiche Ereignis als banalen privaten Konflikt bezeichnet und in der traumatisierenden Wirkung der psychiatrischen Begutachtung gleichgestellt (Bericht Dr. med. D.________ vom 20. September 2007). Die vorinstanzliche Feststellung, es sei hier nicht ein von der Rechtsprechung verlangtes traumatisierendes Ereignis von aussergewöhnlicher Schwere vorgelegen, ist demnach keinesfalls als willkürlich zu bezeichnen.
 
5.
 
Bei den von der Vorinstanz aufgezeigten Widersprüchlichkeiten war mit Recht von einem nicht hinreichend geklärten, nicht entscheidreifen Sachverhalt auszugehen. Insbesondere ging es hier klar nicht um eine unzulässige "second opinion" (vorne E. 3). Die relevante Sachverhaltsfeststellung ist nach der gesamten Aktenlage weder offensichtlich unrichtig noch beruht sie auf einer Rechtsverletzung; sie bleibt darum für das Bundesgericht verbindlich (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
 
6.
 
Was die Zumutbarkeit einer weiteren Begutachtung betrifft, hat die Vorinstanz mit Recht ausgeführt, dass nicht nachvollziehbar begründet ist, was an einem fachgerecht geführten psychiatrischen Explorationsgespräch aus objektiver Sicht unzumutbar sein sollte. So erträgt die Beschwerdeführerin seit Jahren den Umgang mit Ärzten und auch der als massgebend bezeichnete Gutachter erachtet eine Verlaufsbegutachtung nach einem Jahr als angezeigt und somit zumutbar. Darum liegt auch in dieser Hinsicht kein entschuldbares Nichtnachkommen von Mitwirkungspflichten vor, worauf sich die Beschwerdeführerin beruft. Wie die Vorinstanz zutreffend zusammengefasst hat, ist es nicht an der Beschwerdeführerin, die Leistungen beansprucht, darüber zu entscheiden, welche Abklärungen erforderlich sind, sondern an der Beschwerdegegnerin, welche die angemeldeten Ansprüche beurteilt. Sache der Beschwerdeführerin ist es, an diesen Abklärungen mitzuwirken. Tut sie dies nicht oder nur unzureichend, hat sie die Folgen zu tragen, so etwa, wenn hier die Verwaltung den angemeldeten Anspruch nicht bejaht, weil der behauptete anspruchsbegründende Sachverhalt nicht rechtsgenüglich abgeklärt ist.
 
7.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist abzuweisen, da die Beschwerde aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Zufolge unterbliebenen Zwischenentscheides über die unentgeltliche Prozessführung, um den mit Schreiben vom 7. September 2010 für den Fall der Annahme von Aussichtslosigkeit ersucht worden ist, sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 25. November 2010
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Meyer Schmutz
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).