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Informationen zum Dokument  BGer 1C_370/2013  Materielle Begründung
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BGer 1C_370/2013 vom 14.10.2013
 
{T 0/2}
 
1C_370/2013
 
 
Urteil vom 14. Oktober 2013
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Aemisegger, Merkli,
 
Gerichtsschreiber Haag.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Manuela Schiller,
 
gegen
 
Bundesamt für Polizei (fedpol).
 
Gegenstand
 
Ausreisebeschränkung,
 
Beschwerde gegen das Urteil vom 19. Februar 2013
 
des Bundesverwaltungsgerichts, Abteilung III.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
 
B.
 
 
C.
 
 
D.
 
 
E.
 
 
F.
 
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Ein Ausschlussgrund nach Art. 83 BGG liegt nicht vor. Mit der Ausnahme von Art. 83 lit. a BGG sollen Anordnungen mit vorwiegend politischem Charakter von der richterlichen Überprüfung ausgenommen werden (BGE 137 I 371 E. 1.2 S. 373 mit Hinweisen). Bei der Ausreisebeschränkung handelt es sich um eine Sicherheitsmassnahme, deren gesetzliche Grundlage sich auf die Bundeskompetenz für auswärtige Angelegenheiten stützt (vgl. Art. 54 Abs. 1 BV sowie Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit vom 17. August 2005, Botschaft Änderung BWIS 2005, BBl 2005 5638). Dies begründet keine Ausnahme von der Rechtsweggarantie (Art. 29a BV). Die Ausreisebeschränkung ist kein "acte de gouvernement" und eignet sich für eine gerichtliche Prüfung. Es entspricht denn auch dem klaren Willen des Gesetzgebers, dass den von dieser Massnahme Betroffenen die ordentlichen Rechtsmittel offen stehen sollen (Botschaft Änderung BWIS 2005, S. 5626). Auf diese Weise wird sodann der durch Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 12 Abs. 2 des Internationalen Paktes vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte (SR 0.103.2) begründeten Verpflichtung, eine wirksame Beschwerde im Falle einer behaupteten Verletzung der völkerrechtlich garantierten Ausreisefreiheit zu ermöglichen, bestmöglich Rechnung getragen.
1
1.2. Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und ist durch den angefochten Entscheid besonders berührt (Art. 89 Abs. 1 BGG). Weil die umstrittene Verfügung indes nur den Zeitraum vom 6. - 9. Dezember 2010 betraf und der erlittene Nachteil nicht mehr beseitigt werden kann, ist das aktuelle praktische Interesse an deren Aufhebung oder Änderung an sich dahingefallen. Von diesem Erfordernis ist vorliegend allerdings abzusehen. Die mit der Beschwerde aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen können sich unter ähnlichen Umständen wieder stellen, ohne dass im Einzelfall rechtzeitig eine richterliche Prüfung möglich wäre (vgl. BGE 138 II 42 E. 1.3 S. 45; 137 I 23 E. 1.3.1 S. 24 f.; je mit Hinweisen).
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1.3. Nicht einzutreten ist auf den Antrag, es sei auch die Verfügung des Bundesamts für Polizei vom 2. Dezember 2010 aufzuheben. Diese wird durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ersetzt und gilt inhaltlich als mitangefochten (sog. Devolutiveffekt; BGE 134 II 142 E. 1.4 S. 144). Im Übrigen ist auf die rechtzeitig erhobene Beschwerde einzutreten.
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Erwägung 2
 
2.1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig, willkürlich im Sinne von Art. 9 BV ist (BGE 133 II 249 E. 1.2.2 S. 252), oder wenn sie auf einer anderen Verletzung von schweizerischem Recht im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97 Abs. 1 BGG). Die Rüge der offensichtlich unrichtigen Feststellung des Sachverhalts (Art. 105 Abs. 2 BGG) prüft das Bundesgericht unter den in Art. 106 Abs. 2 BGG genannten Bedingungen.
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2.2. Willkür im Sinne von Art. 9 BV liegt nach ständiger Rechtsprechung nur vor, wenn der angefochtene Entscheid auf einer unhaltbaren oder widersprüchlichen Beweiswürdigung beruht, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 137 I 1 E. 2.4 S. 5). Für die Begründung von Willkür genügt es praxisgemäss nicht, dass das angefochtene Urteil mit der Darstellung des Beschwerdeführers nicht übereinstimmt oder eine andere Lösung oder Würdigung vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre (BGE 134 I 140 E. 5.4 S. 148 mit Hinweisen). Auf ungenügend begründete Rügen und bloss allgemein gehaltene, appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 134 II 244 E. 2.2 S. 246 mit Hinweis).
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Erwägung 3
 
 
Erwägung 4
 
4.1. Die Ausreisebeschränkung ist eine präventive verwaltungsrechtliche Massnahme zur Verhinderung von Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen. Sie dient der vorbeugenden Gefahrenabwehr und weist keinen pönalen Charakter auf (vgl. BGE 137 I 31 E. 4.2 S.42; MARKUS MOHLER, Grundzüge des Polizeirechts in der Schweiz, Basel 2012, Rz. 806 ff.).
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4.2. Zur Zeit des Erlasses der angefochtenen Ausreisebeschränkung war ein Rayonverbot betreffend den Beschwerdeführer in Kraft. Zu prüfen ist die Frage, ob das Rayonverbot bestand, weil der Beschwerdeführer sich anlässlich von Sportveranstaltungen nachweislich an Gewalttätigkeiten beteiligt hatte (Art. 24c Abs. 1 lit. a BWIS). In Art. 4 Abs. 2 VVMH wird die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch das Mitführen pyrotechnischer Gegenstände in Sportstätten, in deren Umgebung sowie auf An- und Rückreisewegen zu und von Sportstätten als gewalttätiges Verhalten eingestuft (s. auch Art. 2 Abs. 2 Konkordat; BGE 137 I 31 lit. A S. 33). Das Verbringen pyrotechnischer Gegenstände ins Stadion ist grundsätzlich darauf ausgerichtet, diese dort zu zünden (vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_612/2011 vom 14. Dezember 2011 E. 1.1). Zudem stellt die Zündung eines pyrotechnischen Gegenstandes eine deutliche Gefahr für die Zuschauer dar. Es bestehen trotz entgegenstehender Äusserungen des Beschwerdeführers keine Zweifel, dass das Rayonverbot gestützt auf den in lit. A hiervor geschilderten Sachverhalt und damit aufgrund einer Teilnahme an Gewalttätigkeiten gegen Personen bestand.
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4.3. Weiter ist zu prüfen, ob wegen des Verhaltens des Beschwerdeführers angenommen werden musste, dass er sich anlässlich einer Sportveranstaltung im Bestimmungsland an Gewalttätigkeiten beteiligen würde (Art. 24c Abs. 1 lit. b BWIS). Dass eine Person sich anlässlich einer Sportveranstaltung in einem bestimmten Land an Gewalttätigkeiten beteiligen wird, ist nach Art. 7 Abs. 4 VVMH namentlich anzunehmen, wenn diese Person (a.) sich an Gewalttätigkeiten im Inland beteiligt hat, (b.) aufgrund von Informationen ausländischer Polizeistellen über die Beteiligung an Gewalttätigkeiten im Ausland bereits bekannt ist oder (c.) Mitglied einer Gruppierung ist, die schon an Gewalttätigkeiten im In- oder Ausland beteiligt war. Gemäss Art. 5 Abs. 1 lit. a VVMH können entsprechende Gerichtsurteile oder polizeiliche Anzeigen als Nachweis gewalttätigen Verhaltens gelten.
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4.4. Die St. Galler Stadtpolizei hat im Entscheid betreffend Rayonverbot vom 29. Juli 2010 festgehalten, dass der Beschwerdeführer am 21. März 2010 eine Bengalfackel ins Stadion einzuführen versuchte und sich damit an Gewalttätigkeiten beteiligte. Das Kantonsgericht hat im Verhalten des Beschwerdeführers eine klare Verletzung des Sprengstoffgesetzes gesehen. Zum anderen war das Bundesamt für Polizei von der Kantonspolizei Basel-Stadt informiert worden, dass der Beschwerdeführer als Pyromane bekannt sei, zum harten Kern der Ultragruppierung "Infernos Basel" gehöre, sich immer wieder an Randalen anlässlich von Spielen des FC Basel beteiligt habe und sich auch bei allfälligen Tumulten in München nicht zurückhalten werde.
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Erwägung 5
 
5.1. Die umstrittene Ausreisebeschränkung stellt eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit dar (Art. 10 Abs. 2 BV). Solche Massnahmen müssen auf einer gesetzlichen Grundlagen beruhen (E. 4 hiervor) und die Voraussetzungen des öffentlichen Interesses und des Verhältnismässigkeitsprinzipes erfüllen (Art. 36 Abs. 1 - 3 BV). Im Polizeirecht kommt der Verhältnismässigkeit besonderes Gewicht zu. Dieses Gebot verlangt, dass eine Massnahme für das Erreichen des im öffentlichen oder privaten Interesse liegenden Zieles geeignet und erforderlich ist und sich für die Betroffenen in Anbetracht der Schwere der Grundrechtseinschränkung zumutbar erweist. Nötig ist eine vernünftige Zweck-Mittel-Relation. Eine Massnahme ist unverhältnismässig, wenn das angestrebte Ziel mit einem weniger schweren Grundrechtseingriff erreicht werden kann (BGE 137 I 31 E. 7.5.2 S. 53; 136 I 87 E. 3.2 S. 91; 133 I 77 E. 4.1 S. 81).
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5.2. Mit der Ausreisebeschränkung soll verhindert werden, dass Personen, die im Inland aus Sicherheitsgründen von den Stadien ferngehalten werden, bei Sportanlässen im Ausland Gewalt ausüben können. Dieses Ziel bildet zweifellos ein gewichtiges öffentliches Interesse. Im Vergleich zum privaten Interesse des Beschwerdeführers, an das Fussballspiel in München zu reisen, überwiegt klarerweise das gewichtige öffentliche Interesse an der Verhinderung von Gewalttätigkeiten anlässlich dieser Sportveranstaltung. Die Verfügung des Bundesamts für Polizei ist zeitlich (drei Tage; Art. 7 Abs. 2 VVMH und Art. 24c Abs. 3 BWIS ) und räumlich (Art. 24c Abs. 4 BWIS) begrenzt. Die kurzfristige Ausreisebeschränkung erscheint als für den Beschwerdeführer zumutbare Grundrechtseinschränkung. Ein milderes Mittel ist nicht ersichtlich.
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Erwägung 6
 
6.1. Der Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist ergibt sich für sämtliche Rechtsbereiche und alle Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsbehörden aus Art. 29 Abs. 1 BV (BGE 130 I 174 E. 2.2 S. 177 f.; 130 I 269 E. 2.3 S. 272 f.; 130 I 312 E. 5.1 S. 331 f.) sowie für zivilrechtliche Streitigkeiten ("civil rights") und Strafverfahren aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK (BGE 130 I 269 E. 2 S. 271 ff.). Ob eine Prozessdauer als angemessen zu betrachten ist, muss mit Blick auf die Natur und den Umfang des Rechtsstreits beurteilt werden (BGE 135 I 265 E. 4.4 S. 277 mit Hinweisen). Unter diesem Gesichtspunkt sind der Umfang und die Schwierigkeit des Falles zu gewichten. Sodann ist in Betracht zu ziehen, ob die Behörden und Gerichte oder der Beschwerdeführer durch ihr Verhalten zur Verfahrensverzögerung beigetragen haben (BGE 119 Ib 311 E. 5b S. 325, mit Hinweisen zur Strassburger Rechtsprechung). Als weiteres Kriterium ist die Bedeutung der Angelegenheit für den Betroffenen zu werten (BGE 119 Ib 311 E. 5b S. 325 mit Hinweisen).
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6.2. Die Gesamtdauer des vorinstanzlichen Verfahrens von über 26 Monaten und die Behandlungsdauer von 21 Monaten seit dem Abschluss des Schriftenwechsels bis zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts erscheint als lang. Es liegt sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht keine besondere Schwierigkeit des Falles vor. Der Umstand, dass zur Ausreisebeschränkung nach Art. 24c BWIS noch keine Gerichtspraxis bestand, kann einerseits eine etwas längere Bearbeitungsdauer rechtfertigen, andererseits liegt in einer solchen Situation auch ein erhöhtes Interesse an der Klärung der Rechtslage vor (s. hierzu auch E. 1.2 hiervor). Vor diesem Hintergrund ist insbesondere die Behandlungsdauer des vorinstanzlichen Verfahrens von 21 Monaten seit dem Abschluss des Schriftenwechsels nicht zu rechtfertigen. Dies führt zur teilweisen Gutheissung der Beschwerde wegen Verletzung des Anspruch des Beschwerdeführers auf Beurteilung innert angemessener Frist durch das Bundesverwaltungsgericht. Mit der Feststellung der Verfassungsverletzung im vorliegenden Urteil erfolgt eine Art der Wiedergutmachung (vgl. BGE 129 V 411; Urteil des EGMR 
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Erwägung 7
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. 
 
2. 
 
3. 
 
4. 
 
5. 
 
Lausanne, 14. Oktober 2013
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Fonjallaz
 
Der Gerichtsschreiber: Haag
 
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