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Informationen zum Dokument  BGer 8C_64/2013  Materielle Begründung
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BGer 8C_64/2013 vom 23.04.2013
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_64/2013
 
Urteil vom 23. April 2013
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
 
Gerichtsschreiberin Berger Götz.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
I.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Kurt Bischofberger,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 26. November 2012.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Mit Verfügung vom 21. April 2004 sprach die IV-Stelle des Kantons St. Gallen dem 1975 geborenen I.________ rückwirkend ab 1. Oktober 2001 eine ganze Rente, basierend auf einem Invaliditätsgrad von 82 %, zu. Im Rahmen zweier Revisionen von Amtes wegen bestätigte sie den Anspruch auf eine ganze Rente (Mitteilungen vom 16. Juni 2008 und 28. Mai 2009). Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens kam sie wiedererwägungsweise auf die Rentenverfügung vom 21. April 2004 zurück und hob diese unter Hinweis darauf, dass bei einem Invaliditätsgrad von 25 % kein Rentenanspruch bestehe, auf, wobei sie auf eine Rückforderung von bereits ausbezahlten Rentenleistungen "ausnahmsweise" verzichtete (Verfügung vom 25. Juni 2010).
 
B.
 
In Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Verfügung vom 25. Juni 2010 ersatzlos auf (Entscheid vom 26. November 2012).
 
C.
 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die IV-Stelle des Kantons St. Gallen, der Gerichtsentscheid vom 26. November 2012 sei aufzuheben und die Verfügung vom 25. Juni 2010 sei zu bestätigen; dem Rechtsmittel sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
 
I.________ lässt das Rechtsbegehren stellen, die Beschwerde sei abzuweisen und das Gesuch um aufschiebende Wirkung sei abzulehnen; ferner lässt er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung ersuchen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
Unabhängig von einem materiellen Revisionsgrund kann der Versicherungsträger nach Art. 53 Abs. 2 ATSG wiedererwägungsweise auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Vorausgesetzt ist, dass kein vernünftiger Zweifel an der Unrichtigkeit der Verfügung möglich, also nur dieser einzige Schluss denkbar ist. Erscheint indessen die Beurteilung einzelner ermessensgeprägter Schritte der Anspruchsprüfung vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage sowie der Rechtspraxis (BGE 125 V 383 E. 3 S. 389) im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung als vertretbar, scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus. Ansonsten würde die Wiedererwägung zum Instrument einer voraussetzungslosen Neuprüfung, was sich nicht mit dem Wesen der Rechtsbeständigkeit formell zugesprochener Dauerleistungen vertrüge (SVR 2012 IV Nr. 18 S. 81, 9C_418/2010 E. 3.2).
 
3.
 
3.1 Das kantonale Gericht gelangte nach einlässlicher Würdigung der Berichte und Gutachten zum Schluss, beim Stand zur Zeit des Erlasses der Rentenverfügung vom 21. April 2004 habe die IV-Stelle in vertretbarer Weise davon ausgehen dürfen, dass der Beschwerdegegner seine Restarbeitsfähigkeit nur noch im geschützten Rahmen verwerten könne. Sowohl die berufliche Abklärungsstelle X.________ (Schlussbericht vom 11. August 2003) als auch Dr. med. W.________ vom Regionalen Ärztlichen Dienst der Invalidenversicherung (RAD; Stellungnahme vom 19. März 2004) seien zu diesem Schluss gelangt. Dr. med. R.________, Oberarzt, Bereichsleiter Forensik der Psychiatrischen Klinik A.________, könne in seinem psychiatrisches Gutachten vom 11. März 2004 ebenfalls so verstanden werden. Es wäre nach Ansicht des kantonalen Gerichts im Übrigen zulässig gewesen, dem Versicherten zunächst eine ganze Rente zuzusprechen und diese nach erfolgter beruflicher Eingliederung allenfalls herabzusetzen oder einzustellen. Da eine berufliche Eingliederung unterblieben sei, könne wohl eine Verletzung des Grundsatzes "Eingliederung vor Rente" angenommen werden, was jedoch nicht bedeute, dass deswegen auch die rentenzusprechende Verfügung zweifellos unrichtig gewesen wäre.
 
3.2 Der Beschwerdegegner schliesst sich dieser Argumentation an.
 
3.3 Die IV-Stelle rügt, die berufliche Abklärungsstelle X.________ habe sich damals zu medizinischen Sachverhalten geäussert, zu denen sie nicht hätte Stellung nehmen dürfen. Die Einschätzung der beruflichen Abklärungsstelle X.________, wonach wegen der äusserst geringen kognitiven Voraussetzungen und der beschränkten Aufmerksamkeitsfähigkeit nur eine Tätigkeit im geschützten Rahmen in Frage komme, sei haltlos. Die Vorinstanz übersehe, dass die Dres. med. G.________, Arzt für Neurologie und Psychiatrie, und N.________, Spezialarzt Orthopädie FMH, Zentrum S.________, in ihrer Expertise vom 25. März/ 25. April 2008 eine 75%ige Arbeitsfähigkeit in der freien Wirtschaft attestierten.
 
3.3.1 Bei ihrer Argumentation übersieht die IV-Stelle, dass die Frage der zweifellosen Unrichtigkeit der Rentenverfügung aufgrund der Sachlage im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung relevant ist (E. 2 hiervor). Ob das Gutachten des Zentrums S.________ vom 25. März/ 25. April 2008 gestützt auf eine Untersuchung vier Jahre nach der Rentenverfügung oder der RAD-Arzt Dr. med. L.________ in einer Notiz vom 11. Januar 2010 zum Gutachten des Zentrums S.________ bezüglich Arbeitsfähigkeit zu abweichenden Schlüssen gelangt, kann daher vorliegend nicht ausschlaggebend sein.
 
3.3.2 Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, Dr. med. R.________ (wie auch Dr. med. E.________, Facharzt für Handchirurgie FMH, in seinem Gutachten vom 15. Oktober 2002 aus somatischer Sicht) sei schon davon ausgegangen, dass der Versicherte in der freien Wirtschaft arbeitsfähig sei, ist sie darauf hinzuweisen, dass die Vorinstanz im Gutachten des Psychiaters vom 11. März 2004 durchaus gewisse Unstimmigkeiten ortet. So wird im angefochtenen Gerichtsentscheid namentlich bemängelt, dass der Experte nicht eindeutig angegeben habe, ob sein Attest einer 50%igen Arbeitsfähigkeit vor oder nach Durchführung der von ihm empfohlenen beruflichen Massnahmen gelte. Dies wäre nach Auffassung der Vorinstanz von der Verwaltung zu verifizieren gewesen. Es ist dem kantonalen Gericht allerdings beizupflichten, dass mit Blick auf die damalige Aktenlage insgesamt nicht gesagt werden kann, es sei kein vernünftiger Zweifel an der Unrichtigkeit der Rentenverfügung vom 21. April 2004 möglich. Die berufliche Abklärungsstelle X.________ hielt nur noch eine Tätigkeit im geschützten Rahmen für möglich, Dr. med. R.________ ging zwar von einer Leistungsfähigkeit von 50 % für eine angepasste Tätigkeit, jedoch mit vorgängiger "IV-gestützte(r) Berufsabklärung und -beratung", aus und der angefragte RAD-Arzt sprach sich auf der Basis der psychiatrischen Expertise für eine Rente aus. Bei diesen Angaben ist der Schluss auf eine noch vorhandene Arbeitsfähigkeit in der freien Marktwirtschaft nicht zwingend. Die Vorinstanz hat deshalb die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung zu Recht verneint.
 
4.
 
Mit dem Entscheid in der Sache ist die Frage der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gegenstandslos.
 
5.
 
Dem Prozessausgang entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Dessen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das Verfahren vor Bundesgericht wird damit gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdeführerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdegegners für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der Ausgleichskasse Verom, Schlieren, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 23. April 2013
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Leuzinger
 
Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz
 
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