VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 1B_387/2012  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 1B_387/2012 vom 24.01.2013
 
{T 0/2}
 
1B_387/2012
 
 
Urteil vom 24. Januar 2013
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Aemisegger, Merkli, Karlen, Eusebio,
 
Gerichtsschreiber Haag.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________, Beschwerdeführer, erbeten vertreten durch Advokat Alain Joset,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft, Hauptabteilung Arlesheim, Kirchgasse 5, Postfach, 4144 Arlesheim,
 
Advokat Simon  Berger, amtlicher Verteidiger des Beschwerdeführers.
 
Gegenstand
 
Strafverfahren; amtliche Verteidigung,
 
Beschwerde gegen den Beschluss vom 10. April 2012 des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Strafrecht.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
Die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft führt eine Strafuntersuchung gegen X.________ wegen des Verdachts (unter anderem) von Diebstahl und Missbrauch einer Datenverarbeitungsanlage. Am 15. Februar 2011 beauftragte der Beschuldigte einen erbetenen privaten Verteidiger. Mit Verfügung vom 16. März 2011 wies die Staatsanwaltschaft ein Gesuch des erbetenen Verteidigers vom 16. Februar 2011 um Ernennung als amtlichen Verteidiger ab. Eine dagegen erhobene Beschwerde entschied das Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Strafrecht, am 7. Juni 2011 abschlägig.
1
 
B.
 
Mit Schreiben vom 13. Juli 2011 teilte der erbetene Verteidiger der Staatsanwaltschaft mit, dass er (mangels Kostendeckung für seine Bemühungen) gezwungen sei, das private Mandat sofort niederzulegen. Gleichzeitig stellte er erneut das Gesuch, er sei als amtlicher Verteidiger einzusetzen. Am 22. Juli 2011 forderte die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten auf, eine neue Wahlverteidigung zu bestimmen. Mit Schreiben vom 28. Juli 2011 teilte der Beschuldigte der Staatsanwaltschaft mit, dass er seinen bisherigen erbetenen Verteidiger als amtlichen Verteidiger zu bestellen wünsche. Mit Verfügung vom 4. August 2011 ernannte die Staatsanwaltschaft einen anderen Anwalt als amtlichen Verteidiger des Beschuldigten. Eine dagegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht am 24. Oktober 2011 teilweise gut. Es hob die Verfügung vom 4. August 2011 auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die Staatsanwaltschaft zurück.
2
 
C.
 
Mit Verfügung vom 20. Januar 2012 bestellte die Staatsanwaltschaft erneut den erwähnten anderen Anwalt als amtlichen Verteidiger, mit Wirkung ab diesem Datum. Eine vom Beschuldigten dagegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Strafrecht, am 10. April 2012 ab.
3
 
D.
 
Gegen den Beschluss des Kantonsgerichts vom 10. April 2012 gelangte der Beschuldigte mit Beschwerde vom 29. Juni 2012 an das Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Die Staatsanwaltschaft sei zudem anzuweisen, den vom Beschwerdeführer gewünschten Anwalt als (neuen) amtlichen Verteidiger zu bestellen.
4
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
Als oberste rechtsprechende Behörde des Bundes soll sich das Bundesgericht in der Regel nur einmal mit der gleichen Streitsache befassen müssen. Nach ständiger Praxis zu Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG ist ein Vor- oder Zwischenentscheid mit Beschwerde in Strafsachen nur ausnahmsweise anfechtbar, sofern ein konkreter rechtlicher Nachteil droht, der auch durch einen (für die rechtsuchende Partei günstigen) Endentscheid nachträglich nicht mehr behoben werden könnte (BGE 135 I 261 E. 1.2 S. 263 mit Hinweisen).
5
1.1. Der blosse Umstand, dass es sich bei einem Offizialverteidiger nicht (oder nicht mehr) um den Wunsch- bzw. Vertrauensanwalt des Beschuldigten handelt, schliesst eine wirksame und ausreichende Verteidigung nicht aus. Die Ablehnung eines Gesuchs des Beschuldigten um Auswechslung des Offizialverteidigers begründet daher in der Regel keinen nicht wieder gutzumachenden Rechtsnachteil im Sinne des Gesetzes (BGE 135 I 261 E. 1.2 S. 263; 126 I 207 E. 2b S. 211; Urteile 1B_197/2011 vom 14. Juli 2011 E. 1.2; 1B_357/2010 vom 7. Januar 2011 E. 1.2.1-1.2.2; 1B_184/2009 vom 2. Juli 2009 E. 2.1-2.2). Anders liegt der Fall, wenn der amtliche Verteidiger seine Pflichten erheblich vernachlässigt (vgl. BGE 120 Ia 48 E. 2 S. 50 ff.), wenn die Strafjustizbehörden gegen den Willen des Beschuldigten und seines Offizialverteidigers dessen Abberufung anordnen (BGE 133 IV 335 E. 4 S. 339) oder wenn sie dem Beschuldigten verweigern, sich (zusätzlich zur Offizialverteidigung) auch noch durch einen erbetenen Privatverteidiger vertreten zu lassen (BGE 135 I 261 E. 1.2-1.4 S. 264 f.).
6
1.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, die kantonalen Instanzen hätten ihm, entgegen seinem ausdrücklichen Willen, nicht den von ihm vorgeschlagenen, sondern einen ihm fremden Anwalt als amtlichen Verteidiger bestellt. Damit hätten sie sein Vorschlagsrecht nach Art. 133 Abs. 2 StPO missachtet und ihm (in einem Fall der notwendigen Verteidigung) einen nicht erwünschten Rechtsvertreter aufgedrängt.
7
1.3. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt und geben zu keinen weiteren Erörterungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
8
 
Erwägung 2
 
Nach den Erwägungen der Vorinstanz ist hier unbestrittenermassen ein Fall der notwendigen Verteidigung (gemäss Art. 130 lit. b StPO) gegeben. Bei der Bestellung des Offizialverteidigers habe die Verfahrensleitung nach Möglichkeit die Wünsche des Beschuldigten zu berücksichtigen. Falls er bereits einen privaten Rechtsvertreter beigezogen habe, sei dieser grundsätzlich als amtlicher Verteidiger zu bestellen. Zwar bestehe kein Anspruch auf einen Offizialverteidiger nach freier Wahl. Es müssten jedoch sachliche Gründe dafür vorliegen, dass die Verfahrensleitung dem Wunsch des Beschuldigten nicht entspreche. Der erbetene Verteidiger habe der Staatsanwaltschaft am 12. Dezember 2011 (zum wiederholten Mal) mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer im damaligen Verfahrensstadium nicht bereit gewesen sei, seine Einkommens- und Vermögenssituation offenzulegen. Der Beschwerdeführer habe im kantonalen Verfahren weder seine finanziellen Verhältnisse offenbart, noch dargelegt, inwiefern eine Ausnahme (von dieser prozessualen Obliegenheit) bestehe. Diese Haltung habe der erbetene Verteidiger auch in der Beschwerdeschrift an die Vorinstanz bekräftigt. Da er dem Beschuldigten von der Offenlegung seiner finanziellen Verhältnisse abgeraten habe (anstatt dem Gesuch um amtliche Verteidigung geeignete Belege betreffend Mittellosigkeit beizulegen), sei ein sachlicher Grund erfüllt, welcher gegen seine Bestellung als amtlicher Verteidiger spreche.
9
 
Erwägung 3
 
Der Beschwerdeführer rügt, die kantonalen Instanzen hätten ihm, entgegen seinem ausdrücklichen Willen, nicht den von ihm vorgeschlagenen erbetenen Privatanwalt als amtlichen Verteidiger bestellt, sondern einen ihm zuvor völlig unbekannten Rechtsvertreter. Damit hätten sie sein gesetzliches Vorschlagsrecht nach Art. 133 Abs. 2 StPO (sowie die Regelung von Art. 132 Abs. 1 lit. a StPO) missachtet und ihm einen nicht erwünschten Rechtsvertreter aufgedrängt. Zwischen diesem und ihm habe nie ein Vertrauensverhältnis bestanden. Sachliche Gründe für die Missachtung seines Vorschlages würden im angefochtenen Entscheid nicht dargelegt. Dass die Vorinstanz die amtliche Verteidigung im Falle einer notwendigen Verteidigung davon abhängig mache, dass er, der Beschuldigte, mittellos sein und darüber hinaus seine finanziellen Verhältnisse der Staatsanwaltschaft offenlegen müsste, sei gesetzes- und grundrechtswidrig. Ohne Kenntnis des präzisen Tatvorwurfs und der Untersuchungsakten sei er, der Beschwerdeführer, im fraglichen Verfahrensstadium im Übrigen nicht bereit gewesen, seine Einkommens- und Vermögenssituation zu offenbaren und sich dadurch womöglich selber zu belasten. Die Ansicht der Vorinstanz, sein erbetener Verteidiger hätte ihn, den Beschwerdeführer, dazu anhalten müssen, der Staatsanwaltschaft seine finanziellen Verhältnisse darzulegen, um als amtlicher Verteidiger zugelassen zu werden, sei unhaltbar. Jedenfalls bei notwendiger Verteidigung widerspreche der angefochtene Entscheid auch dem strafprozessualen Verbot des Selbstbelastungszwangs (Art. 113 Abs. 1 StPO). Neben den genannten Bestimmungen der StPO verletze der angefochtene Entscheid die (durch Art. 32 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. c EMRK sowie Art. 14 Abs. 3 lit. d UNO-Pakt II) grundrechtlich geschützten Verteidigungsrechte, das rechtliche Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) und das Willkürverbot (Art. 9 BV).
10
 
Erwägung 4
 
4.1. Die beschuldigte Person ist berechtigt, in jedem Strafverfahren und auf jeder Verfahrensstufe einen Rechtsbeistand ihrer Wahl mit der Verteidigung zu betrauen (Art. 129 Abs. 1 StPO). Gemäss Art. 132 Abs. 1 lit. a StPO ordnet die Verfahrensleitung eine 
11
4.2. Die amtliche Verteidigung wird von der im jeweiligen Verfahrensstadium zuständigen Verfahrensleitung bestellt (Art. 133 Abs. 1 StPO). Die Verfahrensleitung berücksichtigt dabei nach Möglichkeit die Wünsche der beschuldigten Person (Art. 133 Abs. 2 StPO). Die amtliche Verteidigung wird nach dem Anwaltstarif desjenigen Kantons entschädigt, in dem das Strafverfahren geführt wurde (Art. 135 Abs. 1 StPO). Die Staatsanwaltschaft oder das urteilende Gericht legen die Entschädigung am Ende des Verfahrens fest (Art. 135 Abs. 2 StPO). Wird die beschuldigte Person zu den Verfahrenskosten verurteilt, so ist sie, sobald es ihre wirtschaftlichen Verhältnisse erlauben, verpflichtet, dem Kanton die Entschädigung zurückzuzahlen (Art. 135 Abs. 4 lit. a StPO).
12
4.3. Mit den gesetzlichen Bestimmungen von Art. 132-133 StPO wurde die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK kodifiziert. Das Vorschlagsrecht des Beschuldigten nach Art. 133 Abs. 2 StPO begründet zwar keine strikte Befolgungs- bzw. Ernennungspflicht zulasten der Verfahrensleitung. Für ein Abweichen vom Vorschlag des Beschuldigten bedarf es jedoch zureichender sachlicher Gründe, wie z.B. Interessenkollisionen, Überlastung, die Ablehnung des Mandates durch den erbetenen Verteidiger, dessen fehlende fachliche Qualifikation oder Berufsausübungsberechtigung oder andere sachliche Hindernisse (vgl. Viktor Lieber, in: Zürcher Kommentar StPO, 2010, Art. 133 N. 4 f.; Niklaus Ruckstuhl, in: Basler Kommentar StPO, 2011, Art. 133 N. 7 f.; Niklaus Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2009, Art. 133 N. 2; Maurice Harari/Tatiana Aliberti, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale, 2011, Art. 133 N. 25, 29; s. auch Urteil des Bundesgerichts 1B_74/ 2008 vom 18. Juni 2008 E. 2 und 6; EGMR vom 25. September 1992 i.S. Croissant 
13
 
Erwägung 5
 
5.1. Die Vorinstanz nennt als sachlichen Grund, weshalb hier ausnahmsweise vom Vorschlag des Beschuldigten abgewichen werden dürfe, dass der erbetene Verteidiger nicht dafür gesorgt habe, dass der Beschwerdeführer der Staatsanwaltschaft seine finanzielle Situation offenlegt. Damit vermischt sie in unzulässiger Weise das gesetzliche Vorschlagsrecht des Beschuldigten betreffend die 
14
5.2. Die Frage der definitiven Auflage von Verteidigungskosten bildet nicht Gegenstand des angefochtenen Entscheides. Streitig ist, ob die Vorinstanz Art. 133 Abs. 2 StPO verletzte, indem sie vom Vorschlag des Beschwerdeführers auf Ernennung des erbeteten Verteidigers als Offizialverteidiger abwich. Hier war und ist unbestrittenermassen ein Fall der 
15
 
Erwägung 6
 
Die Beschwerde ist gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung (im Sinne der obigen Erwägungen) an die Vorinstanz zurückzuweisen. Falls die Vorinstanz keine sachlichen Gründe darlegen kann, weshalb der erbetene Rechtsvertreter als Offizialverteidiger objektiv nicht in Frage kommt, wird der bisherige amtliche Verteidiger durch den erbetenen Verteidiger (im Offizialmandat) zu ersetzen sein. In jedem Fall bleiben alle (rechtmässigen) Verfahrenshandlungen des bisherigen amtlichen Verteidigers rechtswirksam.
16
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.
 
2. Der Entscheid vom 10. April 2012 des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Strafrecht, wird aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung zurückgewiesen.
 
3. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
 
4. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
5. Der Kanton Basel-Landschaft hat eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- (pauschal, inkl. MWST) an Advokat Alain Joset zu entrichten.
 
6. Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Strafrecht, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 24. Januar 2013
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Fonjallaz
 
Der Gerichtsschreiber: Haag
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).