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Informationen zum Dokument  BGer 6B_334/2013  Materielle Begründung
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BGer 6B_334/2013 vom 14.11.2013
 
{T 0/2}
 
6B_334/2013; 6B_355/2013
 
 
Urteil vom 14. November 2013
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Schneider, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
Bundesrichter Oberholzer,
 
Gerichtsschreiber Faga.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
6B_355/2013
 
X.________, vertreten durch Advokat Martin Dumas,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
1.  Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, Postfach, 4001 Basel,
 
2. Y.________,
 
Beschwerdegegner.
 
und
 
6B_334/2013
 
Y.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
1.  Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, Postfach, 4001 Basel,
 
2. X.________, vertreten durch Advokat Martin Dumas,
 
Beschwerdegegnerinnen.
 
Gegenstand
 
Mehrfache Veruntreuung usw., Zivilforderung; Teilnahmerecht an Hauptverhandlung, gehörige Verteidigung, Willkür, Unschuldsvermutung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Ausschuss, vom 16. Oktober 2012.
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
 
B.
 
 
Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
Beschwerde von X.________ im Verfahren 6B_355/2013
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Erwägung 2
 
2.1. Die Vorinstanz erwägt, der frühere Verteidiger der Beschwerdeführerin habe die Dispensation von der Hauptverhandlung im erstinstanzlichen Verfahren nie gerügt. Er sei mit der Befreiung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen und mit der Durchführung der Hauptverhandlung einverstanden gewesen. Werde diese Rüge nachträglich im kantonalen Rechtsmittelverfahren erhoben, sei dies treuwidrig, weshalb darauf nicht einzutreten sei.
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2.2. Die Vorinstanz tritt zur Hauptsache aus formellen Gründen auf die Rüge nicht ein. In einer Eventualbegründung kommt sie zum Schluss, dass die in Anwendung von § 120 der früheren Strafprozessordnung des Kantons Basel-Stadt vom 8. Januar 1997 (StPO/BS; SG 257.100; aufgehoben per 1. Januar 2011) erfolgte Entbindung der Beschwerdeführerin von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen auch materiell gerechtfertigt ist. Beruht der angefochtene Entscheid auf einer Haupt- und einer Eventualbegründung, die je für sich den Ausgang der Sache besiegeln, hat der Beschwerdeführer darzulegen, dass jede von ihnen Recht verletzt. Andernfalls kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden (BGE 133 IV 119 E. 6 S. 120 f. mit Hinweisen). Die Beschwerdeführerin setzt sich mit den vorinstanzlichen Erwägungen nur teilweise auseinander, da sie lediglich die Eventualbegründung anficht. Auf die Hauptbegründung, wonach die Rüge erst vor Vorinstanz erhoben worden sei und deshalb darauf nicht eingetreten werden könne, geht sie nicht ein. Ihr Vorbringen genügt den Begründungsanforderungen von Art. 42 Abs. 2 BGG nicht. Das Bundesgericht muss sich mit der Eventualbegründung und den entsprechenden Ausführungen in der Beschwerde nicht befassen.
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Erwägung 3
 
3.1. Die Beschwerdeführerin bringt vor, sie sei ohne entsprechendes Begehren und ohne medizinische Abklärungen auch von der zweitinstanzlichen Verhandlung dispensiert worden. Dies sei zu einem Zeitpunkt erfolgt, als ihr früherer Verteidiger sein Mandat bereits niedergelegt hatte. Dadurch habe die Vorinstanz Art. 31 BV, Art. 6 EMRK und Art. 14 UNO Pakt II verletzt (Beschwerde S. 10 f.).
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3.2. Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 EMRK und ausdrücklich Art. 14 Abs. 3 lit. d UNO-Pakt II (SR 0.103.2) garantieren dem Beschuldigten das Recht, an der gegen ihn geführten Hauptverhandlung teilzunehmen. Das Recht auf persönliche Teilnahme an der Verhandlung gilt indessen nicht absolut. Macht der Beschuldigte von seinem Teilnahmerecht keinen Gebrauch - etwa indem er der gehörigen Vorladung keine Folge leistet oder sich schuldhaft in einen Zustand versetzt, in dem er nicht verhandlungsfähig ist - sind Abwesenheitsverfahren zulässig, wobei dem Verurteilten grundsätzlich das Recht zusteht, eine Neubeurteilung zu verlangen. Für die Wahrung der verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien und damit für die Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist indessen entscheidend, dass der Beschuldigte effektiv die Möglichkeit hatte, an der gerichtlichen Hauptverhandlung teilzunehmen. Mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 2 BV ist es jedoch vereinbar, wenn eine Neubeurteilung abgelehnt wird, weil der in Abwesenheit Verurteilte sich geweigert hat, an der Verhandlung teilzunehmen oder er die Unmöglichkeit, dies zu tun, selbst verschuldet hat (BGE 129 II 56 E. 6.2 S. 59 f.; Urteil 6B_29/2008 vom 10. September 2008 E. 1.2, in: Pra 2009 Nr. 26 S. 145; je mit Hinweisen; vgl. auch WOLFGANG PEUKERT, in: Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, N. 161 zu Art. 6 EMRK).
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3.3. Die in der Beschwerde angerufenen Bestimmungen sind teilweise nicht einschlägig (Art. 31 BV) und im Übrigen (Art. 6 EMRK und Art. 14 UNO Pakt II) nicht verletzt. Die Beschwerdeführerin und ihr Verteidiger hatten effektiv die Möglichkeit, an der vorinstanzlichen Hauptverhandlung teilzunehmen, und nahmen diese auch wahr (vgl. vorinstanzliches Verhandlungsprotokoll S. 2, pag. 1899). Inwiefern die Beschwerdeführerin durch die (wie behauptet zu Unrecht erfolgte) Dispensation in Bezug auf die Hauptverhandlung benachteiligt wurde, ist nicht ersichtlich. Ihr Recht auf persönliche Teilnahme respektive die genannten verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien wurden gewahrt. Die Beschwerdeführerin bringt in diesem Zusammenhang zudem vor, die Vorinstanz habe ihr "rund zwei Jahre keinen Verteidiger zur Seite gestellt. Die ohne Verteidiger erfolgten Aussagen bzw. Verfahrenshandlungen sind damit als nicht geschehen zu betrachten". Auf diese Rüge braucht nicht näher eingegangen zu werden. Der frühere Verteidiger, Rechtsanwalt B.________, teilte der Vorinstanz am 9. Dezember 2010 die Beendigung des Mandatsverhältnisses mit. Am 23. Juni 2012 beauftragte die Beschwerdeführerin Advokat Martin Dumas mit der Vertretung. Welche konkreten Aussagen oder Verfahrenshandlungen nach dem Dafürhalten der Beschwerdeführerin ungültig sein sollten, wird in der Beschwerde nicht dargelegt. Dies wäre jedoch an der Beschwerdeführerin gelegen. Die Beschwerde genügt den Begründungsanforderungen von Art. 106 Abs. 2 BGG nicht.
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4. 
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4.1. Die Beschwerdeführerin wendet ein, ihr früherer Rechtsanwalt habe am 8. Januar 2010 dem erstinstanzlichen Gericht mitgeteilt, dass er sie nicht mehr vertrete. Der neue Verteidiger, Rechtsanwalt B.________, habe gleichentags die Akten gesichtet und bis zur Hauptverhandlung (ab 13. Januar 2010) nur wenige Tage Zeit für die Vorbereitung gehabt. Dieser habe vor Schranken keine Verschiebung der Hauptverhandlung beantragt, was deutlich zeige, dass er mit der kurzfristigen Mandatsübernahme überfordert und eine genügende Vorbereitung und Verteidigung nicht möglich gewesen sei. Die erste Instanz, welche mit Blick auf die verfügte Dispensation von einer notwendigen Verteidigung im Sinne von § 14 aStPO/BS ausgehe, hätte die Verhandlung verschieben bzw. das Verfahren sistieren müssen. Sie verletze Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 Abs. 3 EMRK (Beschwerde S. 11 ff.).
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4.2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts müssen der amtliche wie der private Verteidiger die Interessen der Beschuldigten in ausreichender und wirksamer Weise wahrnehmen und die Notwendigkeit prozessualer Massnahmen im Interesse der Beschuldigten sachgerecht und kritisch abwägen. Der Beschuldigte hat Anspruch auf eine sachkundige, engagierte und effektive Wahrnehmung seiner Parteiinteressen (BGE 126 I 194 E. 3d S. 198; 124 I 185 E. 3b S. 189 f.; 120 Ia 48 E. 2b/bb S. 51).
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4.3. Die Beschwerdeführerin zeigt keine groben Pflichtverletzungen ihres früheren Vertreters auf. Diesem kam bei der Führung der Verteidigung und der Bestimmung der Verteidigungsstrategie ein erhebliches Ermessen zu. Mithin lag es unter anderem in seiner Einschätzung, ob er ein Gesuch um Verschiebung der Hauptverhandlung zu deponieren gedachte oder nicht. Nach der Auffassung der Vorinstanz stand dem Verteidiger eine knappe, aber genügende Vorbereitungszeit zur Verfügung und hat er seine Aufgabe wirksam wahrgenommen. Die Vorinstanz unterstreicht, dass er anlässlich der Verhandlung Ergänzungsfragen stellte, die von seiner Sach- und Aktenkunde zeugten. Im Parteivortrag warf er zudem verschiedene formelle Fragen auf und in materieller Hinsicht war seine Verteidigungsstrategie sachgerecht. Dieser Einschätzung kann mit Blick auf das Verhandlungsprotokoll gefolgt werden. Massgebend ist, ob die Interessen der Beschwerdeführerin im Einzelfall tatsächlich sachkundig und effektiv wahrgenommen wurden. Deshalb vermag deren Argumentation, Rechtsanwalt B.________ sei entgegen der vorinstanzlichen Annahme weder ein erfahrener noch ein freiberuflich tätiger Anwalt gewesen, von vornherein keine Pflichtverletzung aufzuzeigen. Gleiches gilt, soweit sie in pauschaler, nicht substanziierter Weise auf die Mehrfach-Verteidigungsmandate hinweist (vgl. dazu Urteil 1B_611/2012 vom 29. Januar 2013 E. 2.2 mit Hinweisen). Inwiefern die Interessen der Beschwerdeführerin anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung nicht gewahrt wurden und sie nicht wirksam verteidigt war, wird weder in der Beschwerde aufgezeigt, noch ist solches erkennbar.
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Erwägung 5
 
5.1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG; vgl. auch Art. 105 Abs. 2 BGG). Offensichtlich unrichtig im Sinne von Art. 97 Abs. 1 BGG ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (BGE 137 III 226 E. 4.2 S. 234 mit Hinweisen; vgl. zum Begriff der Willkür BGE 138 I 49 E. 7.1 S. 51; 136 III 552 E. 4.2 S. 560; je mit Hinweisen).
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5.2. In Bezug auf die Schuldsprüche der Veruntreuung (Anklageschrift Ziffer II.3.), des mehrfachen Betrugs (Ziffer II.2.) und der mehrfachen Urkundenfälschung (Ziffern II.2. und II.5.) begnügt sich die Beschwerdeführerin damit, ihre Ausführungen vor Vorinstanz wörtlich zu wiederholen (Beschwerde S. 14 f. und 19 ff.). Was sie ergänzend festhält (zur verfälschten Bewilligung des Sanitätsdepartements), macht deutlich, dass sie ihre Argumentation im kantonalen Verfahren wiedergibt und sich mit den vorinstanzlichen Erwägungen nicht argumentativ auseinandersetzt. Auf diese appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid, welche den Begründungsanforderungen gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG nicht genügt, muss nicht näher eingegangen werden.
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Erwägung 6
 
Beschwerde von Y.________ im Verfahren 6B_334/2013
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7. 
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7.1. Die Vorinstanz bemisst den Schadenersatzanspruch von Y.________ (Beschwerdeführer) gegen X.________ (Beschwerdegegnerin) auf Fr. 748'704.60. Der Beschwerdeführer behauptet, die Beschwerdegegnerin habe seine Blankounterschrift missbraucht. Sie habe eine Quittung über Fr. 195'000.-- erstellt, obwohl er diesen Betrag nie von ihr erhalten habe. Aufgrund dieser Blankettfälschung sei sein Schadenersatzanspruch entsprechend höher festzusetzen. Dieser sei zudem mit 5 % seit 1. Januar 2001 zu verzinsen.
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7.2. Zur Beschwerde in Strafsachen ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (lit. a) und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (lit. b). Da der angefochtene Entscheid nach dem 31. Dezember 2010 datiert, beurteilt sich die Frage des rechtlich geschützten Interesses nach der am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Fassung von Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG (Art. 132 Abs. 1 BGG). Danach wird der Privatklägerschaft ein rechtlich geschütztes Interesse zuerkannt, wenn der angefochtene Entscheid sich auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche auswirken kann (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG). Der Beschwerdeführer hat am kantonalen Verfahren teilgenommen und gegenüber der Beschwerdegegnerin Zivilansprüche geltend gemacht. Auf seine Beschwerde vom 24. März 2013 und 1. April 2013 kann grundsätzlich eingetreten werden.
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7.3. Bei der Berechnung der durch die Beschwerdegegnerin veruntreuten Vermögenswerte berücksichtigt die Vorinstanz entlastend eine vom Beschwerdeführer unterzeichnete Quittung. Die Vorinstanz stellt fest, dass die Beschwerdegegnerin dem Beschwerdeführer einen Barbetrag von Fr. 195'000.-- übergab (und damit nicht veruntreute). Der Beschwerdeführer, der in seiner Beschwerde eine mittels Blankettfälschung errichtete Quittung über Fr. 195'000.-- erwähnt, ohne dies näher auszuführen und ohne sich auf den vorinstanzlichen Entscheid zu beziehen, stellt (soweit erkennbar) die besagte Geldübergabe in Abrede. Damit entfernt er sich in unzulässiger Weise vom verbindlichen Sachverhalt der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 BGG). Eine willkürliche Beweiswürdigung (Art. 9 BV) macht er nicht geltend.
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7.4. Ebenso wenig ist auf die Beschwerde einzutreten, soweit der Beschwerdeführer eine Verzinsung seines Schadenersatzanspruchs ab 1. Januar 2001 beantragt. Er klagte im kantonalen Verfahren adhäsionsweise eine Schadenersatzforderung im Betrag von rund Fr. 1.3 Mio. ohne Zins ein. Neue Begehren sind im Beschwerdeverfahren unzulässig (Art. 99 Abs. 2 BGG).
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Kostenfolgen
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Erwägung 8
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Verfahren 6B_334/2013 und 6B_355/2013 werden vereinigt.
 
2. Die Beschwerde 6B_355/2013 wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
3. Auf die Beschwerde 6B_334/2013 wird nicht eingetreten.
 
4. Das Gesuch von X.________ um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.
 
5. Die Gerichtskosten werden im Umfang von Fr. 1'600.-- X.________ und im Umfang von Fr. 2'000.-- Y.________ auferlegt.
 
6. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Ausschuss, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 14. November 2013
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Schneider
 
Der Gerichtsschreiber: Faga
 
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