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Informationen zum Dokument  BGer 9C_696/2013  Materielle Begründung
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BGer 9C_696/2013 vom 12.12.2013
 
{T 0/2}
 
9C_696/2013
 
 
Urteil vom 12. Dezember 2013
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Kernen, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Pfiffner, Glanzmann,
 
Gerichtsschreiber Fessler.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
S.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Simone Tschopp,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 27. August 2013.
 
 
Sachverhalt:
 
A. S.________, von Beruf selbständiger Landwirt, meldete sich im Februar 2011 bei der Invalidenversicherung an und beantragte u.a. eine Rente. Die IV-Stelle Bern klärte die für die Anspruchsprüfung relevanten Verhältnisse ab. Zu diesem Zweck holte sie insbesondere den Abklärungsbericht Landwirtschaft vom 31. Mai 2012 ein. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren verneinte sie mit Verfügung vom 15. November 2012 einen Rentenanspruch (Invaliditätsgrad: 34 %).
1
B. Die Beschwerde des S.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 27. August 2013 ab.
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C. S.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 27. August 2013 sei aufzuheben und ihm ab 24. Dezember 2011 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen; eventualiter sei die Sache an das kantonale Verwaltungsgericht, allenfalls an die IV-Stelle, zu neuer Beurteilung zurückzuweisen.
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Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Kantonales Verwaltungsgericht und Bundesamt für Sozialversicherungen haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
4
 
Erwägungen:
 
1. Der Beschwerdeführer bestreitet den Beweiswert des Abklärungsberichts Landwirtschaft vom 31. Mai 2012, auf den Vorinstanz und Beschwerdegegnerin für die Ermittlung des Invaliditätsgrades durch Einkommensvergleich nach dem ausserordentlichen Bemessungsverfahren (erwerblich gewichteter Betätigungsvergleich; Art. 16 ATSG in Verbindung mit Art. 28a Abs. 1 IVG; BGE 128 V 29) abgestellt haben. Der Bericht gebe seine von der Abklärungsperson abweichende Meinung betreffend die Bewertung der Hauptarbeiten nicht wieder und sage nicht, wie die Unterschiede zu erklären seien.
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Die Tatsache allein, dass die unterschiedliche Auffassung des Beschwerdeführers anlässlich der Abklärung vor Ort am 18. April 2012, insbesondere in Bezug auf die Einschränkungen beim Mähen mit dem Motormäher und beim Bedienen des Traktors, im Abklärungsbericht nicht erwähnt wurde, vermag dessen Beweiswert nicht entscheidend zu mindern. Der Abklärungsdienst hat sowohl im Vorbescheidverfahren als auch im vorinstanzlichen Verfahren zu den Einwendungen gegen die Berechnung des Arbeitsaufwandes sowie die Einschätzung der funktionellen Leistungsfähigkeit in den Hauptarbeiten Stellung genommen, was die Vorinstanz mitberücksichtigt hat; solche Angaben weisen zudem wie allgemein Arbeitsunfähigkeitsschätzungen oder Zumutbarkeitsfragen immer auch Ermessenszüge auf (vgl. Urteil 9C_ 937/2012 vom 22. April 2013 E. 4.1). Die Vorbringen in der Beschwerde sind jedenfalls nicht geeignet, die Feststellung der Vorinstanz, der detaillierte, in Kenntnis der konkreten Betriebsverhältnisse verfasste Abklärungsbericht enthalte keine klar ersichtlichen Fehleinschätzungen, als offensichtlich unrichtig erscheinen zu lassen. Der Abklärungsbericht Landwirtschaft vom 31. Mai 2012 (samt den Stellungnahmen vom 15. Oktober 2012 und 21. Februar 2013) stellt somit eine taugliche Grundlage für die Ermittlung des Invaliditätsgrades dar. Der vorinstanzliche Verzicht auf den beantragten Augenschein verletzt weder den Untersuchungsgrundsatz noch den Grundsatz freier (antizipierender) Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG).
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2. Weiter rügt der Beschwerdeführer, die vorinstanzliche Auffassung, wonach eine Pflicht seines Sohnes bestehe, seine gesundheitlich bedingt verminderte Leistungsfähigkeit unentgeltlich auszugleichen, beruhe auf einem falschen Rechtsverständnis und verletze dessen persönliche Freiheit und Wirtschaftsfreiheit, ohne dass eine genügende gesetzliche Grundlage hierfür bestände. Dessen Mehrarbeit sei sinngemäss wie eine familienexterne Arbeitskraft bei der Invaliditätsbemessung als (zusätzliche) behinderungsbedingte Einkommenseinbusse zu betrachten. Zur Stützung seiner Vorbringen hat der Beschwerdeführer neue Unterlagen eingereicht, u.a. die Steuererklärungen seines Sohnes für 2010 und 2011. Nachdem erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gegeben hat (Art. 99 Abs. 1 BGG; Urteil 4A_223/2007 vom 30. August 2007 E. 3.2 in fine), wie er einlässlich begründet, können sie berücksichtigt werden.
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2.1. Nach Art. 25 Abs. 2 IVV sind die beiden massgebenden Erwerbseinkommen eines invaliden Selbständigerwerbenden, der zusammen mit Familiengliedern einen Betrieb bewirtschaftet, auf Grund seiner Mitarbeit im Betrieb zu bestimmen. Die Abteilung Abklärungen der Beschwerdegegnerin ermittelte ein Einkommen aus dem Landwirtschaftsbetrieb von insgesamt Fr. 55'885.-. Den ohne Behinderung auf den Beschwerdeführer entfallenden Anteil setzte sie, ausgehend von 3'000 Arbeitsstunden im Jahr und einem Verdienst pro Arbeitsstunde von Fr. 10.05, auf Fr. 30'154.- fest. Die restlichen Fr. 25'731.-, entsprechend 2'560 Arbeitsstunden im Jahr, entfielen auf die mitarbeitenden Familienmitglieder, d.h. auf den (ältesten) Sohn und auf die Ehefrau, deren Einsatz sich jedoch auf die Mithilfe bei Arbeitsspitzen (Heuen, Emden) beschränkte. Bei gesundheitlich bedingt noch zumutbaren 1'970 Arbeitsstunden errechnete der Abklärungsdienst für den Beschwerdeführer einen Verdienst mit Behinderung von Fr. 19'801.- (1970 x Fr. 10.05). Daraus ergab sich ein Invaliditätsgrad von 34 % ([Fr. 30'154.- ./. Fr. 19'801.-]/Fr. 30'154.- x 100 %). Die erwähnten Angaben zu den Arbeitsstunden und zum Einkommen sowie deren Verteilung auf den Beschwerdeführer und die übrigen Familienmitglieder, insbesondere den im Landwirtschaftsbetrieb mitarbeitenden Sohn, sind unbestritten.
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2.2. Das kantonale Gericht hat die Nichtberücksichtigung der Kosten für eine familienfremde Arbeitskraft (abzuziehen vom Einkommen mit Behinderung) damit begründet, die verminderte Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers werde nicht durch eine solche kompensiert, sondern unstrittig unentgeltlich durch die Familie, insbesondere den Sohn, aufgefangen. Es fehlten Anhaltspunkte dafür, dass die vom Versicherten und seiner Familie nach eigenen Angaben getroffene Lösung langfristig nicht möglich und zumutbar wäre, zumal der Betrieb in den nächsten Jahren so oder anders auf den Sohn übergehen solle. Die Aufgabenverschiebung führe auch nicht zu einer Einkommenseinbusse des Sohnes im sonstigen Erwerb, sondern lediglich entsprechend der grösseren Anzahl Arbeitsstunden zu einem höheren Anteil am Einkommen aus dem Landwirtschaftsbetrieb. Somit habe die Beschwerdegegnerin zu Recht das Invalideneinkommen nicht zusätzlich um die Lohnkosten für eine externe Arbeitskraft reduziert.
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Erwägung 2.3
 
2.3.1. Wie die Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich festgestellt hat, wird die gesamte Mehrarbeit im Landwirtschaftsbetrieb infolge der gesundheitlich bedingt eingeschränkten Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers unentgeltlich von dessen Sohn erbracht. Jedoch findet die Annahme, dieser erleide keine Einkommenseinbusse im sonstigen Erwerb, keine Stütze in den Akten. Gemäss den in diesem Verfahren eingereichten Steuererklärungen 2010 und 2011 erzielte der Sohn Einkünfte aus Nebenerwerb von Fr. 17'800.- (2010) und Fr. 7'576.- (2011), was einem Minderverdienst von 10'224.- entspricht. Soweit diese Abnahme auf die Mehrarbeit auf dem elterlichen Hof zurückzuführen ist - ein anderer Grund, z.B. eine tiefere Entlöhnung, ist weder aktenkundig noch behauptet -, wird sie indessen durch den höheren Anteil am Gesamteinkommen aus dem Landwirtschaftsbetrieb kompensiert. Der Sohn muss rund 1'000 Arbeitsstunden mehr leisten, was bei einem vom Abklärungsdienst angenommenen Stundenlohn von Fr. 10.05 einem zusätzlichen Einkommen von Fr. 10'050.- entspricht (vorne E. 2.1). In den Steuererklärungen 2010 und 2011 gab der Sohn zwar Einkünfte aus Haupterwerb von Fr. 23'650.- bzw. Fr. 22'870.- an, was darauf hindeutet, dass er tatsächlich für seine Mehrarbeit nicht entschädigt wurde. Der Beschwerdeführer macht jedoch nicht geltend, er wäre dazu nicht in der Lage gewesen. Somit erleidet der Sohn insgesamt keine Erwerbseinbusse, wie die Vorinstanz im Ergebnis richtig festgestellt hat.
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2.3.2. Unter dem Titel der Schadenminderungspflicht kann vom Sohn grundsätzlich verlangt werden, dass er Arbeiten übernimmt, die sein Vater gesundheitlich bedingt nicht mehr selber ausführen kann. Die im Rahmen der Invaliditätsbemessung zu berücksichtigende Mithilfe von Familienangehörigen geht weiter als die ohne Gesundheitsschädigung üblicherweise zu erwartende Unterstützung. Geht es um die Mitarbeit von Familienangehörigen ist danach zu fragen, wie sich eine vernünftige Familiengemeinschaft einrichten würde, wenn keine Versicherungsleistungen zu erwarten wären. Die Mithilfe darf aber nicht zu einer unverhältnismässigen Belastung führen (vgl. BGE 133 V 504   E. 4.2 S. 509).
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Der Sohn leistete vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung seines Vaters rund 2'350 Arbeitsstunden im Landwirtschaftsbetrieb und war - bei Annahme eines Stundenlohnes von Fr. 25.- - rund 700 Stunden (Fr. 17'800.-/Fr. 25.-) auswärts tätig. Wegen der gesundheitlich bedingt reduzierten Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Vaters fallen zusätzlich 1'000 Arbeitsstunden an, was insgesamt rund 3'350 Stunden Hofarbeit im Jahr ergibt (vorne E. 2.1 und 2.3.1). Das sind zwar 350 Stunden mehr als das Arbeitspensum, welches sein Vater selber als Gesunder geleistet hatte. Diese - immerhin mit Fr. 10.05 entlöhnte - Mehrarbeit ist ihm jedoch grundsätzlich zumutbar in Anbetracht seines Alters und des Umstandes, dass er - nach unbestrittener Feststellung der Vorinstanz - in absehbarer Zeit den Hof übernehmen wird. Dazu kommt, dass es sich, wie das kantonale Gericht ebenfalls verbindlich festgestellt hat, auch um körperlich wenig strenge Arbeit handelt. Umgekehrt liegt auf der Hand, dass als Folge dieser zeitlichen Mehrbelastung selbst die zusätzliche - bereits eingeschränkte (vgl. E. 2.3.1) - Ausübung einer Nebenerwerbstätigkeit insgesamt zu einer übermässigen Belastung führt. Wohl darf vom Sohn verlangt werden, seine Nebenerwerbstätigkeit zu Gunsten der Arbeit im Landwirtschaftsbetrieb seines Vaters, welche seinen Haupterwerb darstellt, zu reduzieren, zumal er dies ohnehin nach Übernahme des Hofes wird tun müssen; etwas Gegenteiliges wird jedenfalls nicht geltend gemacht. Indes darf es ihm - solange er noch nicht "Herr des Hauses" ist - nicht übermässig erschwert oder gar verunmöglicht werden, weiterhin in einem bestimmten Umfang auswärts zu arbeiten und einen Zusatzverdienst zu erzielen. Um dies zu garantieren, ist daher ein Teil der zu leistenden 1'000 Mehrstunden als unverhältnismässige Mehrbelastung zu betrachten und insoweit die invaliditätsbedingte Notwendigkeit einer familienexternen Arbeitskraft zu bejahen. In Würdigung aller Umstände ist von einem zeitlichen Bedarf von 350 Arbeitsstunden im Jahr auszugehen.
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2.3.3. Die Beschwerdegegnerin wird - unter Beizug ihres Abklärungsdienstes - den Lohn, der für die anzustellende Person zu bezahlen ist, zu ermitteln haben. Dabei sind die Anforderungen in qualitativer Hinsicht wie auch saisonale Gesichtspunkte zu berücksichtigen, nach Massgabe der "Lohnrichtlinie für familienfremde Arbeitnehmende in der Schweizer Landwirtschaft inklusive landw. Hauswirtschaft 2011" des Schweizerischen Bauernverbandes, des Schweiz. Bäuerinnen- und Landfrauenverbandes und der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Berufsverbände landwirtschaftlicher Angestellter sowie in Berücksichtigung des Normalarbeitsvertrages für die Landwirtschaft (NAV Landwirtschaft) vom 24. Oktober 2007 (BSG 222.153.21). Die entsprechenden (Gestehungs-) Kosten sind vom Einkommen mit Behinderung von Fr. 19'801.- (vorne E. 2.1) in Abzug zu bringen (RKUV 2004 Nr. U 511 S. 277, U 107/03 E. 2.4).
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3. Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
14
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 27. August 2013 und die Verfügung der Beschwerdegegnerin vom 15. November 2012 werden aufgehoben. Die Sache wird an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen über den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Rente der Invalidenversicherung (ab 1. Dezember 2011) neu verfüge.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
 
4. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, hat die Gerichtskosten und die Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren neu festzusetzen.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 12. Dezember 2013
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Kernen
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler
 
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