VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 8C_777/2012  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 8C_777/2012 vom 07.01.2013
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_777/2012
 
Urteil vom 7. Januar 2013
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichterin Niquille, Bundesrichter Maillard,
 
Gerichtsschreiber Krähenbühl.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
M.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Franziska Beutler,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, Speichergasse 12, 3011 Bern,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung
 
(unentgeltliche Rechtspflege, Bedürftigkeit),
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
 
vom 30. August 2012.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
In einem von M.________ geführten Beschwerdeverfahren wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern deren Gesuch um Gewährung unentgeltlicher Rechtspflege mit Zwischenverfügung vom 30. August 2012 mangels Bedürftigkeit ab.
 
B.
 
Hiegegen lässt M.________ Beschwerde am Bundesgericht führen mit dem Begehren, ihr unter Aufhebung der angefochtenen Verfügung für das Verfahren vor dem kantonalen Verwaltungsgericht die unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung zu gewähren. Auch für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege.
 
Die IV-Stelle des Kantons Bern verweist auf den kantonalen Entscheid und verzichtet wie auch das Verwaltungsgericht auf eine Stellungnahme zur Sache.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Gegen die vorinstanzliche Verfügung vom 30. August 2012 ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht (Art. 82 ff. BGG) zulässig, da die Abweisung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege für das kantonale Beschwerdeverfahren einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken kann (vgl. BGE 133 IV 335 E. 4 S. 338; SVR 2009 UV Nr. 12 S. 49).
 
2.
 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Eine - für den Ausgang des Verfahrens entscheidende (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG) - Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz kann das Bundesgericht nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen laut Art. 99 BGG nur so weit vorgebracht werden, als erst der vorinstanzliche Entscheid dazu Anlass gibt (Abs. 1); neue Begehren sind unzulässig (Abs. 2).
 
3.
 
Zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht die prozessuale Bedürftigkeit der Beschwerdeführerin - als eine für die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege unabdingbare Voraussetzung (vgl. Art. 29 Abs. 3 BV; Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG; Art. 61 lit. f ATSG) - zu Recht verneint hat.
 
3.1 Wie das kantonale Gericht zutreffend dargelegt hat, ist eine Person bedürftig, wenn sie nicht in der Lage ist, für Prozesskosten aufzukommen, ohne dass sie Mittel beanspruchen müsste, die zur Deckung des Grundbedarfs für sie und ihre Familie notwendig sind (BGE 128 I 225 E. 2.5.1 S. 232 mit Hinweis). Die prozessuale Bedürftigkeit beurteilt sich nach der gesamten wirtschaftlichen Situation der Recht suchenden Person, wobei bei Verheirateten die Einkommen beider Ehegatten zu berücksichtigen sind (SVR 2010 IV Nr. 10 S. 31; nicht publizierte E. 3.2 des in BGE 132 V 241 teilweise veröffentlichten Urteils U 289/05 vom 20. März 2006, mit weiteren Hinweisen). Zu dieser Situation gehören sämtliche finanziellen Verpflichtungen, welche den jeweiligen Einkommens- und Vermögensverhältnissen gegenüberzustellen sind (BGE 124 I 1 E. 2a S. 2). Massgebend sind dabei grundsätzlich die Verhältnisse im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung (BGE 120 Ia 179 E. 3a S. 181) oder - bei seither eingetretenen Veränderungen - auch in demjenigen der Entscheidfindung (BGE 108 V 265 E. 4 S. 269; Urteil 8C_381/2011 vom 7. Oktober 2011 E. 1; ALFRED BÜHLER, Gerichtskosten, Parteikosten, Prozesskaution, unentgeltliche Prozessführung, Bern 2001, S. 190 f.).
 
3.2 Grundsätzlich ist es Sache der ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege stellenden Person, ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse umfassend darzustellen und soweit möglich auch zu belegen. Diesbezüglich trifft sie eine umfassende Mitwirkungspflicht. An die klare und gründliche Darstellung der finanziellen Situation dürfen umso höhere Anforderungen gestellt werden, je komplexer diese Verhältnisse sind. Aus den eingereichten Belegen muss auf jeden Fall auch der aktuelle Grundbedarf der das Gesuch stellenden Partei hervorgehen. Zudem müssen die Belege über sämtliche ihrer finanziellen Verpflichtungen sowie über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse Aufschluss geben. Verweigert die ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege stellende Person die zur Beurteilung ihrer aktuellen wirtschaftlichen Gesamtsituation erforderlichen Angaben oder Belege, kann die Bedürftigkeit ohne Verfassungsverletzung verneint werden (BGE 120 Ia 179 E. 3a S. 182). Allenfalls unbeholfene Recht Suchende hat die Behörde auf die Angaben hinzuweisen, die sie zur Beurteilung des Gesuchs benötigt. Gelingt es der Gesuch stellenden Person - in grundsätzlicher Erfüllung ihrer Obliegenheiten - in ihrer ersten Eingabe nicht, die Bedürftigkeit zur Zufriedenheit des Gerichts nachzuweisen, ist sie zur Klärung aufzufordern. Die mit dem Gesuch befasste Behörde ist darüber hinaus indessen nicht verpflichtet, den Sachverhalt von sich aus nach jeder Richtung hin abzuklären. Auch muss sie nicht unbesehen alles, was behauptet wird, von Amtes wegen überprüfen. Sie hat den Sachverhalt lediglich dort (weiter) abzuklären, wo noch Unsicherheiten und Unklarheiten bestehen, sei es, dass sie von einer Partei auf - wirkliche oder vermeintliche - Fehler hingewiesen wird, sei es, dass sie solche selbst feststellt (vgl. Urteil 9C_767/2010 vom 3. Februar 2011 E. 2.1.3 mit weiteren Hinweisen; vgl. auch ALFRED BÜHLER, a.a.O., S. 188 f.).
 
4.
 
4.1 Das kantonale Gericht hat Einnahmen von monatlich Fr. 6'092.- berücksichtigt, welche aus dem durchschnittlichen Monatseinkommen des Ehemannes der Beschwerdeführerin von Fr. 1'218.-, der diesem ausgerichteten Rente der Invalidenversicherung von (einschliesslich Ergänzungsleistungen) Fr. 4'713.- und einer Gutschrift der Einwohnergemeinde von Fr. 161.- resultieren. Die monatlichen Ausgaben setzen sich laut angefochtener Verfügung aus dem Grundbetrag für die Beschwerdeführerin und ihren Ehemann von Fr. 1'700.-, den Unterhaltskosten für die beiden Söhne von Fr. 1'200.-, einem 30%igen zivilprozessualen Zuschlag von Fr. 870.-, Hypothekarzinsen von Fr. 674.-, Krankenversicherungskosten von Fr. 913.- sowie Arbeitswegkosten des Ehemannes von Fr. 443.- zusammen und belaufen sich somit auf insgesamt Fr. 5'800.-. Verglichen mit den Einnahmen von Fr. 6'092.- resultiert somit ein Einnahmenüberschuss von Fr. 292.- monatlich, der es der Beschwerdeführerin nach vorinstanzlicher Auffassung ermöglicht, die Prozesskosten innert Jahresfrist zu tilgen.
 
4.2 Geltend gemacht wird, bei der Bestimmung des monatlichen Zwangsbedarfs seien nebst zwingend zu leistenden Amortisationszahlungen von Fr. 300.- pro Monat mit dem Liegenschaftsunterhalt verbundene Nebenkosten von monatlich Fr. 523.-, die auswärtige Verpflegung des Ehemannes von Fr. 100.- sowie eine steuerliche Belastung von Fr. 20.- (je monatlich) zu Unrecht nicht berücksichtigt worden.
 
5.
 
5.1 Dass sich die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann gemäss Rahmenfinanzierungsvertrag vom 9. März 2009 ihrer Bank gegenüber verpflichtet haben, quartalsweise Fr. 900.- zu amortisieren, wurde im kantonalen Verfahren lediglich durch den mit "obligatorische Amortisationen" bezeichneten Posten von Fr. 300.- in der Auflistung der monatlichen Auslagen zwar erwähnt, allein damit aber nicht hinreichend klar begründet. Erst im bundesgerichtlichen Verfahren werden entsprechende Bestätigungen der Bank vom 10. und 19. September 2012 eingereicht und eine substantiierte Begründung vorgetragen, was sich mit Blick auf Art. 99 BGG als unzulässig erweist. Dem kantonalen Richter lagen keine solchen Erklärungen und Dokumente vor, sodass er seinerzeit von den verbindlich vereinbarten Amortisationszahlungen keine genauere Kenntnis hatte. Ob er sich diesbezüglich von Amtes wegen zu näheren Abklärungen hätte veranlasst sehen müssen, kann dahingestellt bleiben. Wirtschaftlich betrachtet sind Amortisationszahlungen nämlich als Ersparnisse zu sehen, welche auf der Ausgabenseite ohnehin nicht zu Buche schlagen (vgl. Urteile 8C_381/2011 vom 7. Oktober 2011 E. 2.2, 8C_743/2010 vom 24. März 2011 E. 5.2; ALFRED BÜHLER, a.a.O., S. 163 Fn. 128).
 
5.2 Ebenfalls erst im bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahren und damit verspätet (Art. 99 BGG) belegt wurden die behaupteten, im kantonalen Verfahren jedoch nicht einmal erwähnten Nebenkosten, welche mit dem Unterhalt der Liegenschaft der Beschwerdeführerin und ihres Ehemannes verbunden sind. Dass solche Auslagen anfallen, auch wenn sie im erstmaligen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege - wohl versehentlich - unerwähnt blieben, musste jedoch auch dem kantonalen Richter bewusst sein. Weil er diesbezüglich keinerlei weitere Abklärungen vorgenommen hat - wie er dies etwa mit Verfügung vom 19. Juli 2012 bezüglich der auswärtigen Verpflegungskosten des Ehemannes der Beschwerdeführerin (erfolglos zwar) auch getan hat - beruht seine Sachverhaltsfeststellung in diesem Punkte auf mangelhaften Grundlagen, was als Rechtsverletzung einer bundesgerichtlichen Berichtigung im Sinne von Art. 105 Abs. 2 BGG grundsätzlich zugänglich ist (E. 2 hievor). Ermessensweise sind die Nebenkosten mit minimal Fr. 150.- zu veranschlagen.
 
Da mithin aus der Gegenüberstellung von Einkünften und Ausgaben ein Überschuss von weniger als Fr. 150.- resultiert, ist die Bedürftigkeit mit Blick auf die anfallenden Gerichts- und Parteikosten von rund Fr. 3'000.- zu bejahen.
 
5.3 Da die unentgeltliche Rechtspflege somit nicht wegen fehlender Bedürftigkeit verweigert werden kann, wird die Vorinstanz die weiteren Voraussetzungen für deren Gewährung (fehlende Aussichtslosigkeit der Beschwerde, Gebotenheit anwaltlicher Vertretung) zu prüfen haben und hernach erneut über das diesbezüglich gestellte Gesuch befinden.
 
6.
 
Vom Kanton Bern können keine Gerichtskosten erhoben werden (Art. 66 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 BGG). Hingegen hat die im bundesgerichtlichen Verfahren obsiegende Beschwerdeführerin ihm gegenüber Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Ihr Begehren um unentgeltliche Rechtspflege für das letztinstanzliche Verfahren wird damit gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und die Verfügung des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 30. August 2012 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Der Kanton Bern hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'000.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 7. Januar 2013
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Ursprung
 
Der Gerichtsschreiber: Krähenbühl
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).