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Informationen zum Dokument  BGer 1C_614/2012  Materielle Begründung
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BGer 1C_614/2012 vom 22.05.2013
 
{T 0/2}
 
1C_614/2012
 
 
Urteil vom 22. Mai 2013
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Aemisegger, Merkli, Karlen, Eusebio,
 
Gerichtsschreiberin Gerber.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
1. A.________,
 
2. B.________,
 
3. C.________,
 
4. D.________,
 
5. E.________,
 
6. F.________,
 
7. G.________,
 
8. H.________,
 
9. I.________,
 
10. J.________,
 
11. K.________,
 
12. L.________,
 
Beschwerdeführer, alle vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Christian Schreiber,
 
gegen
 
M.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Marco Toller,
 
Gemeinde Davos, Berglistutz 1, 7270 Davos Platz,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Otmar Bänziger.
 
Gegenstand
 
Baueinsprache, Zweitwohnungsbau,
 
Beschwerde gegen das Urteil vom 23. Oktober 2012 des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden, 5. Kammer.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Am 14. Dezember 2011 reichte M.________ ein Gesuch für den Abbruch der Gebäude Nr. 283 und Nr. 283A und den Neubau der Mehrfamilienhäuser A und B mit Unterstand für sechs Autoeinstellplätze auf der Parzelle Nr. 4886 in der Feriensiedlung Solaria, Davos, ein.
1
B. Dagegen gelangten die Einsprecher am 15. Mai 2012 an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. Sie rügten die Verletzung verschiedener Bestimmungen des kommunalen und kantonalen Baurechts. Überdies beriefen sie sich auf den in der Volksabstimmung vom 11. März 2012 angenommenen Art. 75b BV. Da der Zweitwohnungsanteil in Davos bereits im Jahre 2000 bei 38.5% gelegen habe, widersprächen die Baubewilligungen offensichtlich dem Zweck des Verfassungsartikels.
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Am 23. Oktober 2012 wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat: Die Bauvorhaben entsprächen den kommunalen und kantonalen Bauvorschriften. Die am 11. März 2012 in Kraft getretene neue Verfassungsbestimmung über Zweitwohnungen (Art. 75b BV) sei kraft seiner Übergangsbestimmung (Art. 197 Ziff. 9 BV) erst auf Baubewilligungen anwendbar, die ab dem 1. Januar 2013 erteilt würden.
3
C. Gegen den verwaltungsgerichtlichen Entscheid haben A.________ und Mitbeteiligte am 5. Dezember 2012 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht erhoben. Sie beantragen, der angefochtene Entscheid sowie die Baubewilligungs- und Einspracheentscheide vom 10./13. April 2012 seien aufzuheben. Eventualiter sei die Streitsache zu erneuter Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
4
D. Das Verwaltungsgericht, die Gemeinde Davos und die Beschwerdegegnerin beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
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E. Mit Verfügung vom 21. Dezember 2012 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
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F. Am 22. Mai 2013 hat das Bundesgericht in öffentlicher Sitzung über die Beschwerde beraten.
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Erwägungen:
 
1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid über die Bewilligung von zwei Mehrfamilienhäusern. Dagegen steht grundsätzlich die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten offen (Art. 82 lit. a, 86 Abs. 1 lit. d und 90 BGG). Die Beschwerdeführer haben am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und sind als Nachbarn zur Beschwerde legitimiert (Art. 89 Abs. 1 BGG). Auf die rechtzeitig erhobene Beschwerde ist daher einzutreten.
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2. Die Beschwerdeführer rügen in erster Linie die Verletzung von Art. 75b BV.
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2.1. Sie machen geltend, dieser Artikel verbiete seit dem 11. März 2012 die Errichtung neuer Zweitwohnungen in Gemeinden wie Davos, in denen der Zweitwohnungsanteil mehr als 20 % betrage. Sinn und Zweck der Übergangsbestimmungen (Art. 197 Ziff. 9 BV) sei es, Bundesrat und Parlament dazu anzuhalten, sofort nach Annahme der Initiative die Ausführungsgesetzgebung zu unklaren Punkten zu erlassen. Dagegen sei auch ohne Ausführungsgesetzgebung klar, dass in Gemeinden mit über 20% Zweitwohnungen keine neuen Zweitwohnungen mehr bewilligt werden dürften. Dieses Verbot gelte seit dem Inkrafttreten der neuen Verfassungsbestimmung am 11. März 2012; eine Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 2012 würde dem Ziel der Initiative, dem uferlosen Zweitwohnungsbau Einhalt zu gebieten, diametral entgegenstehen.
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2.2. Die Beschwerdegegnerin und die Gemeinde Davos sind mit dem Verwaltungsgericht der Auffassung, dass Art. 75b Abs. 1 und Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV erst ab dem 1. Januar 2013 anwendbar seien. Hinzu komme, dass das Baugesuch schon am 14. Dezember 2011 eingereicht worden sei, d.h. rund drei Monate vor Annahme der Initiative. Vorausgegangen seien aufwendige und kostspielige Projektierungsarbeiten. Im Übrigen habe bis zur ersten Umfrage Anfang 2012 kaum jemand ernsthaft mit der Annahme der Initiative gerechnet. Jedenfalls hätte die Bauherrschaft aufgrund der Übergangsvorschriften davon ausgehen dürfen, dass Baubewilligungen noch bis Ende 2012 erteilt werden könnten.
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3. Das Bundesgericht hat in BGE 139 II 243 (E. 9-11) entschieden, dass Art. 75b Abs. 1 BV seit seinem Inkrafttreten am 11. März 2012 anwendbar ist. Zwar bedarf diese Bestimmung in weiten Teilen der Ausführung durch ein Gesetz. Unmittelbar anwendbar ist sie jedoch insoweit, als sie (in Verbindung mit Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV) ein Baubewilligungsverbot für Zweitwohnungen in allen Gemeinden anordnet, in denen der 20 %-Zweitwohnungsanteil bereits erreicht oder überschritten ist. Damit soll bis zum Inkrafttreten der Ausführungsgesetzgebung verhindert werden, dass die angestrebte Plafonierung von Zweitwohnungen auf 20 % negativ präjudiziert wird. Im Ergebnis kommt dies sinngemäss einer Planungszone für Zweitwohnungen gleich. Sie hat zur Folge, dass Baubewilligungen für Zweitwohnungen, die zwischen dem 11. März 2012 und dem 31. Dezember 2012 in den betroffenen Gemeinden erstinstanzlich erteilt wurden, anfechtbar sind; ab dem 1. Januar 2013 erteilte Baubewilligungen sind nichtig (Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV). Baubewilligungen, die vor dem 11. März 2012 erstinstanzlich erteilt wurden, fallen nicht unter die neuen Verfassungsbestimmungen und bleiben gültig, unabhängig vom Zeitpunkt, in dem sie rechtskräftig geworden sind.
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4. Das ARE hatte in seinem Verordnungsentwurf für die Anhörung vom 18. Juni 2012 folgende Übergangsbestimmung vorgesehen:
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Art. 7 Übergangsbestimmungen
14
1. Baugesuche, die vor dem 11. März 2012 eingereicht worden sind, sind nach dem Recht zu beurteilen, das zur Zeit der Gesuchseinreichung galt.
15
[...]
16
Art. 8 des Verordnungsentwurfs sah als Datum des Inkrafttretens den 1. September 2012 vor.
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4.1. In seinen Erläuterungen zur Umsetzung von Art. 75b BV und zu den Normvorschlägen für die Bundesratsverordnung zu dieser Verfassungsbestimmung (Entwurf für die Anhörung vom 18. Juni 2012, S. 12 f. zu Art. 7 Abs. 1) führte das ARE Folgendes aus:
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4.2. Am 22. August 2012 erliess der Bundesrat die Verordnung über Zweitwohnungen (SR 702). Diese wurde jedoch erst auf den 1. Januar 2013 in Kraft gesetzt und enthält daher keine Übergangsbestimmung für Baubewilligungen, die vor diesem Datum erteilt worden sind. Ab diesem Zeitpunkt erteilte Baubewilligungen sind gemäss Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV nichtig, ohne dass es auf den Zeitpunkt der Einreichung des Baugesuchs ankommt (so auch Art. 8 Abs. 2 Zweitwohnungsverordnung).
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5. In der Literatur wird überwiegend davon ausgegangen, dass Art. 75b Abs. 1 i.V.m. Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV nicht auf Baugesuche anwendbar sei, die vor dem 11. März 2012 eingereicht wurden.
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6. Nach der bundesgerichtlichen Praxis ist die Rechtmässigkeit von Verwaltungsakten (einschliesslich Baubewilligungen) mangels einer anderslautenden übergangsrechtlichen Regelung nach der Rechtslage im Zeitpunkt ihres Ergehens zur beurteilen (BGE 135 II 384 E. 2.3 S. 390; 125 II 591 E. 5e/aa S. 598; je mit Hinweisen). In anderen Urteilen (vor allem zum Sozialversicherungsrecht) findet sich die Formulierung, es seien jene Rechtssätze massgebend, die im Zeitpunkt der Verwirklichung des Sachverhalts bzw. der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 129 V 1 E. 1.2 S. 4 mit Hinweisen).
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Dies entspricht der herrschenden Lehre (Ulrich Häfelin/Georg Müller/ Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl., Rz. 325 ff. S. 70 f.; Pierre Tschannen/Ulrich Zimmerli/Markus Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl., S. 190 f. Rz. 18 ff.). Zwar würde das Prinzip des Vertrauensschutzes dafür sprechen, auf den Zeitpunkt der Gesuchseinreichung abzustellen, doch spreche das öffentliche Interesse an der Anwendung des neuen Rechts dafür, das zur Zeit des erstinstanzlichen Entscheides geltende Recht heranzuziehen ( ALFRED KÖLZ, Intertemporales Verwaltungsrecht, ZSR 102/1983 Bd. II S. 101 ff., insbes. S. 207-215). Die Rechtmässigkeit eines zukünftigen Verhaltens bzw. eines in der Zukunft zu realisierenden Bauvorhabens müsse nach dem Recht beurteilt werden, das im Zeitpunkt der Prüfung, d.h. der Gesuchsbeurteilung, gelte; damit werde auch eine rechtsgleiche Bewilligungspraxis ab Inkrafttreten des neuen Rechts sichergestellt ( PIERRE MOOR/ALEXANDRE FLÜCKIGER/VINCENT MARTENET, Droit administratif, Bd. I, Bern 2012, S. 187).
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7. Eine abweichende übergangsrechtliche Regelung besteht im vorliegenden Fall nicht.
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Wie das Bundesgericht in BGE 139 II 243(E. 11) ausgeführt hat, enthält Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV keine intertemporale Regelung zur Anwendbarkeit von Art. 75b Abs. 1 BV, sondern verschärft lediglich die Rechtsfolge (Nichtigkeit statt Anfechtbarkeit) ab dem 1. Januar 2013. Im Übrigen stellt diese Bestimmung auf den Zeitpunkt der Erteilung der Baubewilligung und nicht der Einreichung des Baugesuchs ab.
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Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass Art. 75b Abs. 1 i.V.m. Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV grundsätzlich anwendbar ist, wenn der erstinstanzliche Entscheid nach dem 11. März 2012 ergangen ist, auch wenn das Baugesuch schon vor diesem Datum eingereicht wurde. Baubewilligungen für Zweitwohnungen in den betroffenen Gemeinden, die nach diesem Datum (aber vor dem 1. Januar 2013) erstinstanzlich erteilt wurden, sind daher anfechtbar. Gleiches gilt, wenn eine (schon vorher erteilte) Baubewilligung zwischen dem 11. März 2012 und dem 1. Januar 2013 im Rechtsmittelverfahren erheblich modifiziert worden ist. Nach dem 1. Januar 2013 erstinstanzlich erteilte (oder im Rechtsmittelverfahren erheblich modifizierte) Baubewilligungen sind gemäss Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV nichtig.
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8. Ein besonderer Vertrauenstatbestand wird vorliegend nicht geltend gemacht und ist auch nicht ersichtlich: Angesichts des kurz bevorstehenden Abstimmungstermins musste die Beschwerdegegnerin damit rechnen, dass ihr Bauvorhaben bei Annahme der Zweitwohnungsinitiative u.U. nicht bewilligt werden könnte.
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8.1. Die Beschwerdegegnerin wendet jedoch ein, dass das Verfahren zweimal sistiert worden sei, um Gutachten über die Auswirkungen des Bauvorhabens auf die Besonnung der Wohnhäuser der Beschwerdeführer einzuholen. Das erste, von der Baubehörde Davos eingeholte Gutachten habe Ende Februar 2012 vorgelegen, das zweite, von den Beschwerdeführern in Auftrag gegebene Gutachten der CSD Ingenieure AG erst am 26. März 2012. Ohne dieses zweite Gutachten (das lediglich die Schlussfolgerungen des ersten Gutachtens bestätigt habe), hätte der Einsprache- und Bauentscheid noch vor dem 11. März 2012 ergehen können. Unter diesen Umständen wäre es stossend, wenn Art. 75b BV auf das Bauvorhaben zur Anwendung käme.
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8.2. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist - vorbehältlich zwingender öffentlicher Interessen (BGE 119 Ib 174 E. 3 S. 177) - auf das alte, der Bauherrschaft günstigere Recht abzustellen, wenn die Baubehörde den Entscheid unnötig verzögert oder ein Nachbar in querulatorischer Weise Verfahrensverzögerungen herbeiführt, um so die Anwendung strengeren Rechts zu erwirken (BGE 112 Ib 39 E. 1c S. 44).
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8.3. Aus den Einsprache- und Baubewilligungsentscheiden der Gemeinde Davos vom 10./13. April 2012 ergibt sich Folgendes:
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8.4. Unter diesen Umständen kann weder den Beschwerdeführern noch der Baubehörde der Vorwurf gemacht werden, das Baubewilligungsverfahren unnötig verzögert zu haben. Vielmehr hat es die Beschwerdegegnerin mit ihrer erst am 13. März 2012 eingereichten Projektänderung zu verantworten, dass die Baubewilligung nicht vor Annahme der Zweitwohnungsinitiative am 11. März 2012 erteilt werden konnte.
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9. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Art. 75b Abs. 1 BV - entgegen der Auffassung der kantonalen Instanzen - auf den vorliegenden Fall anwendbar ist.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 23. Oktober 2012 wird aufgehoben. Die Bewilligung für den Neubau von Haus A und Haus B auf Parzelle Nr. 4886 der Gemeinde Davos wird verweigert.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 4'000.-- für das bundesgerichtliche Verfahren und von Fr. 5'174.-- für das verwaltungsgerichtliche Verfahren werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche und das verwaltungsgerichtliche Verfahren mit insgesamt Fr. 8'000.-- zu entschädigen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, der Gemeinde Davos, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 5. Kammer, und dem Bundesamt für Raumentwicklung schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 22. Mai 2013
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Fonjallaz
 
Die Gerichtsschreiberin: Gerber
 
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