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Informationen zum Dokument  BGer 1B_153/2013  Materielle Begründung
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BGer 1B_153/2013 vom 17.05.2013
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1B_153/2013
 
Urteil vom 17. Mai 2013
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Aemisegger, Chaix,
 
Gerichtsschreiber Uebersax.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Patrick Frey,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft, Hauptabteilung Arlesheim, Kirchgasse 5, 4144 Arlesheim.
 
Gegenstand
 
Haftentlassungsgesuch,
 
Beschwerde gegen die Verfügung vom 18. März 2013 des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Strafrecht.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
A.a X.________ wurde am 31. August 2011 von der Polizei Basel-Landschaft wegen das Verdachts einer Straftat vorläufig festgenommen. Am 2. September 2011 sowie am 7. Dezember 2011 ordnete das Zwangsmassnahmengericht Basel-Landschaft ihm gegenüber die Untersuchungshaft an. Am 30. Januar 2012 wurde der vorzeitige Strafvollzug bewilligt.
 
A.b Mit Urteil vom 17. August 2012 verurteilte das Strafgericht Basel-Landschaft X.________ wegen Gefährdung des Lebens sowie versuchter Nötigung zu einer teilbedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe von drei Jahren, davon eineinhalb Jahre unbedingt, bei einer Probezeit von zwei Jahren und unter Anrechnung der Untersuchungshaft sowie des vorzeitigen Strafvollzugs von insgesamt 353 Tagen.
 
A.c Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch X.________ erhoben gegen das Strafurteil Berufung.
 
B.
 
Mit Eingabe vom 8. März 2013 an das Kantonsgericht Basel-Landschaft beantragte X.________, er sei unverzüglich auf freien Fuss zu setzen; überdies sei ihm eine Genugtuung von Fr. 1'000.-- und Schadenersatz von Fr. 800.-- wegen zu lange ausgestandener Vollzugszeit seit dem 28. Februar 2013 zu entrichten. Mit Verfügung vom 18. März 2013 wies der Präsident des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Strafrecht, das als Haftentlassungsgesuch entgegen genommene Begehren ab und bewilligte zugleich die amtliche Verteidigung für das Verfahren vor dem Kantonsgericht.
 
C.
 
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht mit dem Hauptantrag, die Verfügung des Kantonsgerichtspräsidenten aufzuheben und ihn sofort auf freien Fuss zu setzen; überdies sei ihm eine Genugtuung von Fr. 1'500.-- sowie Schadenersatz im Betrag von Fr. 4'900.-- zuzusprechen. In prozessualer Hinsicht wird um amtliche Verteidigung sowie um Erteilung der aufschiebenden Wirkung ersucht.
 
D.
 
Die Staatsanwaltschaft und das Kantonsgericht Basel-Landschaft schliessen auf Abweisung des Antrags auf aufschiebende Wirkung sowie der Beschwerde. Unter anderem teilt das Kantonsgericht dabei mit, dass die Berufungsverhandlung vor dem Kantonsgericht auf den 24. und 25. Juni 2013 angesetzt wurde.
 
E.
 
X.________ hat innert erstreckter Frist auf eine weitere Stellungnahme verzichtet.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG kann der angefochtene Entscheid beim Bundesgericht mit Beschwerde in Strafsachen angefochten werden. Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG zur Beschwerde befugt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten (vgl. das Urteil des Bundesgerichts 1B_90/2012 vom 21. März 2012 E. 1).
 
1.2 Mit der Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht kann insbesondere die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), prüft die bei ihm angefochtenen Entscheide aber grundsätzlich nur auf Rechtsverletzungen hin, die von den Beschwerdeführern geltend gemacht und begründet werden (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG). Erhöhte Anforderungen an die Begründung gelten, soweit die Verletzung von Grundrechten gerügt wird (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.2 S 254 mit Hinweisen). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, dieser sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG (vgl. Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, das Kantonsgericht sei einem Irrtum über die anzuwendende Rechtsnorm unterlegen, indem es sein Gesuch, ihn auf freien Fuss zu setzen, als Haftentlassungsbegehren behandelt habe. Der gemäss Strafurteil vom 17. August 2012 unbedingt ausgesprochene Anteil der Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren sei am 28. Februar 2013 abgelaufen; überdies gebe es keine über dieses Datum hinaus gültig angeordnete Haft. Der angefochtene Entscheid beruhe auf einer unrichtigen Rechtsanwendung und verletze das Recht auf persönliche Freiheit (nach Art. 10 BV) und das Willkürverbot (gemäss Art. 9 BV).
 
2.2 Gemäss Art. 236 Abs. 1 StPO kann die Verfahrensleitung der beschuldigten Person bewilligen, Freiheitsstrafen vorzeitig anzutreten, sofern der Stand des Verfahrens es erlaubt. Der vorzeitige Strafantritt stellt seiner Natur nach eine strafprozessuale Zwangsmassnahme auf der Schwelle zwischen Strafverfolgung und Strafvollzug dar. Er soll ermöglichen, dass der beschuldigten Person bereits vor einer rechtskräftigen Urteilsfällung verbesserte Chancen auf Resozialisierung im Rahmen des Strafvollzugs geboten werden können (BGE 133 I 270 E. 3.2.1 S. 277; Urteil des Bundesgerichts 1B_90/2012 vom 21. März 2012 E. 2.2). Für eine Fortdauer der strafprozessualen Haft in den Modalitäten des vorzeitigen Strafvollzugs muss weiterhin ein besonderer Haftgrund wie hier namentlich die von der Vorinstanz bejahte Fluchtgefahr vorliegen und die Haftverlängerung muss verhältnismässig sein.
 
2.3 Wird der Beschuldigte nicht bereits früher aus der Haft entlassen, so dauert der vorzeitige Strafvollzug gemäss Art. 236 StPO bis zur Rechtskraft des Strafurteils an (vgl. MARC FORSTER, in: Niggli/Heer/ Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2011, N. 5 zu Art. 220 StPO). Nach Art. 437 Abs. 1 StPO werden Urteile rechtskräftig, wenn die Rechtsmittelfrist unbenützt abgelaufen ist, die berechtigte Person erklärt, auf ein Rechtsmittel zu verzichten, oder ein ergriffenes Rechtsmittel zurückzieht oder wenn die Rechtsmittelinstanz auf das Rechtsmittel nicht eintritt oder es abweist. Im vorliegenden Fall haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Beschwerdeführer gegen das Urteil des Strafgerichts Basel-Landschaft vom 17. August 2012 Berufung erhoben. Weil darüber noch nicht entschieden wurde, ist das erstinstanzliche Strafurteil noch nicht rechtskräftig. Demnach dauert der am 30. Januar 2012 bewilligte vorzeitige Strafvollzug weiterhin an, weshalb der Freiheitsentzug des Beschwerdeführers auf einem gültigen Rechtstitel beruht.
 
2.4 Der Hafttitel ist auch nicht deshalb weggefallen, weil der Beschwerdeführer Ende Februar 2013 den gemäss dem Strafurteil vom 17. August 2012 unbedingt vollziehbar erklärten Anteil der Freiheitsstrafe von anderthalb Jahren - von insgesamt drei Jahren - abgesessen hatte. Gerade weil dieses Urteil auch von der Staatsanwaltschaft angefochten worden ist, besteht die Möglichkeit der Verlängerung einerseits der Freiheitsstrafe insgesamt wie auch andererseits des unbedingten Anteils der Freiheitsstrafe. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung spielt jedenfalls bei der Berechnung der mutmasslichen Dauer der Freiheitsstrafe, die im Rahmen der Beurteilung der Verhältnismässigkeit einer strafprozessualen Haft vorzunehmen ist, die Möglichkeit der bedingten Entlassung (vgl. das Urteil des Bundesgerichts 1B_51/2008 vom 19. März 2008 E. 4.1 mit Hinweisen) oder des bedingten oder teilbedingten Vollzugs (vgl. BGE 133 I 270 E. 3.4.2 S. 281 f. mit Hinweisen) grundsätzlich keine Rolle. Davon abzuweichen besteht nur dann ausnahmsweise Anlass, wenn dies die konkreten Umstände des Einzelfalls gebieten. Analoges gilt im vorliegenden Zusammenhang: Entscheidend ist die maximale Dauer der unterinstanzlich ausgesprochenen bzw. im Berufungsverfahren noch zu erwartenden Freiheitsstrafe, und zwar grundsätzlich unabhängig davon, ob diese bedingt, teilbedingt oder unbedingt ausgesprochen wurde oder noch wird. Solange die maximale Dauer des Freiheitsentzugs bei einem nicht rechtskräftigen unterinstanzlichen Strafurteil, jedenfalls wenn das Urteil wie hier von der Staatsanwaltschaft angefochten wird, noch nicht feststeht, rechtfertigt es sich nicht, vom Dahinfallen des Hafttitels auszugehen, sofern die konkreten Umstände des Einzelfalles nicht etwas anderes gebieten. Die Berücksichtigung der mutmasslichen Dauer des Freiheitsentzugs ist in erster Linie bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Haft und nicht bei der Frage, ob dafür ein genügender Rechtstitel vorliegt, wesentlich. Besondere Umstände, die allenfalls für eine Ausnahme sprächen, sind im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Da der Beschwerdeführer erst etwas mehr als die Hälfte der insgesamt erstinstanzlich ausgesprochenen Freiheitsstrafe von drei Jahren abgesessen hat, ist der Hafttitel nicht weggefallen, weil die maximale Dauer des Freiheitsentzugs bereits erreicht wäre.
 
2.5 Die Vorinstanz behandelte die Eingabe des Beschwerdeführers mithin zu Recht als Haftentlassungsgesuch. Darin liegt weder ein Verstoss gegen die Strafprozessordnung noch gegen die Verfassung. Schon gar nicht erweist sich der angefochtene Entscheid insofern als stossend oder aus einem anderen Grund willkürlich. Im Übrigen bestreitet der Beschwerdeführer das Vorliegen der mit der angefochtenen Verfügung vom 18. März 2013 geprüften weiteren Voraussetzungen des vorzeitigen Strafvollzugs nicht, weshalb darauf nicht einzugehen ist. Nur der Ergänzung halber ist insoweit festzuhalten, dass insbesondere die Erwägungen zur Fluchtgefahr, angesichts der persönlichen Situation des Beschwerdeführers, sowie zur Verhältnismässigkeit der Haft, angesichts der bereits dargestellten zeitlichen Verhältnisse und mit Blick auf die auf den 24. und 25. Juni 2013 angesetzte Berufungsverhandlung, nachvollziehbar erscheinen und jedenfalls nicht auf eine Verletzung von Bundesrecht hinweisen.
 
2.6 Ist die Haft nicht zu beanstanden, ist auch den Forderungen des Beschwerdeführers auf Schadenersatz und Genugtuung wegen Überhaft von vornherein die Grundlage entzogen. Damit kann offen bleiben, ob diesen überhaupt im vorliegenden Verfahren hätte stattgegeben werden können bzw. wie gegebenenfalls damit zu verfahren gewesen wäre.
 
2.7 Der angefochtene Entscheid verstösst demnach nicht gegen Bundesrecht unter Einschluss des Grundrechts auf persönliche Freiheit nach Art. 10 BV sowie des Willkürverbots gemäss Art. 9 BV.
 
3.
 
3.1 Die Beschwerde erweist sich als unbegründet und ist abzuweisen.
 
3.2 Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um Erteilung der aufschiebenden Wirkung gegenstandslos.
 
3.3 Dem unterliegenden bedürftigen Beschwerdeführer, dessen Begehren nicht von vornherein aussichtslos erscheint, ist antragsgemäss für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu bewilligen. Demnach sind keine Kosten zu erheben, und es ist seinem Rechtsvertreter eine angemessene Entschädigung aus der Bundesgerichtskasse auszurichten (Art. 64 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen und es wird dem Beschwerdeführer Advokat Patrick Frey als unentgeltlicher Rechtsbeistand beigegeben.
 
3.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
4.
 
Advokat Patrick Frey wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'000.-- ausgerichtet.
 
5.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Strafrecht, schriftlich mitgeteilt. Gleichzeitig wird den beiden Strafverfolgungsbehörden die Eingabe des Beschwerdeführers vom 15. Mai 2013 (act. 13) zur Kenntnisnahme zugestellt.
 
Lausanne, 17. Mai 2013
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Fonjallaz
 
Der Gerichtsschreiber: Uebersax
 
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